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Reise in die Vergangenheit – Warum Klassentreffen gar nicht so schlimm sind

„Klassentreffen sind der blanke Horror” war sich unsere Community-Autorin sicher – und fuhr trotzdem hin. Ob das so eine gute Idee war?

 

Alle Jahre wieder 

Im April erhielt ich eine Einladung zum Klassentreffen. „Schon wieder?“, dachte ich. „Das letzte Klassentreffen zum zehnjährigen Abiturjubiläum ist doch gar nicht so lange her!“ Da ich beruflich aber mittlerweile flexibel bin und den Schulbesuch mit einem Aufenthalt im Hotel Mama kombinieren konnte, sagte ich schließlich zu. Spoiler Alert: Es hat sich gelohnt.

Am 17.09. war es so weit. Schon einige Tage vorher spürte ich, wie mein Magen rebellierte, und fragte mich, was das jetzt wieder sollte. Hoffentlich keine Gastritis. Es war auch keine Magenschleimhautentzündung, sondern einfach nur die gute alte Aufregung, die mich quälte. Seit dem letzten Klassentreffen hat sich viel in meinem Leben getan. Ich bin mittlerweile selbstständig und glaube, das Leben zu leben, das ich mir immer gewünscht habe. Was ja wirklich toll ist, aber es macht auch angreifbar, wenn man sich hinter nichts außer seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen verstecken kann.

Wie würde es jetzt sein, die anderen wiederzusehen? In der Oberstufe habe ich mich zwar mit vielen gut verstanden, mit manchen pflegte ich jedoch auch eine innige Feindschaft. Das gehörte auf einem Gymnasium für Höhere Töchter schließlich zum guten Ton. Da ich keine Höhere Tochter bin, fühlte ich mich umso verpflichteter dazu, den geheimen Regeln des Instituts zu folgen. Es ist komisch, mit Menschen beim Abendessen zu sitzen, die man früher nicht ausstehen konnte.

Betretenes Schweigen und nervöses Kichern vor dem Schultor

Ich verabredete mich mit einer Freundin, die mir noch aus der Schulzeit erhalten geblieben ist. Es regnete wie aus Eimern und wir wollten standesgemäß mit dem Taxi vorfahren, um nicht wie begossene Pudel vor der versammelten Mannschaft dazustehen. Natürlich waren wir viel zu früh dran. Wir waren die Ersten, wo doch die Besten ganz zum Schluss oder idealerweise zu spät kommen.

Nach und nach kamen die Frauen, mit denen ich teilweise 13, mindestens aber drei Jahre meines Lebens verbracht hatte. Schüchtern standen wir vor der massiven Eingangstür aus Holz, mit unseren Jacken, Schirmen und roten Backen. Zaghaft begrüßten wir uns gegenseitig und warfen erste Wie-gehts-denn-sos in die Runde. Ich scharrte mit meinem rechten Fuß und kicherte ab und zu.

Spontane Amnesie und Total Recall: Was geblieben ist

Die Gesichter meiner ehemaligen Mitschülerinnen erkannte ich alle, viele der dazu gehörigen Namen jedoch waren in meinem Gehirnkasten nicht mehr auffindbar. Während ich an meiner Kippe zog, fragte ich mich, ob ich vielleicht doch ein arrogantes Arschloch bin, dem andere einfach egal sind, beschloss dann aber, dass das nicht der Fall sei. Den anderen ging es bestimmt genau wie mir. Ganz bestimmt sogar. Dann kam der Rektor und ließ uns rein.

Dass der Geruch im Schulflur immer noch derselbe ist wie vor so vielen Jahren, klingt unwahrscheinlich und ist trotzdem wahr. Erinnerungsfetzen störten die laufenden Gespräche. In der Bibliothek gleich rechts neben dem Eingang fiel mir ein, dass ich hier die Geschichten von Roald Dahl entdeckt habe. Eine Deutschlehrerin hatte mal mit mir geschimpft, weil ich ein gewisses Buch nicht kannte. Sie fragte die Klasse, wer es denn im Gegensatz zu mir gelesen hätte. Es handelte sich um ein Jugendbuch, ich weiß aber nicht mehr, um welches. Ein paar Schülerinnen meldeten sich. „Hm naja. Das sind eben die, die viel lesen.“, sagte sie.

