Foto: Andrew Neel | Unsplash

Mann, dann heul doch!

Weinende Männer sind immer häufiger in der Netzkultur zu finden. Zeigt sich an ihnen der Wandel der Geschlechterbilder? Ganz so einfach ist es nicht. Schnief.

Weinende Männer gehen viral

Virale Videos funktionieren erstaunlich simpel. Ein putziges Tier, ein niedliches Kleinkind, ein haarsträubender Stunt, ein mitreißender Sportclip, ein guter Fake – all das sind Rezepte für einen Hit im Internet. Inzwischen gibt es noch eine weitere Kategorie: weinende Männer. Bitte was? Richtig, der heulende Mann ist inzwischen im Kanon der Netzkultur angekommen. In Memes, auf YouTube und in eigenen Foren ist er inzwischen zu finden. Eike Kühl von unserem Partner Zeit Online wirft die Frage auf: Taugt er vielleicht zum Symbol für einen Wandel der Geschlechterbilder im Internet?

Nun blicken nicht nur weinende Männer, sondern die Tränen an sich kulturwissenschaftlich auf eine bewegte Geschichte zurück. Die im vergangenen Jahr erschienene Essay-Sammlung „So muß ich weinen bitterlich” zeigt, wie sich die Schauplätze und Protagonisten des Weinens in den Jahrhunderten verändert haben. So waren Männertränen zwischenzeitlich als Ausdruck des Triumphs akzeptiert, aber als Zeichen emotionaler Verwundbarkeit verpönt. Mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft, durch die Darstellung in der Literatur der Romantik und später im Film haben sich auch die öffentliche Affektentladung und ihre Bewertung gewandelt.

Männer weinen noch immer seltener als Frauen

In unserer heutigen Gesellschaft gehören Männertränen zum gängigen Gefühlsrepertoire, auch außerhalb des Fußballstadions. Von Gerhard Schröder bis Uli Hoeneß, von Barack Obama über Wladimir Putin bis Don Draper aus Mad Men– wenn es die Gelegenheit zulässt, ist auch den Alphatieren ein Schluchzen zu entlocken. Jenseits von Sportlern und Prominenten stehen Tränen stellvertretend für die neue Spezies Mann, für die neuen, einfühlsamen, melancholischen Kerle, die vor einigen Jahren kurzzeitig als „Schmerzensmänner” rezipiert wurden.

Doch auch wenn der weinende Mann die modernen Geschlechterrollen besetzt, erkennt die Wissenschaft noch immer große Unterschiede. Bereits Untersuchungen aus dem Jahr 1980 haben gezeigt, dass Frauen durchschnittlich fünf Mal im Monat weinen, Männer aber nur etwa einmal und zudem deutlich kürzer. Jüngere Studien (van Hemert et al., 2011) kommen auf ähnliche Zahlen, wobei stets auch kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen: Italienische Männer heulen etwa mehr als deutsche und generell wird in wohlhabenden Ländern mehr geweint als in armen oder repressiv regierten, schreiben die niederländischen Wissenschaftler. Tränen könnten somit auch ein Indikator für Toleranz und Meinungsfreiheit ein.

Cry for me, Michael Jordan

Inzwischen haben die Männertränen auch Teile des Internets eingenommen. Wer etwa Netzphänomene, neudeutsch Memes, als Gradmesser für digitale Kultur nimmt, kam in den vergangenen beiden Jahren vor allem um eines nicht herum: Basketballlegende Michael Jordan, in Tränen aufgelöst während der Aufnahme in die Hall of Fame. Jordans emotionale Rede fand bereits 2009 statt, aber erst Anfang 2015 wurde sein weinendes Gesicht unter dem Namen Crying Jordan zum Meme. Im vergangenen Jahr zählte es zu den meistgeteilten Bildern im viralen Netz.

„Jordans Gesicht hat es über den Sport hinausgeschafft”, schrieb die New York Times im Juni über ein Bild, das „nicht sterben will”. Doch trotz seiner Beliebtheit bleibe die Frage, was der weinende Jordan eigentlich symbolisiere: einen Verlierer im klassischen Sinne, etwa wenn Jordans tränengetränktes Gesicht über das des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Marco Rubio gelegt wird? Oder nicht doch eher Stärke, wenn der mutmaßlich beste Basketballer aller Zeiten seinen Emotionen freien Lauf lässt?

