Die #MeToo-Debatte hat viele wachgerüttelt. Allein in Frankreich erleben jedes Jahr 200.000 Frauen häusliche Gewalt – und erstatten dagegen immer öfter Anzeige. Doch was hat sich bisher konkret verändert? Eine erste Bilanz.
„Jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr für die Täter“
Für Französinnen wie Mireille Ehrhardt und Amandine Bautz war #MeToo ein Befreiungsmoment. Beide haben sexualisierte Gewalt erlebt und hatten bisher nicht das Gefühl, dass sie als Opfer ernst genommen werden. „Obwohl ich feministisch engagiert war, dachte ich, es sei mein Fehler, dass mir so etwas passiert ist“, sagt die 28-jährige Bautz. Als auf einmal Frauen auf der ganzen Welt kundtaten, dass es ihnen ähnlich ergangen sei, war klar: „Jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr für die Täter.“ Ehrhardt, die selbst Psychologin ist, sagt, sie habe zwar die Hilfe von Therapeut*innen gesucht, bisher aber nie den Eindruck gehabt, dass man ihr glaube. #Metoo sei für die etwa 50-Jährige, die ihr genaues Alter nicht preisgeben will, der Auslöser gewesen, sich selbst zu engagieren.
Im Oktober 2017 fanden unter dem Motto „#MeToo im echten Leben“ Demonstrationen in ganz Frankreich statt. Ehrhardt und Bautz halfen dabei, die Versammlung in Lyon, der drittgrößten Stadt des Landes, zu organisieren. Zusammen mit vier weiteren Frauen beschlossen sie, das Engagement weiterzutragen und gründeten das „Kollektiv #MeToo Lyon“.
Sie planen unter anderem Konferenzen und Stammtische, bei denen sich Opfer sexualisierter Gewalt austauschen können. Jetzt sei der richtige Moment dafür, ein breites Publikum zu erreichen, sagt Ehrhardt. „Es liegt etwas in der Luft.“ Tatsächlich: Auch wenn es weiterhin viele Kontroversen um Enthüllungen zu sexualisierter Gewalt, die Bewegung in den sozialen Netzwerken und die Grenze zwischen Flirt und Belästigung gibt, tut sich etwas in Frankreich.
Die französische #MeToo-Variante: angriffslustig und kontrovers
Kurz nach den ersten Enthüllungsartikeln der „New York Times“ mit Vorwürfen gegen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein beschloss die französische Journalistin Sandra Muller, ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. Am 13. Oktober rief sie Twitter-Userinnen dazu auf, von deren Erfahrungen mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu erzählen und dabei auch Details und Namen zu nennen. Sie wählte dafür den angriffslustigen Hashtag #Balancetonporc, zu Deutsch „Verpfeif dein Schwein“.
Schaut man sich die Tweets an, fällt auf, dass auch die meisten der unter #Balancetonporc verbreiteten Anschuldigungen anonym bleiben. Muller selbst nannte ihr „Schwein“ beim Namen. Es war der Direktor des Spartensenders „Equidia“, Eric Brion, der sie anschließend verklagte. Auch in vielen Medien wurde der Journalistin vorgeworfen, zur Verleumdung aufzurufen. Zu Hochzeiten der Kampagne warnte ein Arbeitsrechtler im Radiosender „France Info“ diejenigen, die Twitter als Anklageplattform nutzten, vor rechtlichen Konsequenzen. Gleichzeitig räumte er ein, dass es schwer sei, zum Beispiel gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen.
Wer wurde „verpfiffen“?
Im Laufe der vergangenen Monate gab es Anschuldigungen gegen Dutzende Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende. Auch die Regierung ist betroffen: Das Magazin „Ebdo“ nahm die #MeToo-Debatte zum Anlass über zehn Jahre alte Vergewaltigungsvorwürfe gegen Umweltminister Nicolas Hulot zu berichten. Das Verfahren war damals eingestellt worden, da die Vorwürfe verjährt waren. Zudem berichtete das Magazin über Gerüchte, die besagten, dass Hulot eine ehemalige Mitarbeiterin seiner Stiftung belästigt haben soll. Die Betroffene selbst, die heute im Pariser Politikbetrieb arbeitet, bestritt dies. Hulot verklagte „Ebdo“ wegen Verleumdung. Auch andere Journalist*innen und Leser*innen warfen dem gerade erst gegründeten Magazin eine unsaubere Berichterstattung vor, die mit wenig Fakten gefüttert sei. Nach nur vier Ausgaben wurde „Ebdo“ wegen sinkender Verkaufszahlen eingestellt – die Gründer machten dafür auch die „Affäre Hulot“ verantwortlich.
Weitere Vorwürfe betreffen Haushaltsminister Gérald Darmanin. Ein ehemaliges Callgirl wirft ihm vor, sie 2009 vergewaltigt zu haben. Sie reichte mehrere Klagen ein, zwei Verfahren wurden eingestellt, ein weiteres läuft noch. Darmanin strengte eine Verleumdungsklage gegen sie und eine weitere Frau an, die ihm sexuelle Belästigung vorwirft. Regierungschef Edouard Philippe sprach beiden Ministern sein Vertrauen aus und verwies auf die Entscheidungen der Justiz – ein Vorgehen, das viele Feminist*innen scharf kritisierten. Sie erinnerten daran, dass mehrere Minister zu Beginn der Präsidentschaft das Kabinett wegen nicht bewiesener Vorwürfe zu Vetternwirtschaft und Scheinbeschäftigung hatten verlassen müssen. Demnach würden sexuelle Übergriffe ihrer Meinung nach weniger gewichtet.
