Foto: Lars Mensel

Julia Korbik: „Von Simone de Beauvoir können wir lernen, dass wir immer weiter kämpfen müssen”

Simone de Beauvoir war eine der großen Denkerinnen des 20 Jahrhunderts. Julia Korbik hat mit „Oh Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten!“ ein Buch geschrieben, das zeigt, wie wichtig ihr Werk auch heute noch ist.

 

„Schon 1949 hat Simone de Beauvoir Dinge geschrieben, die noch heute eine wahnsinnige Aktualität besitzen.” 

„Simone de Beauvoir – war das nicht die Frau von Sartre?” Diese Frage habe ich tatsächlich schon oft gehört. Zum einen war Simone de Beauvoir aber gar nicht Sartres Frau, sondern nur seine Lebensgefährtin. Die beiden führten eine offene Beziehung, in der sie beide anderen Partner, Simone Männer und Frauen, hatten. Simone de Beauvoir war aber auch Sartres engste Vertraute. Sie tauschten sich über philosophische Ideen aus, waren auch intellektuelle Partner, entwickelten die Gedanken des jeweils anderen weiter, ebenbürtig. Simone de Beauvoir war Schriftstellerin, Philosophin, Feministin und Aktivistin. Und viele ihrer Gedanken sind bis heute von erdrückenden Aktualität. 

Und genau deshalb, findet die Schriftstellerin und Journalistin Julia Korbik, sollten gerade junge Frauen Simone wiederentdecken. Zu diesem Zweck hat sie ein sehr gelungenes Einsteigerwerk über die große Denkerin des 20. Jahrhunderts geschrieben. „Oh Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten” bietet einen Einblick in Simones Leben und ihr vielschichtiges Werk. Julia Korbik, die bereits seit 2016 auf ihrem Blog „Oh Simone” über Simone de Beauvoir schreibt , zeigt, was man von Simone lernen kann, was ihre Werke zur aktuellen feministischen Debatten beitragen können und vor allem, warum man keine Angst haben sollte, sich auf ihre Werke einzulassen. Das wohl berühmteste Zitat de Beauvoirs stammt aus „Das andere Geschlecht: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.” Julia Korbik macht mit „Oh Simone!” deutlich, warum es sich lohnt, hinter das Zitat zu blicken. Wir haben sie zum Interview getroffen und mit ihr darüber gesprochen, was Simone de Beauvoirs Werk damals und heute revolutionär macht, was Simone für sie ganz persönlich bedeutet und welches Buch man zum Einstieg lesen sollte. 

***In eigener Sache: Julia Korbik wird auch als Speakerin beim FEMALE FUTURE FORCE DAY am 12. Oktober 2019 dabei sein. Die limitierten Early-Bird-Tickets für 159 Euro gibt es so lange der Vorrat reicht! Ihr wollt auch in Berlin dabei sein? Dann findet ihr hier das Programm und alle Infos zum DAY.

Warum sollten wir Simone de Beauvoir wiederentdecken? 

„Weil sie schon damals eine sehr moderne Frau war. Und dieser Spirit lebt in ihren Schriften weiter. Ich finde es immer traurig bei Simone de Beauvoir, dass zwar viele schon von ihr gehört haben und zum Beispiel ihr wohl berühmtestes Zitat kennen – ,Man wird nicht als Frau geboren, man wird es’ – aber mehr eben nicht. Ich kenne ganz viele Menschen, auch Feministinnen, die immer sagen: ,Ja, Simone de Beauvoir kenne ich natürlich – aber ,Das andere Geschlecht’ habe ich noch nie gelesen. Deswegen denke ich, dass wir sie auf jeden Fall wiederentdecken und –lesen sollten. Schon 1949, in ,Das andere Geschlecht’, hat sie Dinge geschrieben, die noch heute eine wahnsinnige Aktualität besitzen.” 

Hast du dafür ein konkretes Beispiel? 

„Es gibt eine Passage, in der sie sich damit beschäftigt, warum weiße Frauen sich eher mit weißen Männern, anstatt mit anderen Frauen solidarisieren. Eine Passage, die heute perfekt erklärt, warum weiße Frauen Trump gewählt haben. Das war für mich noch einmal so eine Entdeckung, die ihre Aktualität deutlich macht. Aber auch ganz viele philosophische Ansätze ihrer Schriften sind heute noch relevant. Sie fragt sich zum Beispiel eigentlich die ganze Zeit: ,Wie können wir ein authentisches Leben führen?’ Ich finde, das ist eine Frage, die in unserer Zeit immer noch gerade junge Menschen beschäftigt. Eine Frage, die ich persönlich mir zum Beispiel ständig stelle. Simone de Beauvoir wirft diese Frage immer wieder auf. Sie fragt auch: ,Wie können wir mit anderen so in Verbindung treten, dass wir gemeinsam Dinge voranbringen können?’ Ich glaube, das sind sehr moderne Fragen und Gedanken, über die man heute noch diskutieren kann.” 

