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Wie wir die kreative Gesellschaft werden, die wir sein müssen, um gute Lösungen zu finden

Deutschland braucht eine Kreativitätswende für die gesamte Gesellschaft, um als Wirtschaftsnation zu erstarken – diese Meinung vertreten die Autor*innen von „Kreativiert euch!“. Das Buch plädiert sogar für die Einführung von Kreativität als Schulfach. Wir haben reingelesen.

Ausgefallene Ideen für alle!

Wir kennen sie vermutlich alle: Die Kunstwerke, die uns in irgendeinem Grund besonders ansprechen. Von ganz simplen Kreationen bis zu extravaganten Ausfertigungen faszinieren uns kreative Werke. Manchmal lässt es sich gar nicht in Worte fassen, warum das so ist. Kreativ bedeutet dabei nicht besonders bunt und wild, sondern einfach nur eine neue Weise, etwas schöpferisch neu zu denken. Und das muss sich auch nicht immer zwingenderweise in Kunstobjekten ausdrücken. Kreativ kann alles sein, auch Ideen, Prozesse und Strukturen. Warum wir unsere Gesellschaft kreativ gestalten sollten, erklärt das Buch „Kreativiert euch! Damit Deutschland wieder genial wird“.  Die Autoren des Werks plädieren sogar für die Einführung von Kreativität als Schulfach. Wir haben in das Buch reingeschaut:

Wie wir Kreativität inspirieren können

Was passiert im Kopf, wenn wir kreativ sind? Wie bildet sich der kreative Mensch? Was haben kreative Genies im Kopf, was andere nicht haben? Wie kann jeder Mensch kreativ werden? Wenn wir die Prozesse kennen, die in Hirn und Psyche ablaufen, während wir kreativ sind – wie können wir dann auch Techniken entwickeln, um diese Prozesse zu aktivieren? Schließlich die Frage aller Fragen: Wenn wir einzeln kreativ sein können, wie können wir gemeinsam dann noch bessere Ideen haben?

Diese Fragen (und die Antworten darauf) sind wesentlich, wenn wir eine kreative Gesellschaft werden wollen. Und ebenso, wenn wir uns als Individuen auf die Dinge vorbereiten wollen, die da kommen. Umso enttäuschender ist es zu erfahren, dass es auf die wenigsten dieser Fragen eindeutige Antworten gibt – jedenfalls solange wir uns auf dem Feld der seriösen Wissenschaft bewegen. Neurowissenschaftler schnippeln unablässig an Mäuse- und menschlichen Spenderhirnen herum, messen Tag und Nacht Zerebralströme noch in den kleinsten Windungen unserer Schädel nach. Psychologen untersuchen ohne Unterlass unser Verhalten als Individuen, als Gruppen, als Normalos, Bekloppte oder Geistes- leuchten. Und doch sind generelle, weithin unbestrittene Aussagen zu den oben genannten Fragen in beiden Disziplinen rar.

Das liegt hauptsächlich daran, dass es unzählige Formen (und Definitionen) von Kreativität gibt. Man kann eine Form herauspicken, so wie es viele populäre Anleitungen tun. Dann aber produziert man eine ein- dimensionale Idee von Kreativität, obgleich sie doch ein vieldimensionales Phänomen ist. Und das ist deshalb so schädlich, weil es uns von dem Ziel (und dem Gedanken) abbringt, dass mehr oder weniger alle eine (kulturell nützliche) Kreativität entwickeln können. Denn, logischerweise: Der eine kann dies besser, der andere jenes. Das gilt auch in Sachen Ideen haben. Wenn wir willkürlich nun verschiedene Konzepte verschiedener Wissenschaftler (noch dazu unterschiedlicher Disziplinen) highlighten, führt das nur wieder zu dem falschen Bild, dass Ausnahme- kreative und Überflieger die Welt voranbringen. Die Wahrheit ist: Es führen viele Wege zum Ziel. Oder, besser gefasst: Es führen viele Wege zu vielen Zielen.