Sexualisierte Gewalt: Anzeigen steigen
Offenbar hat die große Präsenz des Themas auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Entscheidung der Opfer, gegen die Täter vorzugehen. Davon geht zumindest Karine Lejeune, nationale Sprecherin der Gendarmerie, aus. So gingen bei der Militärpolizei im November 2017, einen Monat nach den Weinstein-Enthüllungen, 28 Prozent mehr Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt ein als noch im Vergleichsmonat 2016. Dieser Trend bestätigt sich auch beim Blick auf die Gesamtstatistiken von Polizei und Gendarmerie, die die Regierung zur Verfügung stellt: In den letzten drei Monaten des Jahres 2017 gab es etwa 30 Prozent mehr Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt.
Der Anstieg für mögliche Fälle von sexueller Belästigung oder anderen Angriffen ist dabei höher als der bei mutmaßlichen Vergewaltigungsfällen. 2018 setzte sich diese Entwicklung fort. Auch die Chefin der „Féderation National Solidarité Femmes“, der nationalen Vereinigung der Organisationen, die sich um weibliche Gewaltopfer kümmern, bestätigt, dass in den vergangenen Monaten unter der Notfallnummer 3919 mehr Anrufe wegen sexualisierter Gewalt registriert worden seien. Sie betont allerdings, dass dies bisher nur eine grobe Tendenz sei.
Ob die gestiegene Zahl der Anzeigen jedoch auch dazu führt, dass mehr Täter zur Verantwortung gezogen werden können, ist fraglich. So kommt es etwa bei Vergewaltigungen in weniger als zehn Prozent der Verfahren überhaupt zu einer Verurteilung. Auch die Betreuung der Opfer müsse verbessert werden, klagt die Gendarmin Marie Lavall. Sie ist seit 2006 Referentin für häusliche Gewalt in einer ländlichen Gegend in Südostfrankreich. Unter anderem organisiert die 35-Jährige Informationstage für Kolleg*innen und Betroffene. Eine gesonderte Ausbildung hat sie dafür nicht bekommen. Sie habe diese Aufgabe aus persönlichem Interesse übernommen.
40 Prozent hatten den Eindruck, sie würden für das, was ihnen passiert sei, verantwortlich gemacht
Zwar gebe es seit 2005 solche Referenten in jeder Brigade, aber das reiche nicht aus. Laut Lavall sei es für Betroffene weiterhin Glückssache, ob sensibel mit ihnen umgegangen werde: „Es gibt immer noch so viele Opfer, die schlecht behandelt werden. Wir brauchen eine spezifische Ausbildung, um die Frauen besser in Empfang nehmen zu können.“ Eine Umfrage, die zwei feministische Organisationen vor einigen Wochen veröffentlichten, zeichnet ein ähnliches Bild: Sie werteten die Aussagen von 500 Frauen aus, die wegen sexualisierter oder häuslicher Gewalt zur Polizei oder Gendarmerie gegangen waren. 60 Prozent von ihnen trafen auf Beamte, die die Anzeige nicht aufnehmen wollten oder ihnen davon abrieten. Mehr als die Hälfte hatten das Gefühl, die Schwere der Tat sei in Frage gestellt worden. 40 Prozent hatten den Eindruck, sie würden für das, was ihnen passiert sei, verantwortlich gemacht. Allerdings weisen die Initiatorinnen der Umfrage daraufhin, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ seien.
Das Gesetzesvorhaben und die Kritik daran
Nun sollen in Frankreich konkrete Gesetzesänderungen folgen. Präsident Emmanuel Macron verurteilte am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen eine Gesellschaft, die am „Sexismus erkrankt sei“. Dagegen will er unter anderem mit einem „Gesetz gegen sexuelle und sexistische Gewalt“ vorgehen, das die Staatssekretärin für die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, Marlène Schiappa, derzeit versucht, durch beide Parlamentskammern zu bringen. Wird es verabschiedet, wird ein Mindestalter für einvernehmlichen Sex zwischen Minderjährigen und Erwachsenen eingeführt – das gibt es bisher in Frankreich nicht. Mutmaßlich wird es bei 15 Jahren liegen.
Zudem soll nicht nur körperliche, sondern auch verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum strafbar werden. Den Tätern droht dann eine Geldstrafe von bis zu 3.000 Euro. Feministische Organisationen begrüßen den symbolischen Wert dieser Maßnahme, halten sie aber für schwer durchsetzbar, da der Täter sofort dingfest gemacht werden müsste. Die Regierung kündigte außerdem an, gut 400 Millionen Euro in 50 Maßnahmen zu stecken, die für mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen sorgen sollen. Unter anderem sollen Unternehmen, in denen der Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern besonders groß ist, ab 2022 bestraft werden können. Zudem soll 2018 garantiert werden, dass es 5.000 Notunterkünfte für weibliche Opfer von sexualisierter und häuslicher Gewalt gibt – wie viele dieser Unterkünfte bereits vorhanden sind, dazu steht in den Vorschlägen nichts.
Viele feministische Organisationen kritisieren, dass die Vorhaben der Regierung den Opfern sexualisierter Gewalt kaum helfen, wenn nicht auch die Beratungsorganisationen für Frauen mehr Geld bekommen. Tatsächlich ist davon weder in Schiappas Gesetz noch im Maßnahmenkatalog der Regierung die Rede. „Schöne Worte, nicht viel dahinter“, lautet deshalb auch das Fazit des Lyoner #MeToo-Kollektivs. Aber bei der Bewegung gehe es ohnehin nicht darum, darauf zu warten, dass Gesetze verabschiedet werden, die Frauen besser schützen. Vielmehr sollte jeder Einzelne dazu gebracht werden, eigene Handlungen und Einstellungen zu hinterfragen.
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