„Ich würde mir wünschen, dass mehr junge Menschen entdecken, was für eine moderne und kluge Frau sie war.”
 

Ist es denn überhaupt ein Wiederentdecken? Für wen hast du das Buch geschrieben? 

„Ich würde mir natürlich wünschen, dass vor allem junge Menschen sie ganz neu- bzw. wiederentdecken. Vor allem da habe ich den Eindruck, dass der Name Simone de Beauvoir zwar bekannt ist, aber man verbindet mit ihr eigentlich nur die Tatsache, dass sie Feministin war. Sie wird sehr auf diesen Aspekt reduziert. Und ich habe den Eindruck, dass sie, auch dadurch, teilweise sehr einschüchternd wirkt. Viele meiner Freunde sagen: ,Ja, Simone ist ja ganz spannend, aber ich traue mich da nicht so richtig ran.’ Da denke ich dann immer: ,Warum?’ Bei anderen Menschen haben wir solche Hemmungen schließlich auch nicht. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass man ihr gar nicht zutraut, dass sie auch tolle Romane geschrieben hat. Man hat immer nur diesen mächtigen Klopper ,Das andere Geschlecht’ im Kopf. Und deshalb würde ich mir einfach wünschen, dass mehr junge Menschen entdecken, was für eine moderne und kluge Frau sie war – und wie relevant ihre Gedanken auch heute noch sind. Und sie war eben nicht nur Philosophin und Feministin, sondern auch eine große Schriftstellerin.” 

Welches Werk sollte man zuerst von ihr lesen? 

„Ich finde, ein guter Einstieg ist zum Beispiel ,Sie kam und blieb’, ihr erster Roman. Der erzählt sehr schön, angelehnt an ihre eigenen Erfahrungen mit Sartre, eine Ménage-à-trois, eine Dreiecksbeziehung, im Paris der 30er Jahre. Neben der Romanhandlung stecken aber auch darin schon viele philosophische Gedanken, viele der existenzialistischen Ideen. Die zeigen sich in Dialogen und darin, wie die Personen handeln. Das ist ein super Einstieg. Direkt ihre philosophischen Schriften zu lesen, stelle ich mir tatsächlich schwierig vor. Das habe ich am Anfang selbst nicht gemacht. 

,Die Mandarins von Paris’, ihr wohl bekanntester Roman, für den sie 1954 den französischen Literaturpreis ,Prix Goncourt’ gewonnen hat, ist auch toll. Der ist episch, der liest sich wunderschön und auch darin steckt wieder viel Philosophisches, aber auch viel Politisches. Man merkt, dass sie zu diesem Zeitpunkt sehr politisiert war. Schön sind auch ,Die Memoiren einer Tochter aus gutem Hause’. Teilweise setzen die zwar sehr viel voraus, man muss sich mit den zeitlichen Umständen auskennen, aber sie sind trotzdem ein schöner Einstieg, um Simone auf eine sehr persönliche Art kennenzulernen.” 

Du sprichst im Buch eigentlich immer sehr vertraut von Simone. Bei Sartre aber immer von Sartre, nicht von Jean-Paul. Woran glaubst du, liegt es, dass Simone so eine Vertrautheit auslöst? 

„Schon für meinen Blog habe ich mir die Frage gestellt: ,Wie spreche ich sie jetzt an?‘ Man will sie zugänglich machen, dann ist da aber immer dieser sperrige Name: Simone de Beauvoir, ,De Beauvoir sagt …’ Der Blog selbst heißt ja auch ,Oh Simone’ – warum also nicht einfach auch ,Simone’ schreiben? Beim Buch war es dann ähnlich, eine sehr bewusste Entscheidung. Es ist ja auch keine klassische Biographie oder wissenschaftliche Analyse, sondern ein Mix aus ganz verschiedenen Dingen, der Lust darauf machen soll, sie zu entdecken. Und da war dann eben klar: Sie wird einfach Simone heißen. Das gleiche gilt auch für die verschiedenen kurzen Biografien von Weggefährten und –gefährtinnen Simones. Auch da habe ich einfach die Vornamen genommen, um diese gewisse Intimität zu erzeugen. Bei Sartre ist das komischerweise anders ­– aber das ging auch vielen Leuten in seinem direkten Umfeld so. Es gibt Menschen, von denen spreche ich immer nur mit Vornamen und von anderen nur mit Nachnamen. Da gibt es im Buch tatsächlich keine einheitliche Linie.” 

