In Sizilien blüht das Geschäft mit der Sexarbeit von nigerianischen Flüchtlingen. Doch eine Gruppe von ehemaligen Prostituierten aus Benin City kämpft gegen die Ausbeutung der Mädchen und will ihnen neue Perspektiven aufzeigen.
Für fünf bis zehn Euro verkaufen sie ihre Körper
Während die Autos unaufhörlich an Teresa vorbeirasen, bricht sie ein paar Zweige von den Bäumen ab und zündet ein Feuer am Straßenrand an. In Kürze wird es stockfinster. Das Feuer ist der einzige Schutz, den Teresa und die anderen Mädchen im „Parco della Favorita“ haben. Noch vor 200 Jahren waren der Park und der umliegende Wald das königliche Jagdrevier der sizilianischen Stadt Palermo. Heute ist er einer der berüchtigsten Straßenstriche der Mittelmeerinsel. In knappen Kleidern und High Heels stehen die Mädchen bis zu 14 Stunden an der Straße und verkaufen ihren Körper – teilweise für fünf bis zehn Euro. Ihren richtigen Namen und ihr Alter verschweigt Teresa: „Meine Geschichte geht nur mich etwas an.“
Wie die Mehrzahl der jungen Prostituierten kommt sie aus dem verarmten Süden Nigerias, genau genommen aus Benin City. Hier befindet sich seit einigen Jahren der Umschlagplatz für ein schmutziges Geschäft: Mit den Flüchtlingsströmen aus Afrika schleusen kriminelle Netzwerke jährlich Tausende von jungen Frauen nach Europa, um sie dort als Prostituierte anzubieten. Nigeria führt im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern wie Ghana oder Sierra Leone die Rangliste der Herkunftsstaaten an: über 70 Prozent der Prostituierten in Italien stammen aus dem bevölkerungsreichsten Land des
Kontinents.
Allein im Jahr 2016 gelangten mehr als 11.000 Frauen und 3.000 minderjährige Mädchen aus Nigeria an die Küsten Italiens. Damit stiegen die Zahlen nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Vergleich zum Vorjahr drastisch an. Und: Immer mehr Neuankömmlinge sind nicht älter als 13 oder 14 Jahre alt. Wie alt Teresa ist, lässt sich kaum sagen. Das von Narben gezeichnete Gesicht, wird von dicker Schminke bedeckt. Sie beteuert, dass sie freiwillig an der Straße stehe, doch aus ihren Augen spricht die Angst, jemanden zu verraten.
Der Eingang des Parco della Favorita: Bis zu vierzehn Stunden stehen die Afrikanerinnen hier an der Straße.
Eine Anlaufstelle für Prostituierte
Wenige Kilometer von der „Favorita“ entfernt, läuft eine energische Frau in einem spärlich eingerichteten Raum des ehemaligen Klosters Montevergini auf und ab. Ihr Name ist Osas Egbon. Als sie das lange Telefonat beendet, verzieht sich ihr Gesicht zu einer besorgten Miene. Erneut sei ein Schiff mit 500 Flüchtlingen aus Lampedusa am Hafen von Palermo eingetroffen. Darunter seien viele Mädchen, die nun ihre Hilfe benötigten. Hier im „Nuovo Montevergini“ hat die Nigerianerin mit vier weiteren Frauen, die ebenfalls aus Benin City stammen, eine Anlaufstelle für Prostituierte eingerichtet.
Ihr Verein heißt „Donne di Benin City“ – die Frauen aus Benin City. Osas, Sandra, Mercy, Doris und Mama Doris verbindet das gleiche Schicksal: Sie alle kamen vor gut zehn Jahren aus Nigeria nach Italien und arbeiteten auf dem Straßenstrich. Osas Egbon, die Präsidentin des Vereins, hat den Absprung dank einer italienischen Sozialarbeiterin geschafft: „Ich fing in Genua an, auf der Straße zu arbeiten. 2003 bin ich nach Palermo gekommen. Dort vermittelte mir Stefania einen Job als Kindermädchen in einer Familie und einen Wohnplatz. Das war meine Rettung!“
Osas Egbon hat eine Anlaufstelle für Mädchen errichtet, wo sie Beistand, Essen und Kleidung bekommen.
Gemeinsam mit den anderen will sie nun verhindern, dass noch mehr junge Mädchen dort landen, wo sie einst war. „Unsere einzige Chance, etwas zu verändern, ist es, den Teufelskreis zu durchbrechen. Das können wir nur erreichen, wenn wir uns um die Minderjährigen kümmern. Sie werden von den italienischen Behörden nach ihrer Ankunft in Italien in staatlichen Jugendheimen untergebracht. Viele Mädchen hauen allerdings von dort ab und begeben sich in die Hände ihrer sogenannten Mamma“, erklärt Egon. „Mamma“ oder „Madam“ nennen die Mädchen jene Frauen, die das Geld für ihre Reise zahlen, sie nach Europa holen und sie anschließend zur Prostitution zwingen.
