Foto: Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa: „Deutschland ist nicht für alle Garten Eden, auch wenn wir das gerne glauben”

Olga Grjasnowa gehört zu den Lieblings-Autorinnen der Redaktion. Heute erscheint ihr neues Buch: „Gott ist nicht schüchtern”. Ein Interview.

 

„Jegliche Gewalterfahrung bleibt und prägt uns”

Die junge Schriftstellerin Olga Grjasnowa hat sich schon mit ihrem 2012 erschienenen Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt” in unser Redaktionsherz geschrieben. Heute erscheint ihr drittes Buch: „Gott ist nicht schüchtern” im Aufbau Verlag. Grjasnowa schreibt über zwei junge Menschen, die in Syrien die aufkommende Revolution und den Krieg miterleben und irgendwann über die Türkei und die Balkanroute nach Deutschland fliehen. Dabei gelingt es ihr, den deutschen Leser auf eindringliche Weise daran zu erinnern, dass all die Menschen, die in den vergangenen Jahren hier angekommen sind, eine individuelle Geschichte haben, die wir endlich hören müssen – und das ohne selbst jemals in Syrien gewesen zu sein.

Wir haben mit der Autorin, die selbst erst mit elf mit ihren Eltern nach Deutschland kam und mit ihrem syrischen Mann und ihrer kleinen Tochter in Berlin lebt, über ihren Roman, Identität und die traumatische Erfahrung von Gewalt gesprochen.

Wenn man „Gott ist nicht schüchtern” liest, hat man das Gefühl selbst in Syrien zu sein. Die Bilder der Demonstrationen, aber auch des Krieges und der Flucht werden lebendig. Und das obwohl du selbst nie in Syrien gewesen bist. Wie hast du für den Roman recherchiert?

„Mein Mann stammt aus Syrien, er ist erst vor etwa vier Jahren nach Deutschland gekommen. Ich selbst war aber wirklich noch nie in Syrien und spreche auch kaum Arabisch, deshalb basiert die Geschichte auf einer sehr groß angelegten Recherche. Darum ist  zum Beispiel die Wahl der Handlungsorte auf Damaskus und Deir az-Zour gefallen: Zum einen findet man über diese beiden Städte viele gesicherte Informationen, zum anderen kommen die meisten meiner syrischen Freunde und Familienmitglieder von diesen Orten, sodass ich viel nachfragen konnte, um wirklich exakt zu sein. Außerdem hatte ich für sieben Monate ein Stipendium in der Türkei und bin nach Griechenland und in den Libanon gereist und habe Syrien quasi von außen umkreist, aber leider noch nie von Innen.”

Deine anderen beiden Bücher spielen in ganz anderen Welten. Warum hast du dich für diesen Roman für Syrien entschieden?

„Ich bin mit der Fluchtgeschichte meiner jüdischen Großmutter aufgewachsen. Sie ist als 14-jährige alleine aus Weißrussland mit ihrem neunjährigen Bruder nach Baku geflohen, das sind ungefähr 2.500 Kilometer gewesen, für die sie drei bis vier Jahre gebraucht haben. Als der Flüchtlingszustrom begann und viele Freunde und Familienmitglieder meines Mannes sich nur noch die Frage stellten, wie man ein Visum bekommen oder überhaupt noch irgendwie raus aus Syrien kommen könnte, fühlte ich mich sehr an die Geschichte meiner Großmutter erinnert, die Emotionen und die Verzweiflung, die man in den Gesichtern erkennen konnte. Gerade in der Türkei herrschte so viel Hoffnungslosigkeit – sodass ich dachte: Ich muss das jetzt machen.”

Die Flucht und das Leben in Deutschland nehmen in deiner Geschichte über deine beiden Protagonisten Amal und Hammoudi nur einen kleinen Teil ein. Der größte Teil der Erzählung spielt in Syrien. Als Leser erlebt man mit, wie die angehende Schauspielerin Amal und der eigentlich in Frankreich lebende Arzt Hammoudi langsam fast alles verlieren, was sie als Menschen ausgemacht hat. Der Teil ihrer Geschichte, den du selbst gar nicht gesehen hast, nimmt also einen viel größeren Teil ein. Warum ist das so?

„Mich hat die Frage umgetrieben, wie es dazu gekommen ist, dass diese Menschen fliehen müssen. Bevor ich meinen Mann getroffen habe, hätte ich Syrien vielleicht auf der Landkarte verorten können, viel mehr wahrscheinlich aber auch nicht. Eigentlich war die Idee, dass ich über Syrien schreiben möchte sehr lange nur ein Witz. Bis ich ihn so häufig gemacht habe, dass ich es versuchen musste.”

Warum gerade die Figur der Amal?

