Das Homeschooling während der Corona-Krise hat mit digitaler Bildung nichts zu tun. Und das zeigt, warum wir eine digitale Transformation des Schulsystems brauchen. Ein Kommentar
Während der Schulschließungen sollte ich spontan digital unterrichten und konnte jeden Tag in den Medien nachlesen, wie „die Lehrer*innen das überhaupt nicht hinbekommen“. Alle meinten zu wissen, wie viel einfacher und besser die Schulen das organisieren könnten. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal über die Gründung einer Bundeszentrale für digitale Bildung nachdachte.
Das, was während der Schulschließungen zu Hause passierte, hat mit digitaler Bildung nämlich nicht viel zu tun, es war eher der Versuch, die Lehr-Lern-Prozesse aus der Schule möglichst originalgetreu nach Hause zu übertragen.
Es wurde klar: Das Nachdenken über schulische digitale Bildung braucht neue Impulse. Und wir stellen aus meiner Sicht bisher häufig nicht die richtigen Fragen. Es geht nicht nur darum, was und wie gelehrt und gelernt wird, sondern viel mehr darum, welche Arbeitsprozesse, Strukturen und Datenverarbeitungsprozesse dahinterstehen und wie diese verbessert werden können. Schulen sind schon immer in höchstem Maße datengetriebene Institutionen – und bisher entsteht ein Großteil der Daten in Papierform, gespeichert in Klassenbüchern, Heftern, Ordnern und Listen.
Zettelwirtschaft statt Fortschritt
Es werden Daten in den Unterricht hereingetragen – als Lehrmaterial in Büchern, auf Arbeitsblättern und Tafelnotizen; es entstehen Datensätze im Unterricht durch Einträge in Klassenbüchern, durch Notizen und bearbeitete Aufgaben in Schüler*innenheftern; und es erfolgt eine Weiterbearbeitung dieser Daten, wenn die Lehrkraft diese korrigiert, bewertet und die Noten dann in Listen einträgt, um später Zeugnisnoten daraus zu erstellen.
Dabei erstellen mehr als 11 Millionen Schüler*innen und mehr als 890.000 Lehrende in Deutschland eine riesige Menge an analogen Datensätzen, jeden Tag – selbst wenn nur jede*r einen Datensatz pro Tag erstellen würde, hätten die 32.000 allgemeinbindenden und etwa 9.000 beruflichen Schulen in Deutschland mehr als 60 Millionen Datensätze jede Woche zu verarbeiten, in Wirklichkeit sind es viel mehr.
Bisher ist der Bildungsprozess weitgehend eine Zettelwirtschaft – viele Daten sind nur in Papierform verfügbar, sie werden auf Papier dokumentiert und die Weitergabe von Daten ist auch nur teilweise digital, z.B. wenn manche Notenlisten digital gespeichert werden. Da Lehrkräfte aber bisher weitgehend keine Dienstgeräte zur Verfügung haben, können diese Daten nur auf Privatgeräten verarbeitet oder eben weiter in Papierform in Ordnern verwaltet werden.
Digitalisierung, aber wie?
Wenn man diese ganzen bestehenden Bildungsprozesse nun digitalisieren will, geht es nicht nur darum, wie einzelne Unterrichtsstunden in welchem datenschutzkonformen Videokonferenztool abgehalten werden können – es geht darum, die bisher analogen Lehr-Lern-Prozesse sinnvoll in die digitale Welt zu übersetzen und die riesige Menge an Daten sinnvoll zu verwalten, zu strukturieren, und sicher und gerecht für die Lernenden zu gestalten.
Das Schulsystem muss einmal komplett neu gedacht und konzipiert werden – und damit es an den über 32.000 Schulen in Deutschland keine Einzellösungen gibt, brauchen die Schulen eine zentrale Anlaufsstelle, die die digitale Bildung in Deutschland neu denkt und praktische Lösungen zur Verfügung stellt.
Die Corona-Pandemie hat eins gezeigt: die Schulen in Deutschland sind auf digitales Lernen und Lehren nicht ausreichend vorbereitet. Den aktuellen Stand der Dinge aus Sicht des spontanen Lockdowns im März zu beurteilen, ist dabei aber nicht fair – denn auch die meisten anderen, nicht digital-arbeitenden Betriebe hätten Schwierigkeiten, ihre Arbeitsprozesse ohne Hilfestellung von einem Tag auf den anderen umzustellen.
