Der Kapitalismus hat Macht über uns. Er bestimmt nicht nur, wie wir arbeiten – sondern auch, wie wir den Rest unserer Zeit gestalten.
Macht uns der Kapitalismus kaputt?
„Der Kapitalismus ist ein in jahrhundertelangem Arbeitskampf mühsam gefesseltes Monster, das Menschen frisst und Gold scheißt“, sagt das Känguru in Marc-Uwe Klings Buch Opportunismus & Repression. Es ist nur eine der unzähligen abwertenden Definitionen des Kapitalismus. Wertfreier ginge es so: Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das auf Profit ausgerichtet ist, nicht auf menschliche Bedürfnisse – das Wort Kapital meint Geld, Unternehmen, Produktionsstätten.
Glaubt man Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen, macht uns der westliche Kapitalismus wahlweise depressiv, narzisstisch oder asozial. Es gibt auch andere Stimmen, die den Kapitalismus nicht kritisieren. Was aber unbestritten ist: Der Kapitalismus hat enorme Macht über uns. Er ist als Gesellschaftsordnung zu verstehen, die unser Denken und Handeln lenkt, von Geburt an.
Und so legt dieses System uns auch Ordnungen, Strukturen, Zwänge auf, die unser Leben bestimmen. Hier kommen zehn von ihnen:
1. Arbeit gegen Geld
Um entlohnt zu werden, müssen wir im Kapitalismus arbeiten. Die heutige Lohnarbeit auf vertraglicher Grundlage wurde in Deutschland ab den 1860er-Jahren zum Massenphänomen. Ab da wurden Arbeitsbeziehungen kapitalistisch, an Erfolg geknüpft, Großunternehmen gegründet, Arbeitnehmer*innen hatten sich unterzuordnen – der Auftakt für unsere heutige Lohnarbeit.
Und noch etwas begann, wie die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) schreibt: „Es gab Gewinner und Verlierer, die Erträge wurden sehr ungleich verteilt, Fortschritts- und Abstiegserfahrungen mischten sich. All dies trug bei vielen zur Unpopularität des neuen Wirtschaftssystems bei, besonders in den großen, immer wiederkehrenden Krisen wie etwa 1873 (und erst recht später, beispielsweise 1929 und 2008). Mit der Industrialisierung wurde der Kapitalismus zum Industriekapitalismus und damit zur massenhaft wirkenden Macht.“
Im Zentrum unseres Lebens steht die Lohnarbeit. Wer nicht arbeitet und damit Geld verdient, landet schnell im sozialen Abseits. Arbeit ist mittlerweile nicht mehr nur Mittel um Geld zu verdienen: sie wird zu einem Teil unserer Persönlichkeit, sie stiftet Identität. In einem Großteil der Gespräche, die wir im Alltag führen, ist sie Thema.
Unsere Karriere bestimmt, wie wir von anderen wahrgenommen werden: Sind wir erfolgreich im Arbeitsleben? Oder weniger? Viel mehr als persönliche Einstellungen und Werte gilt unser Karriereweg als Indikator für unsere menschliche Qualität. Im Kapitalismus sind wir, was wir arbeiten.
3. Wir arbeiten komfortabel und gestresst
Noch nie war das Arbeiten komfortabler als heute, dem technologischen Fortschritt sei Dank. Und doch klagen über 40 Prozent der Arbeitnehmer*innen über steigenden Druck und Stress.
Das kommt nicht von ungefähr: Die Wirtschaft soll unaufhörlich wachsen, sie ist eine Grundsäule des Kapitalismus. Und so gibt es immer mehr Aufgaben, sie sind komplexer, greifen stärker ineinander, als je zuvor. Wir müssen schneller denken und schalten. Wir sind permanent erreichbar, nicht nur körperlich, sondern über unzählige Kanäle – und damit auch stärker ablenkbar. Das führt zu einem allgegenwärtigen Gefühl der Gehetztheit. Aber wir sind Opfer und Täter*innen zugleich: Wir lassen uns ablenken und von der Arbeit durchs Leben treiben. Nicht selten laden wir selbst uns mehr auf oder arbeiten nach der offiziellen Arbeitszeit weiter, indem wir Mails lesen, Nachrichten beantworten – weil wir denken, wir müssten das tun.
Doch nicht alle Menschen sind für diese Geschwindigkeit geschaffen. Die Folge sind Krankheiten wie Depressionen oder Burnout. Was zu einem weiteren Problem führt: Wer schwer krank wird, kann nicht mehr arbeiten.