„Amals Institut gibt es wirklich es ist das ,Höhere Institut für Dramatische Kunst’ in Damaskus – das angesehenste Institut in der ganzen arabischen Welt. Um dort aufgenommen zu werden muss man ein hartes Auswahlverfahren über sich ergehen lassen, es kommen mehrere Hundert Leute auf einen einzigen Platz. Mein Mann hat dort studiert und dann dort unterrichtet, ich kenne zudem viele Leute, die dort waren. Und sie haben ein russisches System, das mir auch vertraut ist. Ich habe selber in Moskau Dramaturgie studiert. Ich dachte, das wäre für mich ein guter Startpunkt.”

Und Hammoudi?

„Die Geschichte von Hammoudi ist kombiniert. Ich habe tatsächlich Leute kennengelernt, die die in diesem Krankenhaus gearbeitet haben. Ein junger Mann hat vier Jahre lang in einem einzigen Raum operiert, hat nie das Tageslicht gesehen und war damals eigentlich noch Student. Alleine hat er über ein tausend Operationen durchgeführt, oft nur im Lichtkegel seines Mobiltelefones. Er hatte eine Fülle von Dokumenten, aus denen mein Arzt Hammoudi erwachsen ist. Dass die Faktenlage stichhaltig ist, war mir sehr wichtig.”

„Amal setzt sich, Youssef bleibt stehen. Er braucht sehr lange, um nichts zu sagen.” – In deinem Roman geht es oft um das, was nicht gesagt wird. Leben wir in einer Zeit die sprachlos macht?

„Ich glaube, Dinge ungesagt zu lassen ist ganz grundsätzlich meine Arbeitsmethode. Meine Figuren reden selten. Für mich ist es reizvoller, Konflikte so zu schildern, als sie auszuformulieren. Schweigen ist handwerklich gesehen einfach schöner. Zumindest passt es mehr zu meiner Persönlichkeit.”

Beiden Protagonisten wird ihre eigentliche Identität, das worüber sie sich definieren sehr früh im Roman entrissen, plötzlich sind sie Aktivisten und später dann nur noch Flüchtlinge. Wie wichtig ist der Begriff „Identität” für dein Werk?

„In Deutschland passiert etwas Komisches mit der Identität, finde ich. Hier definieren wir Leute, die nicht ,wirklich-wirklich-wirklich-deutsch’ – sind, über ihre Nationalität, obwohl diese eigentlich nichts aussagt. Soziale Schicht, Bildungsstand oder der Beruf sind doch zum Beispiel viel interessanter. Ich erlebe das gerade selbst: Meine Identität als Mutter ist plötzlich eine ganz andere, auch wenn ich das selber vorher nicht gedacht hätte. Wichtig für mein Werk ist also vielleicht eher die Verneinung von einer herkunftsgeprägten Identitätstheorie. Gerade Städte wie Berlin, London und New York eröffnen einem ja das Gefühl, dass man sich immer wieder völlig neu erfinden kann.”

Aber können das wirklich alle? Leben wir nicht in einer Gesellschaft, die dieses sich-neu-erfinden vielen Leuten verweigert?

„Ja, schon. Ich habe aber das Gefühl, dass es langsam besser wird. Zumindest hoffe ich das.”

Ich habe das Gefühl, dass „Gott ist nicht schüchtern” das erste Buch ist, das ich gelesen habe, dass uns die Geschichte zweier Geflüchteter erzählt, bevor sie zu Geflüchteten geworden sind, das erste Buch, das uns daran erinnert, dass all die ankommenden Menschen individuelle Geschichten haben, die es sich lohnt, zu hören. Dass „Flüchtling” eben nicht ihre komplette Identität ist.

„Ja, genau das ist es, was mich auch immer so nervt: dass man alle Schicksale und Menschen so verallgemeinert – vor allem bei Syrern und Irakern oder Äthiopiern oder Somaliern. Ich meine, fast keiner von ihnen wollte nach Deutschland, zumindest nicht auf diese Weise. Wir verhalten uns oft scheinheilig so, als ob Deutschland für alle der Garten Eden wäre, wir Deutschen Gott wären und jetzt entscheiden, wer darf rein und wer nicht. Dabei wollten die Leute gar nicht unbedingt nach Deutschland. Meine Familie wollte damals auch nicht unbedingt hierher, das war Zufall.”

Du bist selber erst mit elf Jahren mit deiner Familie als Kontingent-Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Du schreibst auf Deutsch, mit deinen Eltern sprichst du russisch, mit deinem Mann englisch – Was bedeutet Sprache für dich?