Die Schulen werden mit den Herausforderungen alleingelassen
Die Schulen sollten daher im Verlauf der Pandemie selbst Konzepte entwickeln, die ein digitales Lernen möglich machen und auch die sinnvolle Durchführung von Hybridunterricht. Dabei mangelt es bei weitem nicht an Konzepten, denn schriftlich verfasste Konzepte gibt es mittlerweile mehr als genug – es braucht vielmehr eine komplette digitale Transformation des Schulsystems, um es über die Pandemie hinaus nachhaltig zu gestalten.
„Es braucht eine komplette digitale Transformation des Schulsystems.“
Sue Reindke
Es braucht digitalen Schulstoff, digitale Infrastrukturen, datenschutzkonforme Tools und Plattformen, ausreichend Geräte für alle Lehrenden und Lernenden, Breitband-Internet, digitale Arbeitsprozesse, Informations- und Datenmanagementlösungen und neue Mitarbeiter*innen in den Schulen, die einen Teil der neuen Arbeitsprozesse entwickeln und durchführen. Wir brauchen: das alles. Davon gibt es bisher: fast nichts. Und das ist neun Monate nach dem ersten Lockdown eine besorgniserregende Bestandsaufnahme. Dabei sollten wir nicht den Status Quo der Bildung digitalisieren, sondern das System im Zuge der Digitalisierung an einigen Stellen neu denken – zukunftsfähiger, innovativer und gerechter als vorher.
Damit die über 32.000 allgemeinbildenden Schulen nicht mit der Entwicklung komplett allein gelassen werden, brauchen wir eine Bundeszentrale für Digitale Bildung, die konkret umsetzbare Konzepte und Lösungsvorschläge für die Schulen entwickelt und anbietet. Dabei bleibt Bildung weiterhin Ländersache – die Bundeszentrale für Digitale Bildung arbeitet als eine Mischung aus einer Denkfabrik, einer Organisationsberatung und einer internen Dienstleistungsagentur, die die Schulen angepasst an die Vorgaben der jeweiligen Bundesländer unterstützt.
Es geht bei der Entwicklung von digitaler Bildung nicht darum, zwei Wochen Quarantäne für einzelne Schüler*innen oder die Zeit bis zur Impfung zu überbrücken – es ist vielmehr nötig, jetzt ein zukunftsfähiges Bildungssystem zu entwickeln, das die Schüler*innen auf die Welt von morgen vorbereitet und dabei gleichzeitig möglichst inklusiv und differenziert auf die Lernbedürfnisse der Einzelnen eingeht.
Folgende Bereiche und Aufgaben sollte die Bundeszentrale für Digitale Bildung abdecken:
Digitale Inhalte und sichere digitale Tools
Wenn Bildung digital werden soll, braucht es vor allem digitale Inhalte – die für alle Lehrenden und Lernenden frei verfügbar und zugänglich sind, mit den entsprechenden Rechten, die eine digitale Nutzung ermöglichen.
Das ist eine der größten Hürden auf dem Weg zur digitalen Bildung – in den Rahmenlehrplänen der Länder werden Kompetenzen und Inhalte beschrieben, die die Schüler*innen lernen sollen. Darüber hinaus entwickeln viele Schulen interne Curricula, die die Themen und z.B. Lektüren festlegen; für das Zentralabitur sind diese wiederum auf Länderebene festgelegt.
Doch wie kommen nun die Inhalte ins Klassenzimmer? Neben den an der Schule verwendeten Schulbüchern, nutzen manche Bildungsstätten bestimmte digitale Angebote von Verlagen. Doch es ist üblich, dass die meisten Lehrkräfte sich im Laufe der Zeit eine eigene Sammlung an Lehrbüchern und Arbeitsheften anschaffen, aus denen heraus sie ihren Unterricht gestalten, und Arbeitsblätter sowie Lehrinhalte für die Klassen kopieren.
Der komplett an den Schulen benötigte Unterrichtsstoff steht nirgends für alle digital bereit – im Gegenteil, die Lehrmittel stehen dezentral in den einzelnen Regalen der Lehrkräfte. Diese Lehrinhalte aus gedruckten Büchern können und dürfen nicht so einfach digitalisiert werden – und die einzelnen Schulen sind weder finanziell noch personell in der Lage, die komplett benötigten digitalen Lehrmaterialien selbst zu erstellen oder stetig anzuschaffen.
Eine gute digitale Bildung besteht aus hochwertigem Content – und gerecht wird sie dadurch, dass alle gleichermaßen Zugang dazu haben. Die Lehrenden brauchen also eine große, zentrale digitale Lehr- und Lern-Bibliothek, die allen Schulen in Deutschland hochwertige Bilder, Texte, Lehrvideos und Infografiken bereitstellt. Diese Inhalte sollten modular verwendbar sein, so dass es zwar fertige Unterrichtsmodule gibt, die den Lehrenden zur Verfügung stehen, es aber auch jederzeit möglich ist, die einzelnen Bestandteile anderweitig zusammenzustellen und zu nutzen.