In der Höhle des Löwen

Es folgte eine ausführliche Tour durch das Schulgebäude, an dem viel gearbeitet wurde, das aber dennoch nicht moderner aussieht als früher. Schulen haben einen bestimmten Look, das gehört sich einfach so. Ich wäre erschüttert gewesen, hätte ich jetzt ergonomische Tische und Stühle gesehen. Ich war beruhigt, als ich die alten Schulbänke und Holzstühle sah. Auf den Tischen in den Räumen der 5 a, b und c waren sorgsam bunte Namensschilder aufgereiht. In den Räumen der höheren Klassen waren geheime Nachrichten und Liebesschwüre in die Bänke geritzt. Wir suchten nach unseren Spuren und fanden so manchen Beweis für unsere Existenz als ehemalige Schülerinnen dieser Anstalt.

Im Lehrerzimmer gefiel es mir dieses Mal besonders gut. Ich war eine der wenigen, die sich schon zu Schulzeiten in die Höhle des Löwen getraut hatte. Damals war ich damit beauftragt, zusammen mit einer anderen Schülerin einen Vortrag im Lehrerzimmer zu halten. Es ging um unsere Klassenfahrt nach Schwangau (glaube ich zumindest). Dort bietet der Verein „Outward Bound“ Erlebnispädagogik für pubertierende Schülerinnen und gestresste Lehrer an. Ich wollte da eigentlich auf keinen Fall mitmachen, aber es blieb mir nichts anderes übrig, weil die Mehrheit der Klasse dafür gestimmt hatte. Gleich am ersten Tag in Schwangau und im Nachhinein fand ich diese Unternehmung aber so toll, dass ich als gutes Beispiel dafür dienen sollte, wie viel Spaß eine derartige Klassenfahrt auch denen macht, die eigentlich keinen Bock auf so einen Scheiß haben.

Anarchie und Literatur: Wie Herr A. mich für „Homo Faber“ begeisterte

Im Lehrerzimmer erfuhr ich vom Rektor, dass einer meiner Lieblingslehrer leider nicht zu unserem Klassentreffen kommen konnte, weil er krank war. Ich kramte Stift und Zettel aus meiner Tasche und hinterließ ihm eine kurze Nachricht, die mit „Ciao“ endete. Ich hoffte, er würde die Nachricht finden und sich bei mir melden. Hat er auch getan. Vielleicht führen wir jetzt eine Brieffreundschaft.

Herr A. war eine Zeit lang mein Deutschlehrer. Er trug jeden Tag dieselbe Lederjacke, die er seine zweite Haut nannte, und er behauptete, sie niemals abzulegen. Unter den Schülerinnen wurde natürlich wild spekuliert, was das konkret zu bedeuten hätte. Herr A. brummelte in seinen Bart, wenn er etwas nicht in Ordnung fand oder schrie, dass die Wände zitterten. Er war sehr streng und gleichzeitig ein lässiger Anarcho. Aber die alten Anarchos lassen einem eh nie etwas durchgehen. Auf mich und meine türkische Freundin (wir waren der Jugo-Betrugo und der Schurke-Turke) war er besonders stolz, weil wir zwei Ausländerkinder immer die besten Aufsätze schrieben.

Ich hatte jedenfalls Spaß mit ihm und verdanke ihm neben der ungebrochenen Begeisterung für Literatur eine „Homo Faber“-Neurose. Jedes Mal, wenn ich fotografiere, denke ich an Walter Fabers Unfähigkeit zum unmittelbaren Erleben, und jedes Mal, wenn ich das Wort Dschungel höre, denke ich an Verwesung und spüre Walter Fabers existenziellen Angstschweiß auf meiner Haut.