Für welchen Gedanken hat sich dein Gehirn entschieden?

Denn, soviel lässt sich doch einigermaßen gesichert sagen, unser Gehirn ist eine Kreativitätsmaschine. Es produziert – vor allem unbewusst, teilweise auch bewusst – pausenlos zu allen Situationen, Problemen, Fragen, die es erreichen, eine ungezählte Menge an Antizipationen, Annahmen, Prognosen, Bildern in allen Dimensionen, Verhaltenshypothesen, Lösungsmöglichkeiten. Und zwar nicht einen Gedanken pro Situation oder Problem, sondern Hunderttausende. Diese werden dann in kürzester Zeit abgecheckt und verglichen und durchlaufen einen abgestuften Prozess. Erfahrung, Bildung, vergleichbare und begrenzt vergleichbare Situationen, jede nur denkbare Information spielt eine Rolle. Wie wir uns schließlich entscheiden und verhalten, welchen Gedanken wir schließlich vorbringen: Das wird im Gehirn nach einem System ausgewählt, das zum Beispiel der Neurowissenschaftler Arne Dietrich, der an der American University of Beirut lehrt, als eine Art „Evolution der Ideen im Kopf“ beschreibt – survival oft the fittest.

Vereinfacht gesagt, schickt das Hirn demnach alle seine Hypothesen in einen Wettbewerb miteinander und entwickelt sie weiter, indem es sie (mithilfe der im Kopf gespeicherten und der von außen einfließenden Informationen) einem virtuellen Realitätscheck aussetzt – einzelne Annahmen werden verworfen, andere werden mithilfe von Elementen aus den konkurrierenden Annahmen so lange angereichert, bis sich eine als überlegen durchsetzt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen entwickeln wir auf diese Weise in jeder Alltagssituation eine passende Reaktion – und erstaunlich oft auch in Ausnahmesituationen. Die Vermutung ist, dass in unserem Gehirn (jedenfalls mit gewisser Lebenserfahrung) eine große Zahl von Projektionen bereits vorgespeichert ist. Und es ist offenbar auch zu solchen Projektionen fähig, die gar nicht vollständig auf Erfahrungen oder irgendwie ihm zugänglichen Informationen beruhen. Demnach kann sich unser Gehirn also tatsächlich auf unbekanntes Terrain vortasten – eine Fähigkeit, die von keinem anderen Lebewesen bekannt ist. Das Gehirn ermisst unerforschtes Gelände. Ein Ziel wird gesetzt. Weitere Aktivitäten dienen der Eingrenzung des Lösungsraums. So läuft das.

Ein Großteil der beschriebenen Prozesse vollzieht sich natürlich unbewusst. Ein Problem dabei ist, dass wir uns bewusst nur an das Gelungene erinnern. „Selective Recall“ nennt Dietrich das. Dabei vergessen wir, dass wir ständig Millionen falsche Ideen haben. Und dass wir sie haben (und verwerfen) müssen, um eine richtige zu haben. Unbewusst scheint es zudem tatsächlich besser zu funktionieren als bewusst, parallel auch über alternative Ideen nachzudenken. „Die Rolle der falschen Ideen, der Irrwege, des Scheiterns im kreativen Prozess bleibt (auch uns selbst) verborgen“, fasst Hirnforscher Dietrich die ganze Tragik zusammen.

Die Qualität eines Gedankens ist demnach immer ein direktes Produkt der Quantität der Gedanken. Es ist nicht das Ziel, genau einen genialen Gedanken zu entwickeln, sondern so viele ungeniale, halbgeniale, unsinnige Gedanken, dass am Ende auch ein guter Gedanke dabei ist. Und: Nur wer Fehler macht, hat gute Ideen. Wer zu viel Angst vor Fehlern hat, wird wahrscheinlich auch nicht so leicht die richtigen Einfälle haben. „Es ist für jeden offensichtlich, der sich die Mühe macht, hinzuschauen: Der Kreativitätsprozess ist eine Sache aufs Geratewohl, selbst für Genies, eine Sache, in der die Erfolgschancen eines kreativen Menschen lebenslang gleichbleiben“, notiert der Neurowissenschaftler.