Die Schulen brauchen digitale, datenschutzkonforme Tools und Plattformen, deren Nutzung für die Lehrenden und Lernenden sicher und von offizieller Seite genehmigt ist. Wenn die bestehenden Tools nicht ausreichen, müssen neue Tools entwickelt werden.
Wenn man die Bildung nachhaltig digitalisieren will und an dieser Stellschraube im Schulsystem dreht, hat das aber auch nachhaltige Auswirkungen auf alle anderen Bereiche des Systems, die damit zusammenhängen – mit der Entwicklung von Lerninhalten, der Anschaffung von Smartboards und Tablets ist es längst nicht getan.
Work 2.0 – digitale Arbeitsprozesse und neue Rollen
Neben den dringend benötigten Inhalten brauchen die Schulen auf der Organisationsebene sowohl neue digitale Arbeitsprozesse, eine Neu- und Umverteilung der bisherigen Arbeitsprozesse als auch völlig neue Rollen, die die Arbeit in den Schulen ergänzen. An den meisten Schulen gibt es neben den Lehrkräften nur ein bis zwei Personen für administrative Aufgaben – eine Person im Sekretariat, eventuell eine weitere für Finanzen, Verwaltung und Sachbearbeitung.
Der Rest der Arbeit wird komplett von den Lehrkräften getragen – alle machen alles, und von allem sehr viel. Jede einzelne Lehrkraft soll Unterricht vorbereiten, durchführen, Prüfungen und Tests vorbereiten und korrigieren, Eltern- und Kolleg*innengespräche führen, pädagogische Hilfestellungen und Inklusionsangebote für Schüler*innen mitentwickeln, aber nebenher auch noch Klassenfahrten, Ausflüge, Projekttage organisieren und durchführen und die Schulentwicklung in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften und Gremien vorantreiben.
Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Aufgaben und Anforderungen dazu, aber es wurden in den Schulen keine weiteren Stellen geschaffen, so dass es meist auch an kleineren Schulen keine Stelle für IT-Verwaltung gibt, sondern eine einzelne engagierte Lehrkraft das nebenher macht und dafür 1-2 Unterrichtsstunden weniger erteilt.
Eine zukunftsweisende digitale Bildung in der Schule mit ausreichend Geräten und einer funktionalen Infrastruktur braucht professionelle Unterstützung im Bereich IT, einen Helpdesk für Nutzer*innen, und einen neu aufgebauten Bereich des Informations- und Datenmanagements sowie Datensicherheit.
Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte
Die digitale Transformation des Schulsystems funktioniert nur dann, wenn Schulen und Lehrkräfte mit auf die Reise genommen werden. Eine verstärkte Lehrkräfteprofessionalisierung ist unabdingbar, damit die digitale Transformation des Schulsystems nicht als Belastung für die Lehrenden wirkt, sondern als sinnvolle Weiterentwicklung. Die Neugestaltung der Lehr-Lern-Prozesse und der Arbeitsprozesse dahinter sollten eine Entlastung für die Lehrenden sein – und ihnen ermöglichen, sich auf die eigentliche pädagogische Arbeit mit den Schüler*innen zu konzentrieren.
Dafür sind sowohl zahlreiche professionelle Weiterbildungen der vorhandenen Lehrkräfte notwendig, als auch eine angepasste Ausbildung der Lehrenden an den Universitäten und Seminarstandorten.
Digitale Infrastruktur, Datenmanagement und Datenschutz
Ein großer Bestandteil der digitalen Transformation des Schulsystems wird die Entwicklung von lebensnahen und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten in den Bereichen Infrastruktur, Datenmanagement und Datensicherheit sein. Dabei geht es unter anderem darum, wie, wo und wie lange welche Daten gespeichert werden sollen; wie sie verwaltet und geschützt werden, und ob es zentrale Angebote wie Schulclouds gibt oder die Schulen eigene Server- und Datenmanagementlösungen entwickeln.
Die Zukunft der digitalen Bildung in Deutschland wird über die Zukunft des gesamten Landes entscheiden. Wir können uns nicht erlauben, weiter abzuwarten und das Beste zu hoffen. Und wir können die Schulen nicht länger sich selbst überlassen. Jetzt ist die Zeit gekommen, eine Bundeszentrale für Digitale Bildung zu gründen und die digitale Transformation des Schulsystems professionell und strategisch anzugehen – nachhaltig, ressourcenschonend, innovativ.