Abgerupfte Gänseblümchen, ausgeschnittene Herzen. Unsere Kolumnistin Nathalie Weidenfeld schreibt darüber, wie sich der Blick auf den Muttertag verändert, wenn die Kinder älter werden.
Es ist Muttertag. Der Tag, an dem Horden von Mütter von ihren Kindern rote ausgeschnittene Papierherzen geschenkt bekommen, auf denen Kindergärtner*innen schlechte Reime geschrieben haben. Kitschige Scheußlichkeiten, wie etwa: „Liebste Mama eins ist wahr, du warst immer für mich da. Dafür dank ich dir zum Feste, denn du bist für mich die Allerbeste.“
Man kennt das Schicksal dieser Papierherzen – nach spätestens ein paar Wochen verschwinden sie im Müll und werden nie mehr gesehen.
Unterdessen sind meine Kinder über zehn. Die Schule hat schon lange damit aufgehört, sich für den Muttertag verantwortlich zu fühlen. Seit meine Kinder nicht mehr von den staatlichen Institutionen angehalten werden, kitschige Reime zum Muttertag zu verschenken, verschenken sie gar nichts mehr – was die kitschigen Reime nun plötzlich gar nicht mehr so kitschig erscheinen lässt. Ach, so denke ich heute, hätte ich doch nur wenigstens ein einziges dieser kleinen Kunstwerke behalten. Und während man dann den ganzen Tag insgeheim darauf wartet, irgendein Geschenk zu bekommen, und sei es auch nur ein abgerissenes Gänseblümchen, strahlen einem auch noch von überall her Muttertagsmütter auf Werbepostern entgegen. Sie werben siegessicher für Blumen, Pralinen, Kuchen. „Ja, ja …“, sagen die Muttertagsmütter, wenn ich an ihnen vorbeigehe, „WIR werden geliebt, UNSERE Kinder denken an uns!“
„Seid still“, sage ich. „Ich habe Papierherzen bekommen. Mit echten Gedichten!“
„Ach wirklich?“, antworten sie, „Dann zeig uns sie doch.“
Mit gesenktem Kopf gehe ich weiter. Eine gebrochene Frau und Mutter.
„Nun mach doch nicht gleich so ein Drama draus“, sagt meine älteste Tochter.
Ich mache kein Drama. Es ist ein Drama, denke ich.
Ich bin Medea und das ist meine tragischste Stunde. Ich habe ein langes schwarzes Kleid an, so wie Maria Callas in Pasolinis Film.
Akt I, Aufzug 1
Ein Tempel mitten in einem Olivenhain. Ein paar Ziegen schreien im Hintergrund. Mütter haben sich um den Tempel versammelt. Der Wind weht.
Mutter 1: „Oh, wie ich diesen Tag hasse!“
Mutter 2: „Warum haben die Götter uns diesen Tag gegeben? Wenn der Mutter Ehre zuteil werden soll und nicht Ehre gegeben wird, dann ist es, als werde ihr die Ehre genommen.“
Mutter 3 (hebt die Hände zum Himmel) : „Was haben wir den Göttern nur angetan, dass sie uns so verachten?“
Die Mütter raufen sich die Haare.
Mutter 1: „Früher hat meine Tochter mir Blumen gebracht. Kleine vertrocknete Gänseblümchen. Aber sie waren immerhin selbst gepflückt.“
Mutter 3: „Und meine Tochter hat früher immer das Frühstück gemacht. Sie hat zwar die Brötchen verbrannt und den Kaffee verschüttet. Aber es kam von Herzen.“
Die Mütter raufen sich wieder die Haare.
Mutter 1: „Früher war alles anders Ich war jedes Jahr am Muttertag im Tempel, um für meine Mutter zu beten. Den ganzen Tag war ich dort.“
Mutter 3: „Und ich habe den Boden geküsst auf dem sie lief.“
Mutter 2: „Und ich ihr ein Lied gewidmet und ein Theaterstück geschrieben.“
Mutter 2: „Früher wurden Mütter respektiert. Dann kam der Feminismus.“
Mutter 3: „Und das Internet!“
Mutter 1 (hört auf sich die Haare zu raufen): „Was hat das Internet damit zu tun?“
Mutter 3 (überlegt kurz) : „Die Kinder verbringen mehr Zeit mit dem Internet als mit der Mutter.“
Mutter 2: „Richtig.“
Mutter 3 : „Richtig!“
Sie raufen sich wieder die Haare.
Plötzlich erscheint in einem weißen Kleid eine Muttertagsmutter. In ihrem Arm hält sie einen riesigen Blumenstrauß sowie eine Pralinenschachtel und einen Kuchen in Herzform.
Muttertagsmutter: „Beklagt euch nicht, ihr Frauen. Selbst seid ihr schuld an eurem Unglück. Habt ihr nicht oft genug die Kinder mit harten Worten bedacht, sie gerügt und gar geschlagen?“
Die Mütter schauen betreten auf den Boden.
Muttertagsmutter: „Nur mit Liebe sollt bedecken ihr die Kinder. Dann kommt auch Liebe nur zu euch zurück. Das ist das karmische Muttergesetz.“
Mutter 1 beginnt, ein Klagelied anzustimmen. Dann stimmt Mutter 2 in das Lied mit ein.
Mutter 3: „Hey warte mal, du hast gut reden. Du bist ja nur eine Mutter aus einem Werbefilm.“
Die Muttertagsmutter schaut beleidigt. „Ja und? Trotzdem müsst ihr euch an mir orientieren!“
Mutter 2 und Mutter 3 hören auf zu klagen.
Mutter 2: „Und warum?“
Muttertagsmutter: „Warum? (sie überlegt) Na weil das eben so ist.“
Mutter 1 und Mutter 2 schauen sich an. Dann zucken sie mit den Schultern und fangen wieder an, in die Klagelieder einzustimmen und sich die Haare zu raufen.
Meine Tochter kommt plötzlich auf mich zu.
„Hier“, sagt sie und hält mir eine Tafel Schokolade hin.
„Alles Gute zum Muttertag“ sagt sie. Dann übergibt sie mir einen kleinen selbsgepflückten Strauß.
Die schwarzen Kleider von Medea fallen von mir ab. Der Olivenhain rückt in weite Ferne. War Medea nicht die, die ihre eigenen Kinder umgebracht hat? Das sieht man mal, zu was zu viel Drama führen kann.
„Danke!“ sage ich, „war doch gar nicht nötig.“
Im Hintergrund schreien noch einige Ziegen. Die Muttertagsmutter winkt aus der Ferne. Der Vorhang fällt.
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