Foto: Anja Poeschke

Revolution

Ich stehe kurz davor, in meine alte Heimat zurück zu ziehen. Bevor ich gehe, habe ich meiner Wahlheimat, mit der ich eine 9 jährige Beziehung hatte, einen Liebesbrief hinterlassen.

 

“Eine Revolution ist ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt. Er kann friedlich oder gewaltsam vor sich gehen.” (Quelle: Wikipedia, Internetaufruf 29.06.2018)

Der Fahnenstab drückt sich gnadenlos in meine Handfläche. Es
zieht ein Sturm auf. Der zerschlissene Stoff meines Kleides weht im
aufkommenden Wind. Die Schultern liegen frei und entblössen meine Narbe auf der rechten Schulter.

Ich bin barfuss. Regen fällt auf meinen Körper, er hatte
nicht vor, meine Haut zu liebkosen. Die Tropfen der schwarzen furchterregenden Wolken über mir prasseln auf mich nieder. Hinterlassen einen stechenden Schmerz.

Ich versuche den Fahnenstab aufrecht zu halten, ich brauche Rettung.
Der schwere tiefrote Stoff der Fahne tanzt unermüdlich mit dem Sturm. Ich
gleite fast aus, der Fels unter meinen Füssen ist erbarmungslos mit mir. Ich
finde kaum Halt. Mein Haar weht mit dem Wind und versperrt mir Sicht.

Aufbruch

Revolution

Der Sturm zerrt nun auch an mir.

Du liegst unter mir. Schläfst, kauerst. Ich wollte dich mit
mir nehmen, ich habe dich gerettet, du bist mein Halt. Du hast keine Kräfte in
dir, aber du bist bei mir, liegst da. Hälst dich an meinen Beinen fest. Ich
habe dich gefunden, ich habe dich mitgenommen.

Vor meinem Tor hast du gelegen, müde vom Kampf der
vergangenen Nächte. Ich gab dir zu Essen, habe dich gepflegt, dich geliebt,
dich umarmt, mit dir Stunden verlebt. Gewartet und gezweifelt. Du konntest
nicht lang kräftig bleiben. Nun liegst du unter mir, wie ein armes Tier, doch
zugleich kraftvoll und wunderschön. Fast auch gefährlich.

Ich stehe über dir, schützend.

Halte an dir fest.

Mir laufen Tränen über die Wangen, sie brennen sich in meine
regennasse und erkaltete Haut. Wie deine Küsse an meinem Hals. Der Regen lässt mich frieren.

Der übrig gebliebene Stoff klebt an meinem Körper, zeichnet
meine Silhouette ab.

Ich schaue um mich, keine Rettung naht. Unter uns der
reissende Fluss umschlingt unseren Felsvorsprung wie ein Mäander. Der
Blickwechsel mit ihm macht mich schwindelig. Ich drohe zu fallen, unter der
Last meiner im Sturm kämpfenden, nach Rettung rufenden Fahne. Sie konkurriert mit mir, fast majestätisch oder arrogant. Ich greife fester nach der Fahne.

Ich suche nach Standfestigkeit, spüre deine Hand, die mich
und gleichzeitig dich hält. Du lässt mich nicht los, schindest damit Zeit. Ich
bin froh, ich will nicht aufbrechen.

Endlose Stille, Einsamkeit dringt in mich ein.

Die Zeit will einen Aufbruch sehen.

Sässe ich doch auf einer Bank unter meiner tiefroten Buche
und würde mich von ihrem jahrhundertealten Stamm halten lassen. Ich würde Halt nehmen, mich davon nähren. Doch jetzt erhalte ich nichts als tiefe Abscheu. Du strahlst, aber du leidest. Du rufst nach mir, deine schöne goldige Haut ruft nach meinen Berührungen. Ich suche deine Augen. Dein Blick sagt mir mehr, als mir gerade lieb ist. Ich darf jetzt nicht wanken. Ich muss Rettung suchen. Man muss mich sehen. Man muss uns finden. Ich halte die Fahne höher als je zuvor in den Himmel über uns.

Ich beschütze dich und umschlinge dich mit beiden Beinen.
Ich rette dich vor dem Sturz in den Abgrund, auch wenn du mir Kraft raubst. Bald muss ich dich ziehen lassen.

Du zerrst zu sehr an meinem Körper, meinem Herzen. Du raubst
mir Atem. Unsere Küsse drängen sich in meine Gedanken. Sie bringen mich um
meinen Verstand. Ich muss deinen leidenschaftlichen Blicken widerstehen, sonst verliere ich Halt.

Da! Ein Lebenszeichen. Feuer, Musik, Licht. Sturm lässt nach. Ich habe Schmerzen. Weine vor Erleichterung.

Ein schwer auf dem Wasser liegendes Segelschiff fährt auf
uns zu. Mein Herz hüpft, endlich kann ich ziehen. Endlich umarmt mich ein Segel, wie ein schützender Umhang.

Du sackst in dich zusammen, fällst fast vom Gestein in die
tiefe Schlucht. Als würdest du dich geschlagen geben. Bittest mich, dich gehen
zu lassen, da ich nun Rettung erhalte und es wert ist, es anzunehmen. Was ist
mir wert? Ich weiss es nicht mehr, muss mich entscheiden. Kann nicht
entscheiden. Du bist meine Last, mein Leid, meine Schönheit. Ich will dich nicht zurück lassen. Ich liebe dich. Gehe mit mir in meine Revolution. Ich kann für uns Beide leben, ich verfüge über genug Kraft. Muss nur schlafen, zwei Nächte. Mit dir, neben dir. Dann ist es wieder gut. Aber du schlägst aus, schiebst mich in Richtung Schiff. Bittest mich, in seine schützende Schale zu steigen und die rettenden Hände der starken weissen Segel zu greifen.

Ich weine, meine Tränen sind noch immer heisser als meine
Haut. Aber für den Aufbruch ist die Zeit nun gekommen. Der Vertrag mit der
Revolution ist unterzeichnet, von mir. Ich wollte es so.

Du schaust mir ein letztes Mal, so ahne ich es zumindest,
tief in die Augen. Ich sehe nichts anderes mehr um mich herum, bin blind. Vor
Liebe.

Ich weine, bin verzweifelt, spüre Liebeskummer. Dieser
Moment, ich brauche ihn, schwindet jetzt. Das war Bedingung im Vertrag.

Alles lässt mich los. Ich klammere. Aber du tauchst unter.
Schwimmst weit weg von mir und dem rettenden Schiff.

Nebel.

Die Segel flattern friedlich im Wind. Der Sturm ist vorüber
gezogen.

Ein weisses Segel umarmt mich, flüstert mit deiner Stimme:
„Es ist Zeit für Deine Revolution – geh“

Ich zünde meine Fackeln und übernehme das Steuerrad.

Ein neuer Kurs.

In Liebe.

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