Viele junge Nigerianerinnen träumen von Europa
Meist sind die Telefonnummern dieser Frauen der einzige Kontakt, den die Mädchen vor ihrer Abreise erhalten. Manche hätten keine Ahnung, was sie hier erwarte. Ihnen werde versprochen, in einem Restaurant oder einer Schneiderei zu arbeiten. Immer mehr wüssten jedoch, dass sie in Italien ihren Körper verkaufen sollen, erklärt Osas Egbon. Sie sagt: „Der Süden Nigerias ist bitterarm. Wir haben dort weder das Öl des Ostens noch die Landwirtschaft des Nordens. Es gibt keine Industrie oder Universitäten. Das einzige „Kapital“ sind die wunderschönen Mädchen. Sie träumen vom Leben in Europa und werden teilweise sogar von Verwandten oder Freunden der Familie zur Prostitution angeworben – vor allem dann, wenn ein Elternteil gestorben ist und das Geld nicht mehr für die ganze Familie ausreicht.“
Selbst Aufklärungskampagnen, die vom nigerianischen Staat finanziert werden, helfen kaum, den Menschenhandel zu unterbinden. Der psychologische Druck und die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft sind auch die Hauptgründe für das Verschwinden der Mädchen aus den italienischen Heimen. „Viele haben Angst; Angst ihre Familien zu enttäuschen, Angst, nicht die Schulden bei ihrer Mamma begleichen zu können, aber vor allem Angst vor dem Juju“, erklärt die 33-Jährige. „Juju“ sei Magie. Ein religiöser Zauber, der vor der Abreise in Nigeria durch ein Voodoo-Ritual heraufbeschworen werde: Bei vielen dieser Rituale entnimmt ein Priester einige Tropfen Blut oder Schamhaare der Mädchen, um sie damit an das Versprechen zu binden, ihrer Madam in Italien zu gehorchen. Wer sich nicht beugt, werde krank, verrückt oder könne sogar sterben.
Glaube an Magie ist in Westafrika fester Bestandteil gesellschaftlichen Handelns.
Die Mädchen vertrauen „Mamma” Osas Egbon
„Oft werden die Mädchen in Italien von ihrer Familie angerufen und aufgefordert, die Madam zu kontaktieren“, berichtet die Nigerianerin. „Ich spreche mit den Verwandten, mache ihnen klar, dass der Zauber niemanden umbringt – es sind die Lügen der Menschenhändler, die unsere Schwestern zu Sexsklavinnen machen.“ Seit mehr als einem Jahr gehört Osas Egbon zum Team eines Jugendheims in der Nähe von Palermo. Mit dem Geld, das sie dort verdient, kann sie ihre eigene Familie gerade so über die Runden bringen. Die Minderjährigen im Heim nennen sie liebevoll „Mamma“ und weigern sich oftmals, ohne sie mit Psychologen und Erziehern zu sprechen. 35 Mädchen konnte sie auf diese Weise im letzten Jahr davon abhalten, wegzulaufen.
„Ein kleiner Erfolg, der Hoffnung macht”, sagt Giuppa Cassarà, Psychiaterin und Spezialistin für Migrationstherapie am polytechnischen Klinikum Palermo. Der Glaube an Magie sei in Westafrika fester Bestandteil des gesellschaftlichen Handelns. Die Ärztin sieht in der therapeutischen Zusammenarbeit mit Frauen wie Osas einen wichtigen Fortschritt, um dem Menschenhandel die Stirn zu bieten. Die Erzieher fänden meistens keinen Zugang zu den Minderjährigen, weil ihnen das kulturelle Hintergrundwissen fehle.
„Die Afrikanerinnen gewinnen viel schneller das Vertrauen. Sie sprechen den Heimatdialekt, wissen, was Voodoo bedeutet und kennen das Trauma, das durch Vergewaltigungen und Erpressung entsteht“, gibt Cassarà zu Bedenken. Wichtig sei eine kontinuierliche Begleitung der Mädchen in den Heimen, um ihnen eine neue Perspektive zu geben. Dafür reiche es nicht aus, die Mediatorinnen nur zum Übersetzen zu Hilfe zu rufen. Um sie nachhaltig zu stärken, bedürfe es mehr. Oft mangele es jedoch an Fördergeldern, um die Arbeit von Vereinen wie „Donne di Benin City“ langfristig zu finanzieren.
Osas Egbon arbeitete selbst jahrelang als Prostituierte in Italien, heute kämpft sie mit ihrem Verein gegen Menschenhandel.
Am Ende wurde Joy durch ein deutsches Boot gerettet
Doch nicht nur die Arbeit mit den Minderjährigen ist für den Verein von Bedeutung. Mit der Anlaufstelle wollen Osas, Doris und Co. vor allem einen Ort der Zuflucht für die Frauen schaffen, die bereits auf dem Straßenstrich arbeiten und denen der Mut zum Ausstieg fehlt. So wie Joy, eine 20-jährige Nigerianerin, die im vierten Monat schwanger ist. Sie hatte in Turin von einer Frau gehört, die ihr helfen könne. Von dort nahm sie die Reise nach Palermo auf sich, um Osas Egbon zu treffen. Bei ihr fühlte sie sich in Sicherheit und berichtet von ihrer Geschichte.
