Das Bild zeigt eine am Küchentresen sitzende Frau vor ihrem Laptop. Auf dem Tresen kniet ein kleines Mädchen, das auf ihren Laptop schaut.
Foto: Momo Productions | Getty Images

Sechs Wochen Sommerferien – wie soll das gehen?

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt Eltern täglich vor Herausforderungen. Diese multiplizieren sich in den Ferien um ein Vielfaches, wenn Kinder wochenlang schulfrei haben, Eltern aber regulär arbeiten müssen. Unsere Redaktionsleiterin fragt sich, wie dieser Spagat gelingen soll?

„Heyyyyy, endlich ist es so weit: Sommerferieeeeen! Ich freu’ miiiiich!“, ruft mir eine extrem gut gelaunte Influencerin entgegen. Dabei hält sie einen hübsch designten Behälter mit Glashalm in die Luft, darin schwimmt eine milchige Flüssigkeit, die aus –  das verrät sie mir sofort –  reinem Protein besteht, gesüßt mit nur einer Medjool Dattel, Mandelmilch ist auch dabei und gecrushtes Eis. „Super super lecker, musst du unbedingt probieren!“

Ok, mach’ ich gleich, vielleicht. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, hat die Influencerin drei Kinder, die ab sofort sechs Wochen Ferien haben, und ich habe eine dringende Frage, die mich als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder gerade auch selbst 24/7 beschäftigt: Wie soll das gehen? Ich meine: sechs Wochen!?

Fühlt ihr es auch?

Fühlt ihr es auch? Ich starre noch ein wenig länger auf den Bildschirm, bin irgendwo zwischen Neid (auf ihre Sommerferien-Vorfreude) und Neugier. Die Kamera der Influencerin filmt jetzt, wie ihre Kinder von der Zeugnisvergabe nach Hause kommen. „Ich bin so stolz auf euch“, ruft sie im weißen Foyer eines offenbar sehr großen Hauses. Ihr Mann tritt jetzt auch ein, er ist Unternehmer, verdient viel Geld, lächelt warm in die Kamera hinein. Ein großer Urlaub steht vor der Tür. „Fühlt ihr es auch, dieses Sommerferienkribbeln?“ Nein, ich fühl’s einfach nicht. Denn für wen steht diese Familie mit den 1,5 Millionen YouTube-Abonnent*innen? Und für wen nicht?

Urlaub am Meer – ein unerfüllter Traum

Aus den Kommentaren unter dem Video geht hervor, dass diesem Account auch einige Kinder folgen. Ziemlich sicher teilt nur ein Bruchteil von ihnen die Lebenswirklichkeit, die hier gezeigt wird. In deutschen Haushalten verschlechtert sich die Lage zunehmend, und das wirkt sich eben auch auf die Jüngsten aus. 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren 2023 armutsgefährdet. Das entspricht einer Armutsgefährdungsquote von 14 Prozent; dies teilte das Statistische Bundesamt (Destatis, Juli 2024) anhand von Ergebnissen der Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) mit. Jedes siebte Kind ist davon betroffen, und da bleibt der Urlaub am Meer ein unerfüllter Traum.

Fast 22 Prozent der Bevölkerung kann sich eine Urlaubsreise nicht leisten, und besonders für Alleinerziehende ist es schwierig. Aus den Daten des Statistikamtes der Europäischen Union (Eurostat, 2023) geht hervor, dass es für 42 Prozent in der Kategorie „Alleinstehende Person mit abhängigen Kindern“ nicht möglich ist, eine Woche in den Urlaub zu fahren.

700 Euro die Woche

Wir können in diesem Jahr zwei Wochen der Sommerferien abdecken mit einem Urlaub und einem Besuch bei den Großeltern. Das ist ein großes Privileg. Aber was passiert in den restlichen vier Wochen, in denen ich keinen Urlaub habe?

„Das ist doch kein Problem!“, sagt die Influencerin. „Guck mal: Hier gibt es eine Star Wars Ausstellung, dann das Legoland natürlich, und kennst du schon das Samurai Museum?“ –  Gegenfrage: Kennst du meine Kinder? Die interessieren sich weder für das eine noch das andere. Außerdem kostet der Eintritt pro Person ab 25 Euro aufwärts. Und vor allem: Wer soll da mit ihnen hingehen? „Es gibt noch jede Menge Camps für Kinder, in denen sie mit anderen Kindern ganz tolle Sachen lernen. Zum Beispiel das Trampolin Camp im Jump House!“ Richtig, hab ich gesehen. Kostet 350 Euro für eine Woche. Pro Kind. Und ich habe zwei. Also 700 Euro für eine Woche, in der sie von 9 bis 16 Uhr betreut sind. Dazu kommen die Anfahrtskosten.