„Memes können auf der einen Seite eine höhere Akzeptanz schaffen. Auf der anderen Seite sehen wir in diesem Fall aber einen sehr ironischen Umgang mit Männlichkeitsklischees”, sagt der Soziologe Sascha Oswald von der Universität Hildesheim, der sowohl zu Memes als auch zur Soziologie von Emotionen forscht. Der Hauptgrund für die Popularität von Memes ist seiner Meinung nach, dass sie stets nach zwei Seiten gelesen werden können: ernst oder lustig, klischeebekräftigend oder klischeeunterwandernd. Das mache sie so flexibel und universell einsetzbar.

Spott und emotionale Emanzipation

Somit konkurriert der weinende Jordan einerseits mit dem klassischen Bild der Maskulinität, die keine allzu großen Gefühlsäußerungen vorsieht: „boys don’t cry”, sangen The Cure vor dreißig Jahren, ein „Indianer kennt keinen Schmerz” bekommen Jungs heute noch von ihren Eltern eingetrichtert. Wer den schluchzenden Jordan lediglich negativ als Symbol der Schwäche verwendet, bestätigt die veraltete Auffassung, dass Männer ihre Gefühle nicht zeigen dürfen.

Anderseits lässt sich das Bild aber auch positiver interpretieren, nämlich als ein Zeichen emotionaler Emanzipation. Es mag vor allem spöttisch verwendet werden, aber es illustriert in anderen Fällen eben auch eine traurige Situation mit den ehrlichen Tränen eines der größten Sportler der Geschichte. „Im Fall von Michael Jordan und anderen Berühmtheiten legitimieren ihr Vorbildcharakter und ihre schon unter Beweis gestellte Männlichkeit das Weinen”, sagt Oswald.

Kerle, die in Videos heulen

Dass Männertränen virales Potenzial haben, zeigt sich in einer anderen Ecke des Internets: Im Reddit-Subforum r/happycryingdads werden Videos gesammelt, die vor Freude weinende Männer, zumeist Väter enthalten. Mal geht es um einen Großvater, der einen (alten) Mercedes geschenkt bekommt, mal um einen Vater, der von seinem Sohn an seinem Geburtstag überrascht wird und nach dem ersten obligatorischen „what the fuck” dann doch noch eine Träne verdrückt. Mehr als 2,5 Millionen mal wurde allein dieser Clip auf YouTube bereits angeklickt, andere kommen auf mehr als 18 Millionen.

Interessant sind die Reaktionen der Reddit-Nutzer, die sich auf r/happycryingdads tummeln. Sie schreiben, wie ihnen das Subreddit dabei geholfen hat, düstere Zeiten zu überwinden, von glücklichen Erinnerungen und einer gewissen Katharsis, die sie beim Gucken der Clips verspüren. Statt Hohn gibt es Verständnis, statt Trollen melden sich mitfühlende Menschen. Es ist einer der positiveren Orte auf einer Plattform, auf der es bisweilen derber zugeht.

Das Onlinemagazin Mel schreibt dem Phänomen sowohl eine neurologische Komponente zu – glückliche Menschen zu sehen macht uns selbst glücklich – als auch eine soziale: Gerade weil es immer noch selten vorkommt, dass Männer ihre Emotionen öffentlich zeigen, entfaltet die geballte Ladung dieser Videos eine besondere Wirkung auf die Zuschauer. „Die Familie hat einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft, der distanzierte Brötchenverdiener hat ausgedient. Die hier gezeigten Videos und Bilder sind eine indirekte Antwort auf die Forderung nach empathischeren Männern”, sagt Oswald.

Das würden die Moderatoren des Subreddits so offen allerdings nicht zugeben. Man habe keine Agenda, sagt einer von ihnen. Dazu kommt die Tatsache, dass in den Clips fast ausschließlich Freudentränen vergossen werden, weshalb sie sich nicht dazu eignen, einen kulturellen Wandel zu beschreiben. Im Gegenteil: Autos, Vaterschaft und sportliche Erfolge, die in den Videos der Auslöser für die Tränen sind, sind allesamt auch klassische Symbole der Maskulinität. „Sie weinen nicht, weil ein Blumenstrauß so schön ist”, sagt die amerikanische Soziologin Lisa Wade im Gespräch mit Mel, „es ist nicht so, als wären nun die Schleusen für das männliche Weinen geöffnet.”

