Viele von uns werden in schwierigen Familienverhältnissen groß. Das muss nicht heißen, dass wir später unglückliche Menschen werden. Ze.tt erklärt woran das liegt.
Blick in die Zukunft trotz dunkler Vergangenheit
Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie fünf Jahre alt war. Ihre Mutter versuchte, sich umzubringen, als sie 14 war. Ihr Stiefvater, als sie gerade ihre Bachelorarbeit verteidigt und mit 1,0 abgeschlossen hatte. Sie und ihre Schwester wurden beide geschlagen und ihre einzigen Großeltern starben früh.
Ich kenne meine Freundin schon seit ich klein bin, wir sind zusammen aufgewachsen. Sie hat viele Schicksalsschläge erlebt, an denen andere zerbrechen. Mir schien sie immer optimistisch, stark. Sie blickt in die Zukunft, obwohl ihre Vergangenheit an vielen Stellen sehr dunkel ist.
Ich habe mich immer gefragt: Wie gelingt ihr das?
Familie ist das, was uns prägt – ob wir wollen oder nicht. Sie ist, in welcher Konstellation auch immer, die erste Vertrauensbasis unseres Lebens. Ist dieses Verhältnis schon früh zerrüttet, beeinflussen uns die damit einhergehenden schlechten Erfahrungen für immer. Also könnte man meinen, alle Kinder, die in solch „ungeordneten“ Verhältnissen groß werden, hätten später einen Knacks.
Haben sie nicht unbedingt und das hat verschiedene Gründe.
Resilienz – die psychische Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umzugehen
Die US-Psychologinnen Emmy Werner und Ruth Smith untersuchten ab 1955 insgesamt 698 Kinder, die auf Hawaii geboren wurden. Die beiden Wissenschaftlerinnen begleiteten diese Menschen 40 Jahre lang. Ein Drittel der Kinder, die in schlechten Familienverhältnissen aufwuchsen – also deren Eltern Alkoholprobleme hatten, depressiv waren, sie schlugen oder misshandelten – fanden sich trotz aller Widrigkeiten später gut im Leben zurecht. Sie gingen normalen Berufen nach, führten intakte Beziehungen und wurden nicht straffällig.
Sie waren resilienter als die zwei Drittel, die später zum Beispiel selbst alkoholabhängig oder psychisch krank wurden.
Resilienz ist die psychische Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umzugehen, Krisen zu bewältigen und daraus zu lernen. Jede*r handhabt schwierige Situationen unterschiedlich. Auch jedes Kind. „Etwa 50 Prozent der Resilienz sind genetisch veranlagt“, sagt Doktor Isabella Helmreich, wissenschaftliche Leiterin des Deutschen Resilienz-Zentrums (DRZ) in Mainz. Das DRZ gibt es erst seit zwei Jahren, die Resilienzforschung ist ein noch junger wissenschaftlicher Bereich – einer, in dem es noch viel zu erforschen gibt.
Welche Resilienz-Eigenschaften bereits in unseren Genen vorhanden sind, kann Helmreich noch nicht beantworten. Aber sie weiß: „Das, was von der Genetik vorgegeben ist, ist die Stressresistenz. Manche Menschen können von Natur aus besser mit Stress umgehen als andere.“ Neben dem, was bereits in unseren Genen schlummert (oder eben nicht), bedarf es aber noch einiger anderer Faktoren, die uns Traumatisches besser verarbeiten lassen.
Entscheidend ist das soziale Umfeld
Die Langzeitstudie von Emmy Werner und Ruth Smith zeigt, dass unsere Stressresistenz zum einen davon abhängt, welche Persönlichkeit wir mitbringen und zum anderen, in welchen Vertrauensverhältnissen zu anderen Menschen wir aufwachsen.
Die hawaiianischen Kinder, die unter widrigen Verhältnissen aufwuchsen, aber dennoch später gut in ihrem Leben zurecht kamen, besaßen Charaktereigenschaften wie positives Temperament und eine hohe Sozialkompetenz, sie waren eher optimistisch und voller Tatendrang. Durch Probleme ließen sie sich nicht zurückwerfen, sondern gingen sie bewusst und zuversichtlich an. Ihr Handeln war geprägt durch ein aktives Bewältigungsverhalten, nicht durch Resignation.
Alle haiwaiianischen Kinder, die zwar zu Hause niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten, aber in ihrem näheren Umfeld eine emotionale Bindung zu mindestens einer Bezugsperson aufbauen konnten, gelang es später ein „normales Leben“ zu führen.
„Es müssen nicht immer Mutter oder Vater sein, die eine wichtige Rolle in unseren frühen Jahren einnehmen“, sagt Helmreich. „Es können auch ältere Geschwister, eine Tante, ein Onkel, ein Lehrer, eine Lehrerin oder ein Sozialarbeiter sein, durch den die Kinder Halt bekommen.“
Bezüglich des Vertrauens durch Bezugspersonen sei es ebenfalls wichtig, dass wir durch sie gespiegelt würden, meint der österreichische Philosoph, Sozialwissenschaftler und Resilienz-Experte Harald Katzmair. „Wenn wir nie eine positive Rückmeldung bekommen, ist es unmöglich, dass wir zu uns selbst eine wertschätzende, vertrauensvolle Beziehung aufbauen, die aber notwendig ist, dass wir uns in schwierigen Situationen bewähren können“, sagt er.
