Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Josephine Apraku
Schreiben als intimer Prozess
Schreiben ist für mich in vielerlei Hinsicht ein intimer Prozess: Ich bringe Geschichten, die in mir schlummern, die mir den Schlaf rauben, die teils tief – fast vergessen – in mir vergraben sind, zu Papier. Das klingt deutlich romantischer als es ist. Tatsächlich sitze ich meist irgendwo – selten an einem Schreibtisch – und werde von einem Bildschirm angestrahlt. Dann tippe ich, höchst ineffizient, mit einem Finger Worte auf die Tastatur meines Computers. Jetzt, mit Baby, ist es das Licht meines Handybildschirms, das nicht selten das Dunkel des Schlafzimmers zerreißt, wenn ich mir spontane Gedanken im Messenger aufschreibe und als Nachricht an mich selbst schicke. In den vergangenen Monaten habe ich mich an diese Art des Schreibens gewöhnt. Ich habe mich daran so sehr gewöhnt, dass ich teilweise ganze Kolumnentexte, mindestens aber einzelne Passagen, nachts, im Schlafanzug, im Bett neben dem Baby schreibe.
An mich wird, wenn ich schreibe, auf Podien spreche und manchmal wenn ich Workshops gebe, häufig die Erwartung gerichtet, dass ich explizit meine Rassismuserfahrungen schildere. Weiße Menschen hoffen für ihr eigenes Lernen zu Rassismus auf persönliche Erfahrungsberichte von Schwarzen Menschen/PoC, die ihnen einen Einblick in deren Erleben geben. Dabei ist das Internet voll von haarsträubenden Berichten, Tweets, Facebook-Posts, Videos, Blogeinträgen und Podcasts, in denen Menschen detailliert ihre alltäglichen Gewalterlebnisse schildern: Ich denke spontan an den Hashtag #metwo auf Twitter und diverse Videos rassistischer verbaler oder körperlicher Angriffe. Es ist also nicht so, als wären weiße Menschen auf die Schilderung meines persönlichen Traumas angewiesen, um Rassismus verstehen zu können. Außerdem: All die Zeugnisse, die teilweise brutalster rassistischer Gewalt ein Bild geben und die im Internet für alle frei verfügbar sind, haben bisher nicht zu mehr Empahtie oder einem gesellschaftlichen Wandel geführt.
Rassismus ist kein individuelles Problem
Rassismuskritik lebt nicht vom persönlichen Beispiel, und sie beginnt und endet grundsätzlich nicht mit persönlichen Beispielen. Meine Kritik an den rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft hat Bestand, weil meine individuellen Erfahrungen im Grunde nicht individuell sind. Im Gegenteil, mein Erleben als Schwarze Frau in dieser Gesellschaft teile ich – wenn auch nicht deckungsgleich – mit anderen Schwarzen Menschen und Menschen of Color hierzulande: Was mir widerfahren ist und noch immer widerfährt, ist und wird unzähligen anderen Schwarzen Menschen und Menschen of Color in Deutschland auch widerfahren. Im Hinblick auf meine rassismuskritische Arbeit mit weißen Menschen, zum Beispiel in Form von Workshops oder Vorträgen, ist es deshalb unnötig, dass ich meine Erfahrungen, meine Verletzungen preisgebe. Denn Rassismus ist ja eben kein persönliches oder individuelles Problem.
Der Prozess des Schreibens ist für mich auch intim, weil ich dabei das Persönliche, mein Leben mit meinen Erfahrungen, sprich das Individuelle mit dem Strukturellen verbinde. Rassismus ist meine alltägliche Realität. Rassismus ist meine tagtägliche Entmenschlichung, die mich als kollektive Erfahrung mit anderen von Rassismus betroffenen Menschen verbindet. Diese Kollektiverfahrung ist schmerzhaft. Ich teile sie nur dann, wenn ich einen Mehrwert ausmachen kann – für mich oder andere Schwarze Menschen und Menschen of Color in Deutschland. Wenn ich diese schmerzhaften Momente teile, dann mache ich das grundsätzlich und ausschließlich zu meinen eigenen Bedingungen.
