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Lassen wir unsere Kinder zu früh und zu viel fremdbetreuen?

Moderne Familienpolitik sieht auch in Deutschland vor, Kinder möglichst früh fremdbetreuen zu lassen. Unsere Community-Autorinnen Helena und Noemi finden: Viel zu früh müssen sich Kinder in unserer Gesellschaft der straffen Work-Life-Balance ihrer Eltern anpassen. Sie befürchten eine Kindheit ohne kreativen Freiraum.

 

Eine Gesellschaft der Effizienz?

In Michael Endes Roman „Momo”, erschienen 1973, betrügen die „grauen Herren” die Menschen um ihre Lebenszeit, angeblich zu ihrem Vorteil. Diejenigen, die das Buch aus ihrer Kindheit und Jugend kennen, können sich vielleicht noch an das verstörende Gefühl erinnern, welches die Geschichte von Momo bei ihnen hinterlassen hat. Eltern können sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern, welche folglich in sogenannten „Kinder-Depots” untergebracht werden müssen, wo sie vor allem „nützliche Dinge fürs Leben” lernen sollen. Die Kinder werden dort rundum versorgt und beschäftigt, so dass die Eltern ihrem eigenen Leben, und zwar vor allem ihrer Arbeit, nachgehen können. Weder freies, unbeobachtetes Spiel noch eine ruhige gemeinsame Zeit mit den Eltern ist in einer solchen Gesellschaft der Effizienz noch möglich.

Die Thematik des Romans ist in Teilen erschreckend aktuell. Bereits in frühem Alter müssen auch unsere Kinder heute vor allem eines sein: dem strengen Zeitplan der Work-Life-Balance ihrer Eltern angepasst. Fast kommen sie einem wie Nebenprodukte unserer Leistungsgesellschaft vor. Ihre Bedürfnisse scheinen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.

Kinder verschwinden zunehmend aus dem Stadtbild

Kinder ab einem Jahr sind inzwischen meist bis zum Nachmittag aus dem öffentlichen und privaten Leben verschwunden, während ihre Eltern ins Arbeitsleben zurückgekehrt sind. Vormittag, Mittagessen und Mittagsschlaf in der Kita oder im Hort, anschließend draußen im Hof spielen, frühestens ab 15 Uhr ist Abholzeit. Ab 16.30 Uhr füllen sich die Spielplätze, um 17.30 Uhr ist es dort am vollsten, und ab 18.00 Uhr leeren sich die Sandkisten, Rutschen und Schaukeln wieder. Zwei Stunden Eltern und Kinder im Doppelpack pro Tag. Außerhalb dieser Zeiten sind Mütter oder Väter zusammen mit Kindern über einem Jahr die Ausnahme im öffentlichen Raum geworden.

Denn zumindest in Deutschlands Großstädten gehört es zum Standardprogramm, Kinder ab einem Jahr bis zum Nachmittag fremdbetreuen zu lassen. Und das ist traurigerweise nicht immer eine Entscheidung, die auf Basis einer wirklichen Wahlfreiheit getroffen wurde. Zu viele Eltern sind heutzutage aus finanziellen Gründen dazu gezwungen, das Konzept der Ganztagsbetreuung in Anspruch zu nehmen. Und wem das noch ein mulmiges Gefühl bereitet, dem wird es so verkauft, dass Kitas für unsere Einjährigen einfach unerlässlich seien, immerhin erlernten sie in diesen sogenannten Bildungsstätten unaufschiebbare soziale Kompetenzen. Der ursprüngliche „Kindergarten”, ein Ort der spielerischen Entfaltungsmöglichkeit, erfunden und entwickelt für Kinder, weicht auch begrifflich der „Kindertagesstätte”, einer Einrichtung, die in erster Linie der notwendigen Entlastung berufstätiger Eltern wegen entstanden ist.

Die Kinder werden institutionell „wegorganisiert”

Moderne Familienpolitik bedeutet heute, sein Kind vom ersten bis zum achtzehnten Lebensjahr möglichst ganztags und flächendeckend fremdbetreuen zu lassen. Wer Zweifel an diesem Konzept äußert, gilt schnell als reaktionär, intolerant, konservativ oder naiv. Ungeachtet der hohen, in einigen Einrichtungen dennoch verbesserungswürdigen Qualität der Krippen bedeutet es für die meisten Kinder, ihren Tag überwiegend in Institutionen statt im häuslichen Umfeld zu verbringen, gemeinsam mit einer Gruppe meist lärmender Gleichaltriger. Die in den ersten Lebensjahren eines Kindes so wichtige Eins-zu-eins-Betreuung wird in unserer Gesellschaft marginalisiert. Stattdessen müssen sich schon die Kleinsten in Verzicht auf Zuneigung üben, denn bei aller Hingabe zu ihrem Beruf schaffen es die meisten ErzieherInnen bei den tatsächlich gegebenen Betreuungsschlüsseln nicht mehr, jedem Kind in dem Maße gerecht zu werden, wie es nötig wäre.