4. Effiziente Arbeit = effiziente Freizeit
Das Konzept der Freizeit in ihrer heutigen Definition ist Folge des Kapitalismus, wie der allgegenwärtig empfundene Stress, analysierte die Süddeutsche Zeitung für einen umfangreichen Beitrag. Die Fünf-Tage-Woche setzte sich durch und gilt heute als die Regel, genau wie die 40-Stunden-Woche mit Anwesenheitspflicht im Unternehmen. Die meisten erwerbstätigen Menschen in Deutschland haben also weniger Freizeit als Arbeitszeit. Das hat erhebliche Auswirkungen auf unser Verhalten in dieser Zeit.
Wir wollen auch in unserer freien Zeit alles, am besten gleichzeitig: Während der Pause im Theater über eine App das Sportraining am nächsten Tag buchen, auf dem Hinweg zum Kneipenbesuch mit Freund*innen in der S-Bahn mit den Eltern telefonieren, um über neue Netflix-Serien zu diskutieren. Dabei fühlen wir uns zunehmend gestresst. Unser Freizeitverhalten wird gehetzter, der Effizienzgedanke der Arbeitswelt ist übergeschwappt in die Freizeit. Der Autor Dirk Kurbjuweit, der selbst Studien zum Thema durchführte, schreibt in seinem Buch Unser effizientes Leben, die Nervosität der Börse hätte Einzug in unser Privatleben gehalten.
5. Wir haben das große Nichts verloren
Auch das Überangebot an Freizeitaktivitäten ist vom Kapitalismus beeinflusst. Die Unterhaltungs- und Freizeitbranche ist ein Riesengeschäft geworden. Das führt zu einem Phänomen: Wir haben zwar immer mehr Möglichkeiten, aber nicht mehr Zeit.
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von einer Art sozialer Verdichtung als Resultat: Weil alles gleichzeitig stattfinde, seien wir nirgends wirklich. Verloren in der Freizeit gehe die freie Zeit, in der nichts geplant sei und Unerwartetes passiere. Spontane Treffen und das große Nichts eines ungeplanten Tages gingen verloren.
6. Mehr Wettbewerb, mehr Ego
Wir stecken in permanenten Wettbewerbssituationen mit anderen Menschen. Das beginnt auf dem Arbeitsmarkt, bei dem wir uns mit unseren Bewerbungen selbst verkaufen müssen. Es geht weiter mit der Suche nach Wohnraum, bei der immer mehr der Arbeitsplatz und der Kontostand entscheiden, wer eine Wohnung bekommt oder einen Kredit für ein Haus aufnehmen kann. „Immer wird uns beigebracht, es sei wertvoll, andere Leute zu schlagen. Das beginnt in der Schule, wo man als gut gilt, wenn man bessere Noten erzielt als andere“, sagt Peter Thiel, PayPal-Gründer.
Das ist nicht nur Nährboden für Konkurrenzdruck, sondern auch für Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und Ausgrenzungen aller Art, denn: Wir wollen bewahren, was wir erreicht haben und was uns Vorteile bringt. Nicht wenige meinen, der Kapitalismus ziehe Egozentriker*innen heran.
7. Mehr Selbstoptimierung, mehr Anpassung
Der Konkurrenzdruck aus der Arbeitswelt fand Einzug in unser Privatleben. Sei der*die Schönste, dann erreichst du alles – hol dir dabei Hilfe von der Schönheitsindustrie. Sei der*die Entspannteste, dann machst du alles richtig – wenn du es nicht schaffst, kauf dir Selbsthilfebücher über Meditation.
Es gibt einen Selbstoptimierungsboom, befeuert durch Industrien – und Social Media. Unsere Leben sind heute gläserner, als noch vor einigen Jahrzehnten, wir zeigen unsere Leben auf Instagram und Facebook. Doch nicht nur Verwandte und Freund*innen können unsere Spur im Netz nachverfolgen, sondern auch Fremde und Arbeitgeber*innen. Und weil wir das wissen, gilt auch in unseren öffentlichen Onlineauftritten das Prinzip: Verhalte dich angepasst, dem common senseentsprechend – und so, dass gegenwärtige oder potenzielle Arbeitgeber*innen nicht verschreckt werden.
8. Geld als Bewertungsmaßstab
Das System Geld gegen Leistung hat seinen Ursprung im Mittelalter. Das Ziel war eine einfachere Zahlungsmethode, als Güter gegen Güter zu tauschen. Wir haben das System des Finanzwesens angenommen und leben es heute weitgehend unwidersprochen. Andere Ideen haben keinen Raum oder sind nur auf den ersten Blick nicht kapitalistisch. Auch das System der shared economy, mit Projekten wie Mitfahrportalen oder Fahrradsharing, funktioniert nach kapitalistischen Maßstäben – teilhaben kann nur, wer das nötige Geld hat.