Wenn diese Theorie stimmt, ist sie jedenfalls die Bestätigung dafür, dass nicht nur jeder Mensch kreativ sein kann, sondern dass jeder Mensch kreativ ist, indem er ein Mensch ist. Es ginge dann nur noch um die Frage, ob man die Ideenprozesse besser ins Bewusstsein bringen kann. Und ob man mehr aus der Vielzahl von Gedanken und Projektionen machen kann.

Kreativität – was ist das eigentlich?

Trotz solcher Ergebnisse und trotz (oder wegen) der enormen (und leider teilweise auch widersprüchlichen) Zahl von Erkenntnissen, die sowohl Neurowissenschaftler als auch Psychologen sammeln, halten wir jedoch gemeinhin fatalerweise an einer überkommenen Idee von Kreativität fest. Es gibt unzählige Bücher darüber, woher (angeblich) die Ideen kommen und wie wir sie herauslocken können. Es gibt alte, populäre Techniken, wie zum Beispiel das Brainstorming. Dieses wird bisweilen angezweifelt, ist aber auch vielfach erfolgreich. Doch es betrifft eben nur eine sehr limitierte Form von Ergebnisgewinnung.

Es gibt auch eine verbreitete Schmalspurdefinition von Kreativität, die zum Kern eines Tests geworden ist. Dieser Test wird gern in Bewerbungsverfahren verwendet und soll die Fähigkeit zum Kreativsein belegen. Gemäß dem ihm zugrundeliegenden Gedanken ist kreativ, wer divergent denken kann. Und ob jemand divergent denken kann, lässt sich feststellen, wenn man ihm Alltagsgegenstände (eine Büroklammer, einen Backstein) vorlegt und ihn auffordert, möglichst viele unkonventionelle Verwendungsmöglichkeiten zu nennen. Nun ist es (abhängig von der Situation) zweifellos kreativ, wenn man aus einer Büroklammer einen Kleiderhaken macht. Aber ist einer, dem das nicht einfällt, notwendigerweise unkreativ? Oder liegen seine kreativen Qualitäten vielleicht einfach nur auf einem anderen Feld?

Klar ist auch, dass die Erkenntnis, dass jeder Mensch kreativ ist, weil er ein Gehirn hat, natürlich nicht bedeutet, dass jeder Mensch in gleicher Weise kreativ ist. Es gibt größere und kleinere Leuchten, auch in Bezug auf die Kreativität. Aber das hängt eben stark vom Individuum ab, wie sehr es an und mit seiner Kreativität arbeitet. Und von dem Umfeld, das es dabei fördert oder dafür bestraft. Und nicht davon, mit welchem Gehirn es auf die Welt gekommen ist.

Erste Erkenntnis daraus: Man muss sein Gehirn eben auch benutzen. Um schon mal etwas vorauszuschicken: Der oben beschriebene Prozess funktioniert desto besser, je mehr unterschiedliche und regelmäßig neue Informationen wir in unser Gehirn lassen. Wie kreativ ich sein kann, entscheide ich also am Ende selbst.

Zweite Erkenntnis, auch nicht so überraschend: Es gibt für jeden Menschen und für jedes Problem die angemessene Form der Kreativität. Und es bringt überhaupt nichts, der falschen hinterherzulaufen (zum Beispiel, weil man einen Kreativitätsratgeber gelesen hat).

Aus „Kreativiert euch! Damit Deutschland wieder genial wird“ Bernd Heusinger, Marcel LokoMartin Blach ; Europa Verlag; 1. Auflage 2018; 207 Seiten; 20,00 Euro

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