Sich selbst einzuschätzen und seine eigenen Schwächen, aber auch Stärken zu erkennen, gelinge auch dadurch, selbst für andere Verantwortung zu übernehmen. Kinder, die zum Beispiel auf kleinere Geschwister aufpassen und sich um sie sorgen würden, seien resilienter als jüngere Geschwister, da sie sich schon früh darüber Gedanken machen müssen, wie sie den*die andere*n unterstützen können.
Meine Freundin ist so ein älteres Geschwisterkind, sie hat eine zwei Jahre jüngere Schwester. Zudem weiß ich, da ich selbst dazu gehöre, dass sie von klein auf eine handvoll sehr inniger Freundschaften pflegt, die bis heute bestehen. Eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen war ihre Deutschlehrerin, die sich mit ihr und ihren Problemen beschäftigte. Zu ihr konnte sie gehen, wenn es zu Hause brenzlig wurde. Gut möglich, dass all das eine Rolle dabei spielte, dass sie nicht an ihrem Elternhaus zerbrach.
Helikopteltern hindern ihre Kinder daran, stressresistent zu werden
Wenn Kinder in „geordneten Verhältnissen“ aufwachsen, heißt das aber noch lange nicht, dass sie automatisch stressresistent werden. Eltern, die ihre Schützlinge vor jedem Unheil bewahren wollen, tun ihnen nichts Gutes. „Es ist wichtig, immer mal wieder mit schwierigen Situationen konfrontiert zu werden, damit ich lerne, mit Stress umzugehen“, sagt Isabella Helmreich.
Kinder mit sogenannten „Helikoptereltern“ würden oft zu sehr abgeschottet; sie müssten nichts lösen und könnten damit gut durchs Leben kommen. Möglich sei aber, dass sie dann in Stresssituationen überfordert seien, mahnt die Expertin. „Es kann gut sein, dass sie einfach mal zusammenbrechen, weil sie nicht gelernt haben, mit Misserfolg oder schwierigen Dingen umzugehen“, sagt Helmreich.
Wie sähe die perfekte Kindheit aus?
Christoph Uhl ist Familientherapeut in Berlin. Zu dem Psychologen kommen Spitzenpolitiker*innen, prominente Schauspieler*innen, Reinigungskräfte, Studierende und Schüler*innen. Das Hauptproblem, das nahezu alle einen würde, sagt er, sei Misskommunikation über Bedürfnisse und Erwartungen. Einzelnen Familienmitgliedern wäre oft nicht hinreichend klar, was die anderen erwarten.
Wie aber sähe der Idealfall aus? Gibt es überhaupt Optimal-Faktoren für eine glückliche Kindheit?
„Das Kind braucht Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit“, sagt Uhl. Hinzu kämen Bezugspersonen, die Ruhe ausstrahlen würden, die „mit ihrem Leben im Reinen sind.“ Kinder bräuchten jemanden, der sich Zeit nimmt, ihnen Liebe gibt, aber auch die Freiheit, sich selbst zu entwickeln. „Eltern müssen ihrem Kind zutrauen, Fehler zu machen und diese selbst zu beheben“, sagt er. Wichtig hierbei sei aber auch, dass sie als „Fels in der Brandung“ agieren würden. „Das Kind muss merken, dass es sich trotzdem immer an seine Eltern wenden kann.“
Wir können lernen, Schicksalsschläge besser zu verarbeiten
Auch, wenn wir weder unter optimalen Bedingungen groß geworden sind, noch bislang besonders stressresistent auf Schicksalsschläge reagieren, können wir lernen, künftig mit widrigen Lebensumständen besser umzugehen. Hierfür sollte man sich zunächst bewusst mit sich selbst auseinandersetzen, rät Expertin Helmreich. Als Erstes sei es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man momentan in schwierigen Situationen reagiere und welche Eigenschaften zur Bewältigung man schon mitbringe. Im Anschluss könne man sich überlegen, wie sich diese Eigenschaften noch weiter ausbauen ließen. Als Beispiel hierfür nennt die Expertin Freunde.
Jemand, der*die bereits ein stabiles soziales Umfeld hat, dem er*sie vertraut, könne sich überlegen, ob und wie er*sie dies in Krisensituationen noch besser nutzen könne. „Bei wem kann ich mir in schwierigen Situationen Hilfe holen?“ sei eine erlaubte Frage, sagt die Wissenschaftlerin. Auch der Austausch mit anderen Menschen, die nicht zum Freundeskreis gehören, aber ähnliche Schicksalsschläge oder stressige Situationen zu meistern hätten, helfe. „Wenn ich mir anhöre, wie andere mit Problemen umgehen, die ich auch habe, komme ich vielleicht auf Ideen, wie ich mit der Situation umgehen kann“, sagt sie.
Sie rät auch dazu, bewusst Tagebuch zu schreiben, um so die Probleme zu reflektieren oder Resilienz-Workshops zu besuchen. Sie mahnt allerdings: „Resilienz ist kein Allheilmittel. Menschen mit schweren Traumata oder psychischen Störungen werden häufig nicht nur durch die Stärkung der Resilienz gesunden. Zusätzliche Unterstützung durch professionelle Hilfe ist hier oft hilfreich und wichtig.“ Aber es könne ihnen helfen, zukünftig besser mit ähnlichen Situationen umzugehen.
Der Originaltext von Marieke Reimann ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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