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Hetze gegen Geflüchtete: Wo ist meine mitfühlende Freundin von früher? Die Geschichte einer Entfremdung

Was tun, wenn ein vertrauter Mensch auf Facebook plötzlich Dinge teilt, die einen sprachlos machen? Anna Luz de León hat einen Brief geschrieben an eine Freundin, deren Ansichten zu geflüchteten Menschen sie zunehmend erschrecken.

 

Liebe Freundin, meine Freundin für viele Jahre,

… sind wir noch Freundinnen? Ich weiß es gerade nicht.

Ich habe heute festgestellt, dass wir uns seit fast einem Jahr nicht gesehen und nicht gesprochen haben. Wir haben gechattet und auch auf Facebook „kommuniziert“ – aber das zählt nicht. Wenn ich an dich denke, sehe ich meine Freundin von früher, all deine Licht- und Schattenseiten, all die schönen Momente, die wir geteilt haben, mit und ohne unsere Kinder. Früher waren wir viel zusammen. Ich hätte wahrscheinlich meistens gewusst, wo du bist, was du gerade machst, wie es dir geht. Ich hätte auch gewusst, was du für richtig oder falsch hältst, ich hätte mit dir über Dinge gesprochen, vielleicht auch gestritten, aber es wäre niemals fremd gewesen.

Jetzt sehe ich – dein Facebookprofil. Und da sehe ich, dass du Dinge teilst, die mich ratlos machen. Lustige, aber nichtssagende Sprüche – ok. Bilder von deinen matschbespritzten Felgen, weil du offenbar seit Neuestem Mountainbiking betreibst – ok. Aber immer öfter auch populistische Sprüche, geteilt von den Seiten fragwürdiger Politiker und Politikerinnen oder aus Gruppen mit seltsamer Gesinnung. „Genau so!, schreibst du dazu. Oder nutzt die vorgegebenen Emoticons von Facebook um Gefühle auszudrücken wie „begeistert oder „zustimmend“ oder „nachdenklich.

Worüber denkst du nach? Was geht dir durch den Kopf? Ich weiß es nicht mehr.

Wenn ich an dich denke, sehe ich uns beide, vor zehn Jahren, vor zwölf Jahren…Ich sehe uns mit unseren Babys in den Armen, mit unseren ersten Kindern, wie wir so viele neue Situationen gemeinsam gemeistert haben. Wir haben viel Alltag geteilt, auch mit zwei, mit drei.. mit sechs Kindern. Wir hatten schöne Zeiten und schwere Zeiten. Dein Mann, Vater deiner Kinder, wurde krank und starb, du musstest mit den Kindern in eine kleinere Wohnung umziehen und all ihre Trauer und Verzweiflung abfangen. Und mit deiner eigenen umgehen lernen.

Es dauerte lange, bis ihr wieder den Kopf heben konntet. Es ging dir schlecht, es ging den Kindern schlecht, ihr habt mir das Herz zerrissen in dieser Phase. Und du kamst oft zu mir, brachtest die Kinder hierher und wir blieben ein paar Stunden lang zusammen, bis alles sich ein bisschen erträglicher anfühlte. Ich war für euch da, so wie du für mich und meine Kinder da warst. Zum Beispiel als meine Mutter krank wurde. Oft warst du gerade dann bei mir, wenn schlechte Neuigkeiten kamen, hast mich getröstet, mir Mut gemacht, mir zugehört. Und als sie starb und ich weit weg war von dir, dachtest du an mich, schicktest mir Nachrichten, warst trotz räumlicher Trennung präsent.

Was ist seitdem passiert? Wo ist diese mitfühlende Freundin von früher, die ich so gut kannte und von der mich nichts entzweien konnte? 