Kleinkinder werden nicht selten krank in die Kita gebracht, da der Arbeitgeber einen längeren Ausfall auf Dauer nicht duldet. Wahrscheinlich wird es in Zukunft eher Krankenstationen in Kindergärten und Schulen geben, als dass man die Elternhäuser dahingehend stärkt, sich selber um ihre Kinder kümmern zu können. Nicht nur die Pflege, auch immer mehr Erziehungsaufträge werden an die pädagogischen Institutionen abgegeben. Wäre es nicht wünschenswerter, wenn die Eltern selber die Möglichkeit hätten, ihren Kindern durch Vorbild die Gelegenheit zur natürlichen Nachahmung zu geben? Ist die Interaktion zwischen den Eltern und ihren eigenen Kindern nicht wesentlich lebendiger als ein pädagogischer Rahmen es möglich machen kann? Wird nicht beiden Seiten, Eltern und Kindern, durch dieses System etwas genommen, nämlich gemeinsam verlebte Zeit? 

Das gemeinsame Leben schrumpft

Seitens der Erwachsenen wird häufig betont, wie herrlich es für ein Kind doch sein müsse, den ganzen Tag mit anderen Kindern verbringen zu können. In der Kita und im Hort sei dies ja gegeben. Mit dem Unterschied jedoch, dass sie sich dort in einer gewissermaßen künstlich geschaffenen Umgebung befinden, permanent unter Aufsicht pädagogischer Angestellter stehen und auch sozialen Konstellationen ausgesetzt sind, die sie in ihrer Freizeit vielleicht nicht täglich wählen würden. Mit Nachbarskindern unbeobachtet im Freien zu spielen und dabei die Möglichkeit zu haben, sich jederzeit ins elterliche Umfeld zurückzuziehen, so etwas erleben unsere Kinder heutzutage viel zu wenig. 

Rückzug und Muße als Luxusgut für Kinder

Dennoch wird ständig betont, wie glücklich die Kinder in der Kita und im Hort seien. Natürlich bieten Betreuungsangebote manchen Kindern durchaus Stabilität und Chancen, die sie in ihrem eigenen Umfeld nicht erhalten würden. Aber ist es wirklich die vollkommene Zufriedenheit, die uns entgegentritt, wenn wir unser Kind abholen, das sich nicht von seinen Spielkameraden trennen will? Oder ist es in einigen Fällen nicht auch einfach gewohnheitsmäßige Resignation? Das anfängliche Weinen hat zumindest nicht dazu geführt, dass Mama oder Papa einen wieder mit nach Hause genommen haben. Wieso also nicht einfach willenlos akzeptieren, dass sich der Alltag nun hauptsächlich institutionell abspielt? Viele Kinder haben die mögliche Alternative ja gar nicht kennenlernen können. Rückzug und Ruhe sind für Kinder ein Luxusgut geworden, mit dem sie wahrscheinlich sogar kaum noch etwas anfangen könnten. Was mag das mit einer Persönlichkeit machen, wenn nicht einmal mehr in der Kindheit Zeit dafür bleibt, für ein paar Stunden am Tag mal ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein, sich auch mal zu langweilen, wie es Experten übrigens immer wieder mahnend empfehlen? Und was für Werte vermitteln wir innerhalb einer Gesellschaft, wenn Individualität und freie Entfaltung keine Rolle mehr spielen, sondern es nur noch darum geht, sich wahlweise durchsetzungsstark oder angepasst in einer Gemeinschaft zu behaupten, die keinen Stillstand mehr duldet?

Die Bedürfnisse der Kinder sind die Basis für die Zukunft

Trotzdem gibt es sie, die das massive Fremdbetreuungskonzept kritisch sehenden und zumindest warnenden Stimmen von Kinderärzten, Bindungsforschern, Psychologen, Pädagogen und anderen (u.a. Gerald Hüther, Jesper Juul, Herbert Renz-Polster, Rainer Stadler). Vermehrt regt sich auch unter den Eltern Widerstand, ebenso wie manche ErzieherInnen angesichts der hohen Erwartungen verzweifeln, weil sie ihnen unter den gegebenen Umständen einfach nicht entsprechen können. Leider bekommen diese Stimmen noch zu wenig Gehör. Es braucht Ausdauer, Mut und Durchhaltevermögen, um sich in diesen Themen einzubringen. Die Umstände und die Zeiten haben sich geändert, in vielen gesellschaftlichen Bereichen sind neue Entwicklungen auch erfreulich und begrüßenswert. Die Bedürfnisse von Kindern jedoch waren und sind bis heute dieselben geblieben und es liegt in unserer Hand, sie verantwortungsvoll zu wahren und ihnen gerecht zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Motherbook.  

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