„Ich finde die Frage sehr gut, aber ich kann sie nicht beantworten. Also, ich liebe es mit der Sprache zu spielen, sie als Kunstmittel einzusetzen. Aber Sprache kann auch einfach Kommunikationsmittel sein. Ich glaube, meinem Englisch zum Beispiel fehlt komplett die Schönheit, aber es ist eben wahnsinnig effektiv, wenn man irgendwo hinreist.”

Würdest du sagen, dass Sprache verbindet oder trennt?

„Das kommt drauf an. Sie kann beides. Die englische Sprache verkörpert ja zum Beispiel dieses Phänomen, dass sie Menschen überall auf der Welt verbinden kann. In Deutschland gibt es aber eine Sprach-Hierarchie. Bei Kindern, die deutsch-arabisch aufwachsen, werden die Erzieherinnen nervös, Kinder deutsch-englisch oder deutsch-französisch zu erziehen gilt aber als Hochkultur. Negative Vorurteile gibt es nur bei bestimmten Sprachen.”

Deine Großmutter hat dich immer wieder ermahnt, dass Geschichte sich immer wieder wiederholt. Würdest du ihr zustimmen?

„Ja, zumindest in Variationen ist das so. Krieg, Gewalt, Vertreibung sind ja zum Beispiel Dinge, die immer wiederkehren. Jedes Mal wird dann gesagt: ,Nie wieder’ und ,auf gar keinen Fall darf sich so etwas wiederholen‘, aber wenn es wieder so weit ist, bewegt sich keiner, um wirklich etwas dagegen zu machen.”

Was kann Literatur dagegen tun?

„Literatur kann einen Perspektivenwechsel ermöglichen. Und das ist, glaube ich, auch das Wichtigste. Eine Perspektive schaffen, die man eben noch nur aus der Außenwahrnehmung beurteilt hat – und plötzlich ist man selber mittendrin. Für ,Gott ist nicht schüchtern’ musste ich diesen Perspektivenwechsel ja auch vornehmen. Durch diesen Perspektivenwechsel können Bücher auch Empathie schaffen. Ich glaube, das sind die beiden größten Errungenschaften der Literatur.”

Würdest du also der Behauptung widersprechen, dass man immer über sich selbst schreibt?

„Bis zu einem gewissen Grad kommt man natürlich nicht aus seiner eigenen Haut raus, aber ich glaube trotzdem, dass man es beim Schreiben versuchen muss.”

Du hast selber schon öfter kritisiert, dass viel zu oft über Geflüchtete geschrieben und nicht mit ihnen gesprochen oder von ihnen geschrieben wird. Nun hast du für dein neues Buch selbst die Perspektive von zwei Menschen eingenommen, die fliehen müssen. Wie passt das zusammen?

„Letztendlich ist das natürlich ein Widerspruch. Das ist mir auch vollkommen bewusst. Aber ,Gott ist nicht schüchtern‘ ist eigentlich auch ein sehr europäisches Buch, keine authentische syrische Fluchtgeschichte. Wäre es von einem Betroffenen geschrieben worden, wäre es sicherlich ganz anders, da bin ich mir sicher.”

Wolltest du schon immer Schriftstellerin werden?

„Ich wollte eigentlich nie Schriftstellerin werden. Ich hätte mir das nie zugetraut. Ich lese auch viel lieber. Es gab keinen Augenblick des Größenwahns, in dem ich aufgewacht bin und dachte: ,Jetzt schreib ich einen Roman‘ oder so. Das lag, ehrlich gesagt, außerhalb meines Horizonts. Ich wollte Journalistin werden, am liebsten Kriegsberichterstatterin. Das hat aber nicht geklappt, nicht, dass ich mich bemüht hätte.

Ich habe zuerst Kunstgeschichte und Slavistik studiert und durch Zufall den Literatur-Studiengang in Leipzig entdeckt. Darauf habe ich mich dann beworben, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass sie mich auch wirklich nehmen würden. Dann hab ich dort studiert, dann kamen die ersten Stipendien und irgendwann die Anfragen, ob ich einen Roman schreiben würde. Jetzt ist der Dritte fertig. Das war nichts, was ich geplant habe – aber jetzt würde ich natürlich ganz gerne dabeibleiben (lacht).”

Du hast mal gesagt: „In der Geschichte haben Kriege ein Ablaufdatum, aber in den Menschen nicht.” Ist diese Einsicht etwas, dass sich in all deinen Büchern wiederfindet?

„Absolut. Ich glaube, es geht dabei um jegliche Art der Gewalterfahrung. Wenn man so etwas erlebt hat, geht das niemals wieder komplett weg. Der Umgang damit kann besser oder schlechter werden, aber irgendwie bleibt es und prägt uns – und davon handeln meine Geschichten.” 

Olga Grjasnowa: „Gott ist nicht schüchtern”, Aufbau Verlag, 309 Seiten, 22,00 Euro 

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