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Was wir vom Fußball-Neuling Island über Gleichberechtigung lernen können

Gerade gegen Frankreich ausgeschieden, aber von allen bei dieser Fußball-EM geliebt – die Überraschungsmannschaft aus Island. Was viele schon ahnen: Es gibt noch mehr Gründe, die Isländer zu lieben. Was viele nicht wissen: Sie sind weltweite Vorreiter der Gleichberechtigung. Was wir von ihnen lernen können.

 

Starke Frauen – in Island schon in alten Sagen normal

Als er von Feinden angegriffen wird, bittet Gunnar Hamundarson in der isländischen „Njáls saga” seine Frau Hallgerður um eine Haarsträhne, mit der er seinen kaputten Bogen reparieren will. Aber sie weist ihn ab – aus Rache dafür, dass er sie vor einigen Jahren geschlagen hat – und lässt ihn von den Gegnern töten. 

Starke Frauen spielen in Isländersagas eine große Rolle. Tapferkeit ist keine Eigenschaft, die ausschließlich Wikingern zugeschrieben wird. Intelligente und freidenkerische Königinnen, weise Frauen und Hexen sind keine Nebenfiguren, sondern nehmen stets großen Einfluss auf den Ausgang der Geschichte. Sie sind die Strateginnen und Macherinnen.

In den vergangenen Wochen hat die isländische Fußball-Nationalmannschaft in Frankreich ganz Europa in ihren Bann gezogen, die isländischen Fans mit „Huh“-Rufen neues Leben in die Veranstaltung gebracht, und das gibt Anlass dazu, noch mehr beeindruckende Phänomene der isländischen Kultur zu betrachten. Die Isländer mögen Anfänger im internationalen Fußball sein; in gesellschaftlicher Entwicklung sind sie es nicht. Im Gegenteil. Sie können als Vorbild für so ziemlich alle anderen Staaten der Welt dienen. Auch für Deutschland.

Vereinbarkeit von Feminismus und Familienleben

Laufey J. wohnt in einer großen Wohnung am westlichen Zipfel der Halbinsel Seltjarnarnes, einem Vorort von Reykjavík. Direkt hinter dem Haus rauscht das Meer und die Leuchtturminsel Grótta ist von weitem zu sehen. Laufey ist Mitte 50, verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. An ihrem Kühlschrank hängen Postkarten verschiedener Frauenorganisationen. Sie und ihr Mann sind bekennende Feministen.

In keinem anderen Land der Welt ist die Geschlechtergleichheit dem World Economic Forum zufolge so hoch wie hier. Island war schon immer ein Vorreiter, was Frauenrechte betrifft. 1850 war es das erste Land, das ein gleichberechtigtes Erbrecht für Frauen und Männer einführte, 1915 erlangten Frauen das Wahlrecht. Die erste Frau wurde 1922 ins Parlament gewählt, bevor sich Vigdís Finnbogadóttir (übrigens geschieden und alleinerziehend) 1980 als weltweit erste Frau als Staatsoberhaupt durchsetzte.

90 Prozent der Isländerinnen streiken für gleichen Lohn

Dass mit gleichem Wahlrecht und politischer Teilhabe die Frauen nicht automatisch Männern gleichgestellt sind, wusste man in Island bereits vor rund 40 Jahren. Für einen Tag, am 24. Oktober 1975, legten 90 Prozent der Isländerinnen ihre Arbeit nieder und protestierten auf den Straßen von Reykjavík für Wertschätzung und gleichen Lohn. Zum ersten Mal waren Männer gezwungen, sich um die Kinder zu kümmern. Einige von ihnen reden noch heute vom „langen Freitag“.

Ein Jahr später verabschiedete die isländische Regierung tatsächlich ein Gesetz, das Geschlechterdiskriminierung am Arbeitsplatz verbietet. Das Lohngefälle existiert zwar bis heute und bis zur hundertprozentigen Gleichstellung ist noch viel zu tun. Dennoch wurden entscheidende Schritte unternommen, um mit dem traditionellen Bild von Kindererziehung und Karriere zu brechen. „I’ve done it all“, erzählt Laufeys Mann Sigurður. Windeln wechseln, füttern, spielen. Denn: Vater und Mutter können jeweils drei Monate Elternzeit nehmen, die nicht übertragbar sind, sowie drei weitere beliebig aufteilbare Monate.

Das erleichtert nicht nur die Teilhabe der Väter beim Aufziehen des Kindes, sondern fördert auch explizit Frauen, wieder in den Beruf einzusteigen. Im weltweiten Vergleich sind Frauen in Island am stärksten auf dem Arbeitsmarkt vertreten und besetzen heute circa 40 Prozent der Führungspositionen. 2013 hat die isländische Regierung eine Quote eingeführt – für beide Geschlechter. Unternehmen mit mehr als 50 MitarbeiterInnen müssen seitdem mindestens 40 Prozent Männer und 40 Prozent im Vorstand haben..

„Icelanders are way more liberal“

Obwohl Island zur Hälfte zum europäischen Kontinent gehört, wirkt es ein bisschen, als würden die Bewohner von außen auf „unser“ Europa (hinab-)schauen, wenn sie da am Abend auf ihrer Couch sitzen und die Nachrichten aus der Welt auf dem Fernseher aufflackern. Nicht etwa auf die arrogante Art, sondern eher wie Lehrer, die wissen, dass die Menschheit noch viel lernen muss. Fragt man sie, ob sie sich auf der Insel im Norden isoliert fühlen vom Rest der Welt, sind sie überrascht. „What? No. I think we’re very americanized. We have more US shows on TV than Icelandic ones. But one difference may be our way of thinking. Icelanders are way more liberal”, sagt Laufey.

Sicher herrscht auch in Deutschland kein Familienbild der 50er Jahre mehr. Trotzdem sind die Isländer einen Schritt weiter. 2014 waren nur 29 Prozent aller Paare verheiratet und hatten Kinder, zwei Drittel aller Neugeborenen werden von nicht-verheirateten Eltern zur Welt gebracht. Die Ehe ist nur eine Option von vielen: Andere Lebensentwürfe sind weder mit Stigmatisierungen besetzt noch mit finanziellen Nachteilen verbunden. So unterstützt das Sozialsystem beispielsweise auch Alleinerziehende intensiv.

Das Klischee existiert nicht mehr

Feminismus als Kampf für die Gleichheit der Geschlechter funktioniert in Island aus einem entscheidenden Grund: Es machen mehr als nur 50 Prozent der Spezies mit. Im Januar 2015 fand in der Hauptstadt die erste Konferenz für Geschlechtergerechtigkeit mit ausschließlich männlichen Teilnehmern statt. Der Begriff „Feminist“, der in weiten Teilen Europas und der Welt noch immer mit einer veralteten Idee in Verbindung gebracht wird, ist Sigurður egal: „I don’t care about labels. Our society can only work if men and women have equal rights. We are all the same.“ Für ihn ist das starre Bild der „Frau in der Küche“ unvorstellbar. Das Klischee existiert hier quasi nicht mehr.

Das bedeutet nicht, dass es in Island überhaupt keinen Sexismus und keine Ungerechtigkeit mehr gibt. Doch Frauen sprechen das Thema in Alltagssituationen gezielt an und die Reaktionen sind meist einsichtig. Welche Rolle „Njáls saga“ dabei spielt? Ungewiss. Die Isländersagas werden Kindern jedenfalls bis heute vorgelesen und in der Schule analysiert.

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