Die Facebook-Chronik macht sprachlos

Natürlich gab es immer schon Unterschiede zwischen uns. Wir kommen aus ganz verschiedenen Familien, haben ganz gegensätzliche Kindheiten erlebt und mir war schon immer schmerzlich bewusst, wie viel du bereits durchgemacht hattest in deinem Leben. Als ich noch immer unschuldig, von dem meisten Leid unberührt und behütet war, hattest du schon irrsinnige Dinge erlebt, die dich geprägt haben. Aber seit ich dich kannte, habe ich deinen Mut bewundert, deine Kraft, deinen unbeugsamen Willen, dieses Leben zu meistern, gegen alle Widerstände. Diese Haltung gehört zu dir und ich erinnere mich an eine Zeit, in der wir uns noch kaum kannten und ich dachte: „Der wird nie was Schlimmes passieren, weil sie so unzerstörbar ist!“ Natürlich bist du das nicht. Ich weiß das, ich war dabei, als du am Abgrund zur Zerstörung balanciertest und beinahe gefallen wärst. Bist du aber nicht. Du hast dich gefangen, einen Tanzschritt gewagt und bist weitergegangen. Für deine drei Kinder. Und für dich selbst.

Jetzt sehe ich deine Facebook-Chronik und ich glaube, ich weiß nichts mehr über dich. Ich lese Kommentare von Menschen, die ich nicht kenne, mit denen du aber offenbar eine Gesinnung teilst. „Du wirst schon sehen, die werden alle kommen! Und dann wird Deutschland untergehen!, lese ich. Und sehe verwundert dein „Like darunter. Ich lese: „Warum kämpfen sie denn nicht um ihre Heimat? Warum verlassen sie alle ihre Familien und kommen nach Deutschland? Die wollen doch nur unser Geld! Und daneben ein wütendes Emoji von dir und eine zum Kampf gereckte Faust. Und schließlich die unvermeidliche hämische Äußerungen über die „Gutmenschen und Bahnhofsklatscher, die den Bezug zur Realität verloren haben und die „sich noch mal wundern werden, wenn sie von den tollen Refugees vergewaltigt und umgebracht werden. Darunter wieder: dein Like. Was soll das heißen? Wer sind diese Leute, mit denen du dir da so einig bist? Kennt ihr euch? Oder seid ihr nur Facebookfreunde, die sich gegenseitig hoch pushen in ihrer Angst vor dem Fremden und der Überzeugung, dass alle ihnen nur Böses wollen?

Was bringt dich dazu, so etwas zu teilen? 

Wo bist du, meine Freundin, mit der ich vor Jahren Teil einer Lichterkette für Menschlichkeit war, im Rahmen einer Veranstaltung für die Flüchtlinge von Lampedusa am Oranienplatz? Wo bist du, meine Freundin, die immer ein Herz hatte für Menschen, denen es schlechter ging als dir? Als uns? Was ist mit dir passiert, dass du solche Dinge teilst wie den albernen (und furchtbar dummen, ungebildeten) Kommentar von Felix Baumgartner oder die schlecht versteckte Hetze gegen Flüchtlinge von Attila Hildmann? Dass du mit Leuten zumindest auf Facebook befreundet bist, die zwar jeden zweiten Tag Aufrufe aus Tierheimen teilen, wo für ausgesetzte Tiere neue Familien gesucht werden, die aber gleichzeitig lamentieren, dass geflüchtete Menschen aus Kriegsgebieten unbedingt per Natodraht aus „ihrem Land ferngehalten werden müssen. Sie sollen vor unseren Grenzen verrecken. So steht es da. Und du postest dazu ein – Emoji.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich traue mich nicht, dich jetzt anzurufen, weil ich gar nicht weiß, was ich sagen soll. Bist du noch da drin, du, meine Freundin, die ich so gut kannte? Oder ist da etwas anderes, was mich gruselt, was mich, ja, auch abstößt und dem ich lieber nicht zu nahe kommen möchte? Ich kann die Hand nicht nach dir ausstrecken, denn ich bin sicher, auch du siehst, was ich auf Facebook tue: Ich teile Beiträge der lokalen Flüchtlingshilfe-Organisationen, frage in meinen Netzwerken nach Hilfe für Familien aus Syrien, Pakistan, Afghanistan… und suche nach Wohnraum, Kleidung, Nahrung und ärztlicher Versorgung für geflüchtete Familien. Ich like die Beiträge von Be an angel und Moabit hilft, schreibe über meine eigenen Erfahrungen mit unserer Flüchtlingsfamilie und habe seitdem einige Facebookfreunde mehr, deren Namen in persisch oder arabisch geschrieben sind. Macht dir das Angst? Fragst du dich auch, wer ich bin und ob du mich noch kennst?