Tränen als Erfolgsmittel

Weit offen sind die Schleusen zumindest bei einer sogenannten Netzpersönlichkeit: Connor Franta. Der 24-jährige US-Amerikaner zählt mit mehr als 5,5 Millionen Abonnenten zu den 200 erfolgreichsten YouTubern weltweit. Vergangenes Jahr erschien seine Autobiografie, im Januar wurde er bei den People’s Choice Awards als beste YouTube-Persönlichkeit ausgezeichnet. Franta ist ein klassischer Vlogger, seine Videos bestehen größtenteils darin, wie er vor der Kamera über Alltagsthemen und Befindlichkeiten spricht – und dabei nicht selten feuchte Augen bekommt.

Man könnte sagen, Franta ist einfach nah am Wasser gebaut, was vermutlich stimmt. Und doch hat er es verstanden, die Tränen als Teil seiner Marke zu verstehen. „Ich weine vermutlich zweimal am Tag”, sagt Franta. Als Teenager habe er das gehasst, weil die Gesellschaft ihm ständig gesagt habe, wie er sich als Mann zu benehmen habe. Stark. Unnahbar. Inzwischen glaube er nicht mehr an die klassischen Geschlechterrollen. „Was hat Weinen mit Männlich- oder Weiblichkeit zu tun?”, fragt er.

Das klingt einerseits progressiv. Andererseits verstärkt auch Franta gängige Klischees. Als schmächtiger, gefühlvoller, schwuler Mann, der vor zwei Jahren – wie könnte es anders sein – in einem emotionalen YouTube-Video sein Coming-out gab, ist er gewissermaßen genau das Gegenteil von dem, was, dem eingangs erwähnten Wandel zum Trotz, in konservativen und rückwärtsgewandten Diskursen als typisch männlich gilt. Dass er außerhalb seiner Community einen Stellenwert genießt, um ernsthaft Männertränen gesellschaftsfähig machen zu können, scheint deshalb unwahrscheinlich.

Das Internet als Artikulationsraum

Aber kann das Internet, kann die Netzkultur überhaupt so etwas leisten? Der Soziologe Sascha Oswald will zwar keine Prognosen geben, erkennt aber zumindest einen Trend: „Es entwickelt sich kein komplett neues, aber zumindest ein alternatives Männlichkeitsbild in der Netzkultur.” Die breitere Akzeptanz von Gefühlsartikulationen, die Forderung nach empathischeren Männern, all das seien Entwicklungen, die ineinandergreifen und sich selbst verstärken können.

Eine besondere Rolle kommt in dieser Entwicklung den Bildern zu, glaubt Oswald. „Männer müssen sich immer noch sagen lassen, Gefühle nicht richtig artikulieren zu können. Auch weil ihnen die Räume fehlen. Man könnte meinen, das Internet mache es ihnen prinzipiell leichter, weil sie sich anonym bewegen können. Aber dann gibt es immer noch die Hürde des Wortes. Gefühle exakt zu beschreiben ist schwierig und legt einen stärker fest auf das Gesagte”, sagt Oswald.

Die Verwendung von Bildern, in Chat-Apps, in Foren, in sozialen Netzwerken mache es leichter:  „So wie das Internet gegenüber dem Face-to-Face einen Schutzraum bietet, bietet das Bild gegenüber dem Text einen Schutzraum. Weil Bilder interpretationsoffener sind, nicht argumentativ, sondern assoziativ funktionieren.” So gebe es immer auch die Möglichkeit, sich hinter dem Witz eines Memes zu verstecken. Wer etwa den Crying Jordan verwendet, kann damit seine Gefühle ausdrücken, ohne sich gleich als Heulsuse outen zu müssen.

Was die weinenden Männer im Internet dann am Ende bestätigen, ist weniger der Wandel der Geschlechterbilder. Vielmehr zeigen die Männertränen, wie das Internet als Ganzes, aber vor allem einzelnen Communitys, einen Artikulationsraum für Emotionen schaffen können. In Imageboards wie 9gag oder 4chan, in Subreddits wie r/happycryingdads oder in YouTube-Kanälen wie dem von Connor Franta kommen Menschen anonym zusammen und finden dabei eine eigene Bildsprache, um ihre Emotionen auszudrücken und gegenseitig bekräftigen. Oder, um es im Soziolekt der erwähnten Communitys zu sagen: I Know That Feel Bro.

Dieser Text ist zuerst auf Zeit Online erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

Mehr bei EDITION F

Weinen im Büro: Wie man am besten damit umgeht. Weiterlesen

Wir können alles, nur nicht trauern. Weiterlesen

Was Männer von starken Frauen lernen können. Weiterlesen

Anzeige