Wir bemessen den Wert von Dingen und Dienstleistungen in Geld. In nahezu allen Geschäften, die wir tätigen, ist die erste und wichtigste Frage: Was kostet das? Dabei hat der Markt eine hohe Gewalt über unser Denken. Er bestimmt nämlich, welchen Geldwert welches Gut besitzt. Dabei gilt in unseren Köpfen oft die Devise: Wenn es teuer ist, muss die Qualität gut sein.
Dass das nicht der Realität entspricht, beweisen nicht nur Tests aus der Lebensmittelbranche, sondern auch ein Blick in den Technikbereich. Das teuerste Smartphone ist nicht zwangsläufig das beste, es wurde womöglich nur besser vermarktet. Das teurere Auto ist nicht zwangsläufig sicherer oder hochwertiger, es genießt einfach nur den Ruf eines hochwertigen Statussymbols. Außerdem entwickelt sich ein Gedanke: Besitz macht glücklich.
9. Machtgefälle bestimmen unseren (Arbeits-)Alltag
Im Großteil aller Unternehmen gibt es Hierarchien – in der Regel beginnt man unten und muss sich hocharbeiten. In der Wirtschaft bedeutet das, dass diese Menschen, Manager*innen, Chef*innen, Macht über die haben, die unter ihnen arbeiten. Körperlich – sie bestimmen, wo wir wann arbeiten sollen. Emotional – sie können uns das Gefühl geben, wir seien viel wert, oder umgekehrt, wir seien nichts wert. So entstehen im Kapitalismus Machtverhältnisse, gefühlte Gewinner*innen und Verlierer*innen.
Diese Machtgefälle gibt es nicht nur im Arbeitsleben. Auch die elterliche Erziehung ist vom kapitalistischen Leistungsdruck bestimmt. So beginnt oft schon im Kindesalter eine Sensibilisierung: Du musst etwas leisten, gute Noten schreiben, damit du eine gute Arbeit bekommst, damit du genug Geld hast, damit es dir gut geht und du keine Probleme hast. Nicht selten erziehen Eltern nach dem Prinzip: „Leiste, dann bekommst du Liebe.“.
10. Angst vor sozialem Abstieg durch Arbeitslosigkeit
Ohne Lohnarbeit verdienen wir nicht das Geld, das wir für unser Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft brauchen. Essen, Wohnen, Kultur, ja sogar die Qualität der Bildung, gesundheitliche Vorsorge und Versicherungen sind an Geld geknüpft. Mit der Höhe unseres Einkommens steigen proportional unsere Möglichkeiten der Teilhabe und der Konsumfähigkeit.
Gleichzeitig steigt die Angst vor dem sozialen Abseits. Viele Menschen haben große Angst vor Arbeitslosigkeit, weil ein sozialer Abstieg die Folge sein könnte. In Deutschland bekommen Menschen, die auf Arbeitslosengeld angewiesen sind, deutlich zu spüren, wo sie stehen (PDF), sie werden diskriminiert. Sie bekommen teilweise so wenig Geld, dass ein Buch nur alle neun Monate drin ist.
Alternativen? Mangelware
Obwohl die Anklagepunkte zahlreich sind, hat der Kapitalismus ein hohes Wohlstandsniveau für einen großen Teil der Menschheit gebracht. Aber er sorgt eben auch für Ungerechtigkeiten – etwa dafür, dass reiche Menschen immer noch reicher werden und die soziale Schere immer größer wird.
Auch wenn viele Menschen nicht mit diesem System einverstanden sind, haben sich doch alle nach ihm zu richten, wenn sie nicht ins soziale Abseits geraten wollen. Alternativen zum Kapitalismus gibt es, zum Beispiel den Sozialismus. Das ist eine Gesellschaftsform, in der Unternehmen dem Staat gehören und Menschen nicht über Menschen herrschen sollen. Eine funktionierende sozialistische Gesellschaft würde von allen Menschen gemeinsam und demokratisch geführt. Konzepte wie eine Postwachstumsgesellschaft und der sogenannte Aktienmarktsozialismus werden außerdem diskutiert.
Doch solange die Menschen nicht endgültig genug vom Kapitalismus haben, wird uns diese Gesellschaftsordnung weiterhin bestimmen. Auch wenn für einige die Hoffnung besteht, der Kapitalismus in seiner jetzigen Form könnte gerettet werden, sind andere weniger kompromissbereit. Das kritische Känguru dürfte diesen Menschen aus der Seele sprechen, wenn es sagt: „Was wir in den letzten Jahrzehnten miterlebt haben, ist, wie die Leute, auf die das Gold geschissen wird, die Ketten des Monsters gesprengt haben, damit es wieder mehr Menschen frisst und noch mehr Gold scheißt und man kann nur hoffen, dass diese Leute irgendwann von den herabfallenden Goldklumpen erschlagen werden.“
Der Originaltext von Till Eckert ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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