Sie erzählte von ihrer Reise durch die Wüste, den mit Menschen vollgestopften Tiertransportern, den Vergewaltigungen in Tripoli, von dunklen Kellern übersät mit Exkrementen, dem missglückten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren und der Rettung durch ein deutsches Boot. Das alles habe sie ertragen – jedoch nicht für ein Leben auf dem Strich. Jetzt war Joy bereit, gegen ihre Peiniger auszusagen. Die Frauen des Vereins erklärten ihr die nächsten Schritte und begleiteten sie zur Polizei.
Wie Joy sind viele der Mädchen schwanger oder haben Kinder. Die Väter sind oftmals gleichaltrige Afrikaner, die im Auftrag der Madam auf die Mädchen „aufpassen“. Sie lernen sich in den sogenannten „Connection Houses“ kennen. Diese Wohngemeinschaften sind gleichzeitig eine Art Ersatzfamilie für die jungen Frauen. Dort wird der soziale Gehorsam gegenüber ihrer Madam genährt, weiß Rosaria Maida, stellvertretende Polizeidirektorin in Palermo und Leiterin des Kriminaldezernats für Minderjährige und sexuelle Straftaten. Das System hinter dem Menschenhandel sei nur schwer zu durchbrechen: „Wenn sie in Italien ankommen, haben sie zu niemanden mehr Vertrauen.“
Mit den Flüchtlingsströmen schleusen kriminelle Organisationen jedes Jahr Tausende von jungen Frauen nach Palermo, um sie dort in die Billig-Prostitution zu zwingen.
Schulden bis zu 50.000 Euro
Die Kommissarin arbeitet eng mit Vereinen wie „Donne di Benin City“ zusammen, um gegen die Drahtzieher der Prostitution zu ermitteln. „Ohne die Mithilfe der Frauen ist es fast unmöglich, die Aussagen der Mädchen aufzunehmen oder die Telefonate der Hintermänner abzuhören.“ Eine Madam kauft laut der Ermittlerin meist zwei oder drei Mädchen, die dann illegal bei ihr leben. Neben den Reisekosten für die Überfahrt nach Europa müssen die Frauen zusätzlich Geld für Miete und Essen bezahlen. „Die Schulden können sich am Ende auf bis zu 50.000 Euro belaufen“, sagt Maida. „Viele haben keine Vorstellung, wie lang es dauert, bis sie eine solche Summe auf dem Straßenstrich abgearbeitet haben.“ Dahinter stecke ein Schneeballsystem: Viele Madams seien zuvor selbst Prostituierte gewesen. Sobald sie sich freigekauft hätten, würden sie im Auftrag der Mafia neue Mädchen nach Europa holen.
Hinter dem Netzwerk aus „Connection Houses“ und Voodoo-Glaube steckt nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Palermo eine nigerianische Organisation namens „Black Axe“. Sie kontrolliert die Prostitution in weiten Teilen Italiens. Mit der Anklage von 17 Nigerianern bestätigte das Gericht in Palermo 2017 erstmals in der Geschichte eine ausländische Gruppierung als mafiöse Organisation. Die Hochburg der „Black Axe“ befindet sich im Viertel Ballarò. Einige hochgradige Mitglieder konnten hier nur dank der Zeugenaussagen einzelner Mädchen verhaftet werden. „Laut Gesetz steht den Opfern von Menschenhandel eine Aufenthaltsgenehmigung in Italien zu. Sie werden in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen und erhalten Papiere“, so Maida. Auch Joy wurde nach ihrer Aussage in eine sichere Unterkunft vermittelt.
Eine Alternative zur Prostitution
Sozialarbeiterin Osas Egbon plant währenddessen eine Nähmaschine und eine Küche für ihr Zentrum. Die Geschäftsidee: ein Catering mit afrikanischem „Social Food“. Den vielen Mädchen, die noch immer allein auf der Straße sind, wolle sie so eine Alternative zur Prostitution bieten. „Nur wenn wir ihnen eine Perspektive geben, die sie finanziell von den Repressionen der Madam befreit, haben wir eine Chance“, erklärt sie.
Künftig wollen sie ein Catering mit afrikanischem Essen aufbauen, um eine Alternative zur Prostitution zu bieten.
In der „Favorita“ fängt es derweil an zu regnen. Kein Grund für Teresa, nach Hause zu gehen. Ihre Arbeit fängt nun erst an. An manchen Tagen steht sie von morgens acht Uhr bis abends hier, dann gehe sie heim, esse etwas und komme zurück für die Nachtschicht: „Ich wäre nicht hier, wenn ich einen richtigen Job hätte.“ Doch die einzige Fabrik, die in ihrer Heimat wirklich zähle, befände sich hier, erzählt sie – und zeigt dabei zwischen ihre Beine.
Alle Artikelbilder: Helen Hecker
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