Foto: Anne Kreuz

Warum es so wichtig ist, dass Mütter auch über ihre negativen Gefühle offen sprechen

Darf man Kinder anlügen? Unbedingt, findet Nina Massek. Sie zählt in ihrem Buch 20 wunderbare Notlügen auf, mit denen sich Eltern das Leben mit Kindern ein bisschen leichter machen können – und wünscht sich, dass wir mit dem Thema Elternschaft endlich ehrlicher umgehen.

Ich liebe meine Kinder, nur nicht immer

Nina Massek schreibt seit fast fünf Jahren auf ihrem Blog „Frau Mutter. Eine Mama am Rande des Nervenzusammenbruchs.“ Ihre Selbstbeschreibung: „Ich war mal jung, hatte Hobbys, eine Taille und habe in Berlin-Kreuzberg gewohnt. Jetzt bin ich gefühlte 90, arbeite To-do-Listen ab, wohne im Berliner Südwesten und lege Wäsche zusammen. Ich liebe meine Kinder, nur nicht nachts. Oder bei Trotzanfällen oder Mittelohrentzündungen oder beim Hausaufgaben machen. Oder vor der Supermarktkasse.“

In ihrem Buch stellt sie 20 charmante Notlügen vor, mit denen Eltern ein bisschen geschmeidiger durchs Leben kommen. Wir veröffentlichen einen Auszug aus Kapitel 20:

„Ist das nur eine Phase oder sind die so?“

Schreibabys, trotzende Kleinkinder und die Pubertät: Wie Eltern sich selbst anlügen müssen, um nicht an ihrer Lebensaufgabe zu verzweifeln. Und warum das meistens Quatsch ist.

„Das wächst sich alles aus, das ist nur eine Phase, und sie werden ja sooo schnell groß.“

Wie ich mich als junge Mutter an diesen Satz immer geklammert habe, in den schwierigen Zeiten, als meine Kinder noch ganz klein waren und gerade mal wieder irgendeinen „Schub“ durchmachten: Zähne, Wachstum, krabbeln, laufen lernen. Als mein Alltag von Müdigkeit, Babygebrüll und totaler Überforderung geprägt war. Tatsächlich war ich wohl keine sonderlich begabte Baby-Mama. Nicht nur einmal habe ich gedacht: Ich geh zurück ins Büro, Protokolle schreiben ist doch viel leichter. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie das mit dem Mama-Job geht. Gab es dafür vielleicht einen Kurs in der Volkshochschule? Warum war ich nur so unfähig? Es schien mir, als ob alle anderen Mamas um mich herum das wunderbar gewuppt bekamen. Denn: Kaum ist das Kind geboren, gehen die Lügengeschichten los. Und sie sind zahlreich:

„Jede Mutter weiß instinktiv, was zu tun ist.“

„Kinderkriegen ist die natürlichste Sache der Welt.“

„Du kennst dein Baby am besten.“

Meine damaligen Antworten darauf waren:

„Nein, ich habe keine Ahnung von nix.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

Und:
„Nein, können Sie mir vielleicht sagen, wer das ist, der da in meinem Arm liegt?“

Vor der Geburt meines Sohnes hatte ich mindestens dreihundert Erziehungsratgeber gekauft, vielleicht konnten die mir ja helfen? Wenn ich mal gerade eine Hand frei hatte, las ich alles, was mir zu Babypflege und Kindererziehung unterkam. Das Ergebnis? Viel Input, aber noch mehr Verunsicherung meinerseits. Heute, nach acht Jahren Mutterschaft, hätte ich mir eher Bücher gewünscht, die Titel getragen hätten wie:

„Jede Mutter kann lernen, nicht zu schlafen – Schlafprogramme für Erwachsene mit kleinen Kindern.“

„Jede Schwiegermutter kann Regeln lernen – ja, auch deine.“

„Mütter fordern uns heraus – willkommen auf dem Spielplatz.“

„Warum wir selbst Tyrannen werden – erst mal vor der eigenen Tür kehren!“

„Mütter brauchen Grenzen – Ich zähle bis drei!“

„Die glücklichste Mama der Welt – Wie ihr eurer Mama den täglichen Nervenzusammenbruch ersparen könnt.“

„Deine kompetente Mutter – Mama knows best. Widerstand zwecklos.“

und natürlich: „Nicht stillen. Glücklich leben in der Verdammnis.“

Vielleicht kann diese Bücher bei Gelegenheit ja mal jemand schreiben. Stattdessen bestand alles, was ich las, aus immer neuen Regeln, Weltanschauungen, Dogmen. So musst du es machen, so ist es richtig. Wie, du willst nicht, du kannst nicht, das findest du zu aufwendig? Na warte mal ab, ob dein Kind mit dieser Einstellung die Gymnasialempfehlung bekommt.