Kein Lernangebot für weiße Menschen
Meine Erfahrungen, die mich bis in die Gegenwart begleiten und prägen, die meinen gesamten Alltag durchziehen, sind keine Lernangebote für weiße Menschen. Schließlich ist Rassismus kein schönes Thema: Rassismus ist Ausgrenzung. Rassismus ist, sich selbst in einer Stadt wie Berlin nicht frei bewegen zu können. Rassismus ist koloniale Besetzung und Ausbeutung. Rassismus ist Versklavung. Rassismus ist Tod. Rassismus ist beschimpft werden. Rassismus ist als kriminell wahrgenommen werden. Rassismus ist Gewalt. Rassismus ist die Norm und allzeit präsent. Rassismus ist Benachteiligung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Rassismus ist andauernde Entmenschlichung. Rassismus ist die Abwehr weißer Menschen, die kein Interesse daran haben, sich kritisch zu reflektieren. Ich – Schwarze Menschen und Menschen of Color – müssen unseren eigenen Schmerz, unsere alltägliche Ausgrenzung nicht wieder und wieder zur Verfügung stellen, um für Weiße Räume des Lernens zu ermöglichen.
Warum sollte ich, oder irgendeine Schwarze Person oder Person of Color, ein Interesse daran haben, Erfahrungen, die eine Belastung darstellen, als Lernangebot für weiße Menschen zur Verfügung zu stellen? Wieso sollte es in meinem Interesse – dem Interesse von Schwarzen Menschen und Menschen of Color – sein, persönliche, teils traumatische Erfahrungen mit Menschen zu teilen, die über keinerlei Expertise zum Thema verfügen? Aus welchem Grund sollte ich meine Rassismuserfahrung mit Menschen außerhalb eines Safer Space teilen, denen diese Erfahrungen erspart bleiben?
Ich schreibe für unser Empowerment
Nicht zuletzt ist der Prozess des Schreibens für mich intim, weil Schreiben für mich eine persönliche Form des Widerstands ist. Dass das Verfassen von Texten für mich widerständig ist, hängt einerseits damit zusammen, dass ich oftmals Entmutigung erfahren habe, wenn es darum ging, meine Perspektive auf die Welt zu Papier zu bringen: Nicht selten hörte ich die verabsolutierende Aussage „du kannst einfach nicht schreiben“, von einer wohlwollend lächelnden weißen Person – beispielsweise einem Arbeitgeber. Diese Aussage, unabhängig von ihrer Absicht, ist ein Hinweis für mich, dass ich mich, dass Schwarze Menschen und Menschen of Color uns einschreiben müssen – in unsere Gesellschaft, diese Zeit, die Zukunft. Andererseits schreibe ich nicht nur für mich persönlich, ich schreibe für Menschen, die meine Rassismuserfahrungen teilen. Ich schreibe, um sie einmal mehr wissen zu lassen, dass sie nicht allein sind, dass wir nicht allein sind – für unser Empowerment.
Ich hoffe nicht auf Empathie. Dem Teilen meiner persönlichen Rassismuserfahrungen folgt in der Regel auch eher selten echte Empathie, sondern mehrheitlich das Bedürfnis seitens Weißer, meine Erfahrungen zu bewerten. Empathie reicht nicht aus, um die komplexen rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft zu verstehen oder sich mit Menschen, die Rassismus erfahren, zu solidarisieren. Ich gehe nicht davon aus, dass ein Lernen auf Kosten meiner Geschichte – auf meine Kosten – auf Kosten Schwarzer Menschen und Menschen of Color funktioniert, weil Empathie nicht zu einem veränderten Handeln führt. Das Ziel meines rassismuskritischen Handelns ist nicht, dass weiße Menschen sich in mein Erleben einfühlen; Mein Ziel ist, dass weiße Menschen ihre Position in unserer rassistisch verfassten Gesellschaft reflektieren. Deshalb habe ich für mich den Entschluss gefasst, wenn ich zum Beispiel als Expertin auf ein Podium eingeladen bin, konsequent nicht mehr auf Fragen zu meinen persönlichen Rassismuserfahrungen zu antworten, damit weiße Menschen zu Rassismus lernen können.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).