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Weshalb ich meine Haare so kurz trage

Spoiler: Weil es mir gefällt. Aber es geht um mehr — um viel mehr.

 

Ich habe heute meine Haare geschnitten. Oder besser gesagt: mit dem Barttrimmer meines Freundes abrasiert. Das ist nichts Besonderes, ich mache das seit anderthalb Jahren alle paar Wochen.

Erklären kann ich meine Ultrakurzhaarfrisur nicht, ausser dass es sich einfach am natürlichsten für mich anfühlt. Eigentlich bin ich ein Mensch, der sich recht einfach dreinschwatzen und verunsichern lässt, aber bezüglich der Haare bin ich auf wundersame Weise meistens immun auf die Gesellschaft.

Manchmal werde ich gefragt, ob meine Frisur ein Statement ist. Überhaupt nicht, war stets meine wahrheitsgemässe Antwort. Das war zumindest der Fall bis zum vorletzten Wochenende.

Ich befinde mich seit einigen Wochen in Buenos Aires. Meine Eltern, beide Argentinier und seit langer Zeit wohnhaft in Liechtenstein, waren zu Besuch. Schon seit Tagen erzählten sie von diesem Gaucho-Markt in Mataderos, ausserhalb der Stadt. Wir fuhren hin, schlenderten den Ständen entlang, sahen den Menschen beim Folkore tanzen zu, assen in einem hundertjährigen Restaurant zu Mittag.

Irgendwo zwischen den Ständen kommt eine ältere Frau mit mittellangen Haaren auf mich zu und stellt sich mir in den Weg. Sie fragt, wo ich meine Haare schneiden lasse. Die Frage überfordert mich ein wenig, ich hatte immer gedacht, dass man mir das Selbstgeschnittene ansieht. Ich erkläre ihr: Barttrimmer und so, eben das, was ich hier gerade schon geschrieben habe.

Sie ist erfreut und erklärt: Ich muss mir eben auch die Haare schneiden, aber nicht freiwillig, am Montag beginnt die Chemo. Beim letzten Mal sind mir die Haare zwar nicht ausgefallen, aber ich möchte auch nicht dabei zusehen, wenn sie es tun.

Und auf einmal wurde mir bewusst: Diese raspelkurzen Haare, sie sind ein Statement.

Mir passiert es natürlich ständig, gerade hier in Lateinamerika, dass Kinder mich fragen, warum ich so kurze Haare trage. Dann sage ich immer: Aus demselben Grund wie mein Freund lange Haare hat.

In einem Club in Zürich wollte ich mal nicht mit jemandem tanzen. Danach hörte ich, wie er zu seinem Kollegen sagte: Die ist sicher lesbisch.

Ein Besoffener hat mich vor Kurzem gefragt, warum ich mich wie ein Mann gebe, weil ich zu den kurzen Haaren eine zugeknöpfte Bluse trug.

Der Vater meines Freundes hat beim Besuch im letzten Jahr gesagt: Das ist jetzt schon praktisch für die Reise, aber danach lässt du deine Haare wieder wachsen, gell?

Eine Freundin erzählte mir kürzlich, dass sie mal einen Sidecut hatte und von irgendjemandem gefragt wurde, ob sie Krebs habe.

Im Literaturclub wurde gerade über ein Buch einer Schweizerin diskutiert, die Brustkrebs hatte. Darin schreibt die Autorin, dass sie mit Perücke absurd viele Komplimente erhalten habe und sich fragen musste, was sie mit ihren echten Haaren vorher falsch gemacht hatte.

Meine geschorenen Haare sind ein Statement, ob ich will oder nicht. Eines für Normalität auf dem Kopf. Dafür, dass jeder Mensch, aus welchem Grund auch immer, die Frisur tragen soll, die er oder sie tragen will oder muss. Ohne, dass rundherum gleich alle finden: Das ist aber nicht gerade weiblich, oder: Die hat bestimmt Krebs. Oder dass man alleine schon Angst davor hat, dass die Leute das denken könnten, weil es heute noch immer nicht normal ist, als Frau richtig kurzes Haar zu tragen.

So viele Frauen schreiben mir regelmässig, weil sie oft schon seit Jahren ihre Haare abschneiden wollen und sich einfach nicht trauen. Was, wenn es nicht gut aussieht? Muss ich mich dann immer schminken oder grosse Ohrringe tragen, um nicht zu männlich auszusehen?

Ich frage mich: Was, wenn Frauen mit besonders kurzen und besonders langen und Männer mit besonders kurzen und besonders langen Haaren normal wären?

Aber dafür brauchen wir mehr Männer mit richtig langen Haaren und Frauen mit richtig kurzen Haaren. Und wir müssen aufhören, den Jungs Kurzhaar- und den Mädchen Langhaarfrisuren zu verpassen. Lasst sie doch tragen, was sie wollen. Mich hat man als Kind auch immer als Jungen identifiziert und habe keinen Schaden davongetragen. Oder: Vielleicht ist es mir heute gerade deswegen egal, wie ich wirke.

Die Haare sind natürlich eine Metapher. Sie sind nur ein Glied einer langen Kette von Geschlechtsidentitäten oder -nichtidentitäten. Es könnte genauso heissen: Röcke, Anzüge, Make-up, Glitzer, Brüste, Penis. Aber die Reaktion auf die Haare sind eben das, was ich am eigenen Schopf zu spüren bekomme.

Nur fünf Minuten später begegnete ich am Markt einer weiteren Frau: bestimmt 1.80 Meter gross, in Tango-Highheels, der Blick einer Löwenmutter — und schneeweisse Haare, keinen Zentimeter lang. Solche Frauen, dachte ich, während ich ihr lange nachschaute, will ich viel öfter auf der Strasse sehen.

Dann wäre dieser Text hier das, was er ohnehin sein sollte: hinfällig.

PS: Diesen Text habe ich im Februar 2019 geschrieben. Jetzt ist April und ich sitze in London. Hier wurde ich noch nicht einmal komisch angeguckt. Im Gegenteil: Ich erhalte viele Komplimente für meine Frisur. Geht doch! Me gusta.

PPS: Der Text erschien ausserdem zuerst im Journal Luz.  

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