Immer schön glücklich sein als Mutter

Und was ist, wenn Unsicherheit und Zweifel aufkommen? Nein, diese Gefühle sind nicht akzeptiert. Man sollte immer glücklich sein als Mutter. Müde – aber glücklich; überfordert – aber trotzdem im siebten Himmel; hormonell wie auf Droge – aber total geerdet und ganz bei sich.

Die Realität sieht doch eher so aus:

Dein Schreien macht mich so mürbe, und ich wäre jetzt gerne woanders – aber wenn du dann endlich aufhörst, ist alles vergessen. Bis zum nächsten Mal.

Dein Trotzanfall nervt gerade, aber ich liebe dich. Und das werde ich immer tun, egal wie oft du dich noch auf den Boden wirfst.

Deine Launen und dein Türenknallen nerven mich total. Warum redest du nicht mehr mit mir?

Ich werde trotzdem immer hier sein für dich und freue mich, wenn wir dann irgendwann beide erwachsene Menschen sind, die ganz normal miteinander reden können.

Auch ambivalente oder gar negative Gefühle gehören zum Muttersein dazu, und sie zu
haben, ist OKAY. Jetzt sage ich zur Abwechslung auch mal die Wahrheit. Man kann
seine Kinder lieben (und zwar bedingungslos und allumfassend) und trotzdem
manchmal am Mama-Job verzweifeln. Und weil ich gerade bei der Ehrlichkeit bin:
Es wird leider nichts einfacher, nur anders. Die Koliken verschwinden, aber
dann kommen die Zähne. Die Breikocherei hört auf, aber dann wollen sie zehn
Jahre nur noch trockene Nudeln essen.

Irgendwann
muss man die Kinder nicht mehr tragen, aber dann laufen sie gerne auf die
Straße, und zwar bevorzugt immer dann, wenn man nicht guckt. Sie spucken nicht
mehr auf deine Schulter, sondern in den Nachtbus. Sie schreien nicht mehr so
viel, aber sie können mit drei Worten deine schwache Stelle treffen.

Manches wächst sich eben nicht aus

Kürzlich
sprach ich mit einer Freundin, die mich gut kennt. Ich beschwerte mich, dass
meine Kinder ziemliche Drama-Queens seien. Aber dass ich mir sicher sei,
irgendwann würde sich das ja bestimmt mal auswachsen. Sie ja unweigerlich
älter, ruhiger und vernünftiger werden würden. Ihre Antwort: „Was hast du denn
gedacht, wer da eigentlich aus DEINEM Bauch rauskommt? Liebe, ruhige Kinder?
Schon mal was von Genen gehört? Hallo?“

„Aber
Benedikt ist doch so ausgeglichen!“

„Drama-Queen-Gene
sind dominant, das wusste schon Herr Mendel.“

„Äh,
ach so.“

Wahrheitsliebende
Freunde und Hobby-Genetiker in einer Person sind ganz schön anstrengend, aber
ich fürchte, an dieser These ist was dran. Klar, es gibt die Launen, die kommen
und gehen. Aber manchen entwächst man eben vielleicht doch nicht? Jede
Begegnung mit anderen Müttern und Vätern während eines Elternabends macht einem
unmissverständlich klar, dass gewisse schlechte Eigenschaften uns eben doch bis
ins hohe Alter begleiten. Die Kinder, die damals mit Sand um sich warfen, tun
es jetzt mit Worten. Die obercoolen 13-jährigen Jungs aus der Raucherecke
rollen immer noch mit den Augen, die Streber dozieren.

Auch
ich habe immer noch sehr starke „Schübe“. Fragen Sie mal meinen Mann oder meine
Schwiegereltern. Allerdings bevorzuge ich den Begriff „Persönlichkeit“, um
meine zahlreichen, natürlich hauptsächlich liebenswerten Macken zu beschreiben.
Persönlichkeit ist die Summe von Stärken und Schwächen. Aus unserer Persönlichkeit
kommen wir schwer raus, die ist wie eine zweite Haut, und das ist auch okay,
denn diese Mischung macht uns unverwechselbar und einzigartig. Doch egal, wie
ein Familienmitglied auch gestrickt ist, die Liebe untereinander ist immer da,
sie ist das Sicherheitsnetz, das uns alle trägt und miteinander verbindet. Und
vielleicht muss man dann gar nicht mehr dauernd so tun als ob.