Und wenn Sie dann mal Ius studieren

Als wir weiter in das ehemalige Internat gingen, musste ich auch an Herrn K. denken. Herr K. war Geschichts- und Lateinlehrer und von der alten Schule. Er klärte uns oft und gerne darüber auf, dass „das Gymnasium keine gehobene Kindertagesstätte mit Abiturnebenerwerbscharakter“ sei. Trotzdem setzte er all seine Hoffnung auf uns und prophezeite uns ein erfolgreiches Jurastudium oder eine andere gewinnbringende Ausbildung.

Wenn er nicht gerade über den Dreißigjährigen Krieg dozierte, machte er Marianne und Michael nach. Im Lateinunterricht hielt er uns dazu an, selbst kreativ zu werden und Zweizeiler zu dichten. Er legte mit folgendem Reim vor: „Ich habe mich verloren / in deinen großen Ohren.“ Im Geschichtsunterricht erzählte er uns einmal, dass wir uns ja nicht einbilden sollten, die Sklaverei sei tatsächlich abgeschafft. Wenn nämlich heute ein illegaler Bauarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien oder aus Thailand krank wird, wird er nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern in den nächsten Betonpfeiler eingemauert.

Seine liebste Ausfragemethode bestand darin, einen Satz zu beginnen, den wir sinngemäß vervollständigen sollten. Das sah dann so aus:

Herr K.: „Die drei Monarchen sahen sich …”

Schülerin: „Äh … Ähnlich?”

Ich habe damals Tränen gelacht. Natürlich war Herr K. sehr unzufrieden mit der Antwort, den Anschiss bekam aber nicht die unwissende Schülerin, sondern ich, weil ich mich nicht zusammenreißen konnte. Sei’s drum, das war’s mir wert. Ansonsten habe ich mich aber gut mit Herrn K. verstanden und ihn sogar einmal im Musikladen in der Innenstadt getroffen, als ich neue Saiten für meinen Bass brauchte und er eine Oboe kaufen wollte.

Brot brechen im Steakhaus

Nach dem Ausflug in unsere Vergangenheit wandten wir uns schließlich in einem nahe gelegenen Steakhaus dem Hier und Jetzt zu. Anders als letztes Mal bemühte ich mich darum, mit so vielen ehemaligen Mitschülerinnen wie möglich zu sprechen. Nachdem wir uns alle ein wenig entspannt und in alten Erinnerungen geschwelgt hatten, fiel es uns deutlich leichter, miteinander zu tratschen. Was sollte uns auch daran hindern? Wir haben so viel Zeit zusammen verbracht. Wir kennen uns.

Allen früheren Animositäten zum Trotz herrscht eine tiefe Vertrautheit. Wir halfen uns gegenseitig, als eine von uns das erste Mal ihre Regel hatte, heulten zusammen über den ersten Liebeskummer, verbündeten uns gegen gemeine Lehrer und erkämpften uns neue Rechte und die eine oder andere Freistunde. Wir kennen unsere Schwächen und Stärken, wem sollten wir beim Klassentreffen also irgendetwas vormachen?

Stattdessen unterhielten wir uns über unsere Lebenswege, über Schwierigkeiten, die wir überwunden haben und Erfolge, die wir feiern durften. Ich war beeindruckt zu sehen, was aus uns allen geworden ist und hatte das Gefühl, dass jede von uns sich ihr Plätzchen in der Welt sichern konnte. Tolle Frauen sind das, die Leben retten, Menschen dabei helfen, Arbeit zu finden, Kinder unterrichten und den Lauf der Welt bestimmen. Ich bin froh, dass wir uns wiedergesehen haben, und hoffe, dass wir beim nächsten Klassentreffen noch viel ausgelassener miteinander feiern werden. Da war nämlich schon noch Luft nach oben.

Dieser Text ist zuerst auf Notizen am Rande erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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