„Na… na gut. Wenn das mit dem Geld ein Problem ist…“ –  die Influencerin zieht kurz an ihrem Glashalm – „…wie wär’s mit Steine bemalen?“ Ich klappe den Laptop zu. Am letzten Schultag treffe ich andere Eltern. Man wünscht sich „einen ganz tollen Urlaub“, ständig streift die Frage „Und, wo fahrt ihr hin?“ mein Ohr. Leute erzählen von ihren Flugreisen nach ganz weit weg, zwei Wochen La Gomera, drei Wochen Schweden. Ich selbst spreche, wie gesagt, momentan aus einer privilegierten Perspektive. Trotzdem frage ich mich: Wie machen die das? Und wo sind all die anderen Menschen, die jetzt überhaupt nicht wissen, wie sie das hinkriegen sollen?

Die Unsichtbarkeit vieler Familien

Meine Kollegin Camille Haldner erscheint auf dem Laptop. Wir treffen uns an zwei von fünf Tagen die Woche digital statt in echt. Und weil mich die Frage gerade sehr beschäftigt, stelle ich sie ihr sofort: „Wo sind diese Eltern, die bei den Urlaubsplänen am letzten Schultag in der Aula einfach nicht mitreden können, weil sie jeden Cent zweimal umdrehen müssen?“ – „Die sind unsichtbar“, sagt Camille. Und genau das ist es. Sie sind einfach nicht sichtbar mit ihren Problemen oder mit ihrer Verzweiflung oder mit ihrer Scham. Und ich denke an die Influencerin in ihrem weißen Foyer: „Fühlt ihr es auch, dieses Sommerferienkribbeln?“ – Nein, sie fühlen es nicht.

„Wir von unten“

Dabei wäre es leicht möglich, ihnen das Gefühl von Sichtbarkeit zu geben, indem wir das Thema medial vorkommen lassen, auch wenn es nicht um die typische Aufstiegsgeschichte geht. Die Autorin und Aktivistin Natalya Nepomnyashcha hat das so wichtige Buch „Wir von unten“ geschrieben. Und sie erzählte bei der Buchpremiere über das von der Presse so heiß geliebte Narrativ: vom Hartz-IV-Kind zur erfolgreichen Karrierefrau. Es sei dieser spannungsvolle Kontrast, der auch sie als Person interessant mache. „Wären Kinderarmut und späterer beruflicher Erfolg nicht Paradoxien, würde sich keiner für mich interessieren. Die Tatsache, dass sie es tun, hat einen bitteren Beigeschmack. Denn indem sich die Scheinwerfer auf mich richten, werden andere durch den Schatten verdeckt. Und es sind viele.“

Laut widersprechen

Ja, es sind viele. Es muss darüber geschrieben und gesprochen werden. Und es muss widersprochen werden: In einer Gruppe können wir laut sagen: „Nein, dass Geld keine Rolle spielt, trifft nun mal nicht auf die meisten zu.“ Am Elternabend können wir laut sagen: „Bevor ihr euch für das teuerste Gemeinschaftsgeschenk zum Geburtstag der Lehrerin entscheidet, denkt doch daran, dass 10 Euro für die einen etwas anderes sind als für die anderen.“ Im Fußballverein des Kindes können wir laut sagen: „100 Euro für ein Mannschaftstrikot, das nachhaltig hergestellt wurde, tut den allermeisten Familien extrem weh, Nachhaltigkeit hin oder her.“

Es heißt immer, dass man an bestimmten Strukturen schwer etwas ändern kann, die einen haben nun mal mehr, die anderen weniger. Aber hier lässt sich etwas verändern. Im Alltag. Von Seiten der Medien. Im alltäglichen Miteinander. In all den unterschiedlichen Konstrukten, in denen Menschen unterwegs sind. Wir alle können hier ein Bewusstsein schaffen. Dafür müssen wir mehr miteinander sprechen, und, wie Natalya Nepomnyashcha in ihrem Buch schreibt, „Interesse zeigen für die Erfahrungen anderer. Die eigenen Privilegien ernsthaft reflektieren. Solidarität zeigen. Gemeinsam Forderungen aufstellen. Am Arbeitsplatz oder auch gegenüber der Politik.“

Ich wünsche allen Eltern, dass ihr die Sommerferienzeit bewältigt. Dass ihr über euren Struggle mit anderen sprechen könnt. Dass ihr sichtbar seid.

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Dieser Text erschien erstmals in unserem „Voices“-Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt. Jede Woche teilt darin ein*e EDITION F-Autor*in ganz persönliche Gedanken zu Themen wie Sex, Gesellschaftspolitik, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.

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