Familienleben
ist normal und nicht besser oder schlechter als andere Lebensformen. Kinder und
Eltern sind auch normal und keine besseren Menschen. Kinder machen einen
glücklich, und manchmal eben auch nicht, egal in welcher Phase wir uns alle
befinden.

Wenn
mich heute eine junge Mutter fragt: „Wann wird es einfacher?“ würde
ich nie lügen. Ich würde sagen: „Es wird schon einfacher, aber eben auch
nicht.“ Die oftmals wehmütig vorgetragene Floskel älterer
Mütter oder Omas, „sie werden so schnell groß“, konnte ich im ersten Babyjahr
wenig nachvollziehen, denn ich war leider damit beschäftigt, überfordert und
müde zu sein. „Ist das nicht … gut?“ wollte
ich dann immer antworten. Tatsächlich kann ich sie heute gut verstehen: Denn
gerade lebe ich in einer wunderbaren Blase mit meinen Kindern. Sebastian und
Constanze lieben mich, sagen mir das (noch) oft und gerne, lachen über meine
Witze, finden mich außerdem cool und manchmal sogar schön und nur ganz selten
peinlich. Sie wollen im Haushalt helfen und erzählen mir alles, ihre Sorgen und
Freuden. Diese Phase soll bitte anhalten. Das bleibt doch auch so. Ganz
bestimmt. Oder? Wenn nicht, lüge ich mich gerne wieder selbst an. Meine Kinder
werden die Pubertät einfach überspringen! Ja, so wird es sein, ganz bestimmt.

Es
ist schon ein Wunder und hat wohl mit der bedingungslosen Liebe zu tun. Die
Kinder können noch so schreien, motzen, trotzen und nicht schlafen, und man
fragt sich: „Hört das denn nie auf?“. Aber wenn es dann aufhört, ist man
wehmütig. Vorbei. Nie mehr das zahnlose Babylächeln, nie mehr das erste Mal das
schönste aller Wörter hören: „Mama“.

Doch noch ein drittes Kind?

Am
Tag des vierten Geburtstages meiner Tochter befiel mich plötzlich Panik. Beim
Anzünden der Geburtstagskerzen sagte ich zu Benedikt: „Sie wird nie mehr so
verkuschelt und süß sein wie jetzt. In zehn Jahren möchte sie nicht mehr
zu uns ins Bett kommen und mir Küsse geben, bis ich aufwache.“

Auch
mein Mann lächelte wehmütig. „Dann hat sie vielleicht sogar schon einen
Freund.“

„Furchtbar!
Dann will sie sich nicht mehr von uns umarmen lassen, weil wir ihr peinlich
sind“, spann ich das Szenario weiter.

„Wir
gehen dann einfach nicht an die Tür, wenn der Freund klingelt“, schlug mein
Mann vor.

Oh
Gott! Ein Freund, was für eine schreckliche Vorstellung! Sie wird älter, wir
werden älter, kann ich denn gar nicht die Zeit anhalten? Die Pubertät wird
kommen, unsere auch. Also die Pubertät für Erwachsene, die gefürchtete
Midlife-Crisis. Manchmal würde ich schon gerne unser jetziges Leben in eine
Zeitkapsel stecken, die ich später wieder hervorholen kann.

Mein
Mann hat plötzlich eine Idee zur Lösung des Problems: „Willst du vielleicht
noch ein Kind? Dann hätten wir noch länger Babys! Soll ich mal in der
Excel-Tabelle nachschauen, wann wir Zeit für die Reproduktion hätten?“

„So
habe ich das nicht gemeint.“

Oder
vielleicht etwa doch? Das dritte Kind wäre dann bestimmt ganz anders. Ruhig,
ausgeglichen, keine dominanten Drama-Queen-Gene dieses Mal. Nur die meines
Mannes, volle Entspannung. Man müsste diesem Kind nur einen Trüffelhobel in die
Hand geben, und es wäre glücklich. Ja ja, so wäre das, ganz bestimmt. Und ich
wäre beim dritten Anlauf eine perfekte Mutter, ganz ohne täglichen
Nervenzusammenbruch. Tolerant, geduldig, alles verzeihend. Und konsequent, ist
klar. Gesund kochen für die Familie würde ich natürlich auch, und zwar dreimal
am Tag! Nur noch gute Bücher lesen, basteln und kein Fernsehen. Die Yogamatte wäre
mein zweites Zuhause … Moment! Ich bin ja schon wieder am Flunkern. Ich
muss jetzt aber wirklich mal damit aufhören!

Nina Massek: „Eine Mama am Randes des Nervenzusammenbruchs. 20 wunderbare Flunkereien, die Eltern das Leben erleichtern“, Goldmann Verlag, November 2015, 288 Seiten, 9,99 Euro.

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