Foto: Unsplash | Greg Rakozy

Traut euch, jemand anderes zu sein – denn dafür ist es nie zu spät

Sich selbst zu verändern und das alte Ich loszulassen, ist nicht immer leicht. Kea vom Blog „thirtyplus“ erklärt uns, warum wir es dennoch immer wieder tun sollten.

 

Warum fällt es uns so schwer, Neues zu wagen?

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – ohja, natürlich ist dem so, aber warum machen wir uns dann nicht jeden Tag zu neuen Ufern auf, warum fällt es uns so schwer, ins Unbekannte aufzubrechen und etwas Neues zu wagen? 

Wir glauben bestimmte Dinge über uns selbst: „Ich kann nicht kochen.“ „Für eine Selbstständigkeit fehlt mir der Mut.“ „Niemand in unserer Familie studiert.“ „In meinem Alter findet man keinen Partner mehr.“ All diese Glaubenssätze über uns limitieren uns, sie halten uns klein. Warum haben wir sie dann und warum ist es so schwierig, sie zu überwinden? 

Ich glaube, das liegt daran, dass wir uns irgendwann einmal eine Identität zugelegt haben. Wir haben ein bestimmtes Bild von uns selbst im Kopf, das wir uns im Laufe des Lebens aneignen und von dem wir glauben, dass wir so sind. Die meisten dieser Überzeugungen sind wenig ermunternd, sie stecken unsere Grenzen ab und uns selbst in eine Schublade. Aber sie geben uns ein gewisses Maß an Sicherheit. 

Alte Überzeugungen loslassen

In dem Moment, in dem wir beginnen, das zu tun, von dem wir glaubten, wir könnten es nicht – in diesem Moment sagt das Ego in uns: Du hast dich also geirrt. Das, was du jahrelang über dich geglaubt hast, ist gar nicht wahr. Und einerseits ist das natürlich euphorisierend, beglückend, berauschend – aber auf der anderen Seite tut es weh. Denn es bedeutet, dass wir erkennen müssen, dass wir uns jahrelang getäuscht haben. Und sich zu täuschen, das tut weh. Auch über sich selbst. Wir tun eine ganze Menge, um diese Ent-Täuschung zu vermeiden, auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, dass wir uns kleiner machen, als wir eigentlich sind. 

Ich glaube, von genau diesem Mechanismus kommt es auch, dass wir über alte Menschen sagen: Das ändert er oder sie nicht mehr. Denn je älter wir werden, umso länger wird die Zeitspanne unserer Täuschung. Umso mehr Jahre haben wir eine Wahrheit geglaubt, die gar nicht wahr ist. Und umso mehr schmerzt es, die alte Überzeugung loszulassen. 

Alles, was uns bleibt, ist Jetzt

Unter uns gesagt: Wirklich getäuscht haben wir uns nicht. Denn ich glaube nicht an das Konzept von Reue. Ich glaube nicht daran, dass wir uns schon vor 25 Jahren hätten selbstständig machen können – wenn wir es hätten tun können, hätten wir es getan. Aus irgendeinem Grund war es nicht der richtige Zeitpunkt, die richtige Umgebung, der richtige Moment. Verbittert zu sein oder zu bereuen, Dinge versäumt zu haben, verändert die Vergangenheit nicht. 

Alles, was uns bleibt, ist aber der jetzige Moment. JETZT sind wir hier. Und JETZT können wir uns selbst anschauen und uns fragen: Stimmt dieser Gedanke über mich wirklich? 

Dann sollten wir furchtlos sein, auch wenn es nur eine winzig kleine Stimme in uns ist, die uns an dem, was wir über uns denken, zweifeln lässt. Dann sollten wir uns nicht scheuen, hinzuschauen und zu untersuchen, ob die Zeit gekommen ist, unseren Gedanken über uns aufzugeben und ein neues Ich zu entdecken.

Traut euch aus eurer Höhle raus 

Und das darf weh tun, das ist in Ordnung! Überall schreien uns Selbstoptimierungs-Aufforderungen entgegen: Sei sportlicher, erfolgreicher, erotischer. Als müssten wir immer direkt heillos begeistert sein, wenn wir uns verändern.

Aber Veränderung tut – neben all dem Schwung, den sie bringt – auch weh. Die Veränderung ist ein Abschied, ein Abschied von unserem alten, vertrauten Ich. 

Egal, wie sehr es uns eingeschränkt hat, es war etwas Vertrautes, es war unsere wohlbekannte Höhle, in der wir hausten und wenn wir uns dort raus wagen, ist uns kalt und wir fühlen uns nackt und schutzlos. Wenn wir uns aus unserer Erstarrung lösen, das Eis um uns herum schmilzt, dann werden wir wieder weich, wie das Wasser. Und diesen Moment der Verletzlichkeit, in dem das Bild, das wir von uns selbst haben, ins Wanken gerät, dürfen wir nicht scheuen. Für meinen Geschmack darf er in der Gesellschaft noch viel geachteter werden, viel mehr thematisiert, viel geschätzter. 

In der Pubertät haben Teenager Wachstumsschmerzen, sie werden zu einem neuen, anderen Ich, einem erwachsenen Menschen. Aber später verlangen wir von uns, dass wir uns freudig neuen Herausforderungen stellen, immer noch mehr wollen, uns andauernd verändern – innere Wachstumsschmerzen sind dabei nicht besonders „en vogue“. Sie haben in unserer Gesellschaft wenig Raum. 

Das neue Ich erobern 

Wenn wir die Gedanken, die wir über uns selbst geglaubt haben, in Frage stellen, weichen unsere Grenzen auf, wir müssen dieses neue Ich erst langsam erobern. Nehmt euch Zeit dafür, lasst auch den Schmerz zu! Und genießt danach den Zauber des Neuen, den Wind, der nach Abenteuer riecht, das aufregende Risiko, euch neu zu entfalten. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich immer wieder neu erfinden kann – nutzt diese Möglichkeit! Nichts von dem, was ihr gestern über euch geglaubt hat, muss heute noch stimmen. Seid mutig genug, es zu hinterfragen, engt euch nicht selbst ein.

Ja, kontinuierliche Menschen sind bequem für ihr Umfeld, sie sind berechenbar, ihre Reaktionen planbar. Aber sie sind nicht mehr frei, sie leben einen Entwurf von sich selbst, den sie irgendwann einmal festgelegt haben. Aber für wen? Und ist dieses Ich noch stimmig, fühlt es sich noch passend an?

Wenn nicht, traut euch, anders zu sein, als ihr euch bisher gesehen habt. Ich bin fest der Überzeugung, dass man in jedem Alter noch ein anderer Mensch sein kann, an jedem neuen Tag. 

Und deshalb liebe ich 90-jährige Fahrschülerinnen oder 75-jährige frisch gebackene Eheleute – weil sie sich trauen, noch einmal ein anderes Ich zu werden.

Ich liebe Menschen, die ihre Komfortzone verlassen. Die nicht von gestern auf heute oder gar morgen schließen, sondern, die sich dem Fluss des Lebens überlassen. Wohlwissend, dass in der Freiheit immer auch ein bisschen Wehmut steckt, die wissen, dass sie etwas Altes zurücklassen, aber dafür etwas Neues gewinnen. 

Der Artikel erschien zuerst auf Keas Blog thirtyplus

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