Der Glaube an Nächstenliebe und Menschlichkeit

Ich bin ich, immer noch hier. Ich habe ein gutes Leben, drei gesunde Kinder und einen liebevollen Mann dazu. Wir haben Arbeit und ein Heim, wir haben ein gutes Leben. Auch wir sehen, dass unser Land sich verändert. auch wir sehen, dass Dinge auf uns zu kommen, die wir noch nicht einschätzen können. Auch wir verstehen, dass wir alle mit großen Veränderungen rechnen müssen, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und im Rest der Welt. Aber wir glauben an Nächstenliebe und Menschlichkeit, an die Liebe ganz grundsätzlich, wir glauben an das Recht auf Asyl und an Integration. Wir sind bereit, Dinge zu tun, um eine gute Entwicklung mitzugestalten und weigern uns, den Kopf in den Sand zu stecken und Angst zu haben vor dem, was kommt. Denn ja, es kommt. Es ist schon da. Und es ist im Übrigen kein ES, es sind Menschen. Menschen, die vor unserer Tür stehen und die Hand ausstrecken. Wir nehmen diese ausgestreckte Hand, so gut wir können. Und wir sind bereit zu teilen. Unsere Werte, unseren Platz, unser Essen, unsere Zeit, unseren Glauben an die Liebe – unser gutes Leben.

Du warst auch mal so, ich bin mir sicher. Ich war dabei und habe es gesehen. Aber jetzt… weiß ich es nicht. Was soll ich tun? Du bist zum Glück einige der wenigen in meinem virtuellen und realen Umfeld, bei der ich diese Haltung oder die Entwicklung dahin sehe. Aber es macht mich traurig, fassungslos, ratlos. Kann ich dich noch erreichen? Kann ich dein Herz noch erreichen? Ich bin mir so sicher, früher hättest du auch deine Tür geöffnet für diese kleine Familie, die aus dem Regen kam an jenem ersten Abend im November – aber heute? Und ich frage mich: Muss ich es nicht versuchen? Bin ich nicht lange genug deine Freundin gewesen, um es jetzt zu versuchen, nicht von dir zu lassen, nicht einfach wegzugehen, sondern dich zu konfrontieren?

Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht, was ich tue. Ob ich mich traue, mich selbst damit zu konfrontieren, wie weit wir inzwischen auseinandergedriftet sind. Ob ich es aushalten würde, in echt zu sehen, was ich virtuell nur erahne. Ich vermisse dich. Die, die du früher warst. Aber ich habe keine Ahnung von der Person, die du geworden bist und von der mich offenbar so viel trennt. Wenn du noch da bist, meine Freundin von früher – mach die Tür nicht zu. Meine ist noch geöffnet, auch wenn ich gerade (noch) nicht hindurchgehen kann.

Deine Gutmensch-Freundin Anna

Nachsatz:

Dieser Brief ist der Versuch, meine persönlichen Erfahrungen mit den Ereignissen der letzten Wochen und Monate in Worte zu fassen, deren Auswirkungen ich, wie wir alle, täglich in den sozialen Netzwerken zu sehen bekomme. Stereotypes fremdenfeindliches Gebelle gibt es dieser Tage allerorten, das ich dort leider auch bei (ehemaligen) Freunden und Freundinnen und Bekannten mitkriege und das mich jedes Mal an meine Grenzen bringt. Diese Leute zu blocken oder zu entfreunden oder die Netzwerke zu verlassen, wären Möglichkeiten, damit umzugehen, das macht aber das Thema nicht „weg. Ich versuche also meinerseits, ebenfalls nicht wegzugehen, nicht wegzuschauen und wenn ich es schaffe, diese Menschen auch anzusprechen, in der Hoffnung, dass auch die Stimmen derer gehört werden, die anders klingen. Meine soll ein Teil davon sein.

Die Freundin in diesem Brief gibt es so als konkrete Person nicht. Sie ist eine Verschmelzung all der Personen in meinem Umfeld, die sich auf die ein oder andere Art so geäußert haben und denen ich das Feld nicht einfach überlassen will.

Passt auf euch auf da draußen. Alle.

Love, Anna Luz

Annas Text ist zuerst auf ihrem Blog Berlin Mitte Mom erschienen. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlicht. Hier könnt ihr unser Interview mit Anna lesen.

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