„Man kann in ihrem Werk viele Bezüge zu #Metoo finden.”
 

Gab es Kritik daran, dass das Buch keine klassische Biografie ist? 

„Ja, ich glaube, manche Leser wollen tatsächlich gerne eine klassische Biografie lesen und merken dementsprechend an, dass dieses oder jenes aber auf jeden Fall noch reingemusst hätte. Das kann ich aber einfach nicht leisten mit dieser Art von Buch – und darum ging es mir auch nicht. Mir – und auch dem Verlag – war immer klar, dass es ein Einstiegswerk werden soll. Und das macht das Buch auch deutlich. Wer Simone de Beauvoir ausführlich studiert hat, weiß natürlich schon Bescheid  – aber auch für die Leute gibt es in dem Buch noch Dinge zu entdecken. 

Teilweise habe ich den Eindruck, dass dem Buch zum Vorwurf gemacht wird, dass es keine Antwort auf #Metoo gibt, aber ich hatte das Buch längst abgegeben, als der Hashtag aufkam. Dennoch lautet die Frage nun sehr oft: ,Was hätte Simone de Beauvoir zu #Metoo gesagt? Warum steht dazu nichts im Buch?’ Der Grund ist eindeutig, aber dennoch kann man in ihrem Werk viele Bezüge zu #Metoo finden. Simone hatte zum Beispiel in der Zeitung ,Les Temps Modernes’, die sie gemeinsam mit Sartre gegründet hat, die Rubrik ,Le sexisme ordinaire’ gegründet, in der Leserinnen ihre Erfahrungen mit Alltags-Sexismus einsenden sollten. Dahinter steht die gleiche Intension wie bei #Aufschrei oder #Metoo.” 

Was war damals das Revolutionäre ihr? Und was ist es heute? 

„Simone de Beauvoir hat als eine der ersten in ,Das andere Geschlecht’ das biologische vom sozialen Geschlecht getrennt. Das war skandalös und revolutionär. Sie hat aber auch Themen wie Prostitution, Homosexualität, Verhütung und Abtreibung diskutiert. Das sind Themen, die uns heute vielleicht banal vorkommen – wobei ja auch oft leider auch wieder überhaupt nicht – die anzusprechen damals aber höchst skandalös war. Sie hat es trotzdem getan. Ohne immer Antworten zu haben. Einige ihrer Ansichten sind aus heutiger Sicht sicherlich auch problematisch. Man muss ihre Schriften immer im Kontext ihrer Zeit sehen. Aber sie hat durch das Ansprechen dieser Dinge, diese überhaupt erst verhandelbar gemacht. Wir können heute auch über solche Dinge sprechen, weil Simone de Beauvoir sie irgendwann mal aufgeschrieben und, öffentlich angeprangert hat: Frauen müssen abtreiben dürfen, freien Zugang zu Verhütung haben und arbeiten gehen dürfen. Das war damals revolutionär und ich denke, dass dürfen wir auch heute nicht für selbstverständlich nehmen. Wenn man sich zum Beispiel den Diskurs zum Thema Abtreibungen anschaut, muss man sich fragen, ob wir wieder in den 1950er Jahren gelandet sind. Ganz im Sinne Simones: Wir haben schon viel erreicht, aber das heißt nicht, dass wir uns jetzt zurücklehnen und abwarten können. Wir müssen immer weiterkämpfen.” 

„Simone hat ihre Stimme als berühmte Person in den Dienst der feministischen Bewegung gestellt.”
 

Was kann Simone de Beauvoir für den Feminismus heute bedeuten? 

„Simone de Beauvoir gilt ja auch unter Feministinnen oft als sehr altmodisch. Vieles, was sie damals als eine der ersten aufgeschrieben hat, ist heute selbstverständlich, zumindest in feministischen Kreisen. In Bezug auf Gender sind wir ja zum Beispiel schon viel weiter. Simone geht ja im Prinzip nicht über die Zweigeschlechtlichkeit hinaus. Heute dekonstruieren wir Geschlechterkategorien. Was hat Simone de Beauvoir da noch zu suchen? Ich denke, obwohl sie da, wenn man so will, an einem Punkt stehen geblieben ist, war es trotzdem revolutionär. Es ist die Basis für unsere heutigen Diskussionen. Wir können im Prinzip nur so über Geschlecht sprechen, wie wir es heute machen, weil sie irgendwann gesagt hat: Biologisches und soziales Geschlecht sind nicht das gleiche. All das, was sie zum Thema Frauenrechte, Geschlecht, Gleichberechtigung geschrieben hat, motiviert einen auch heute unglaublich. Gerade weil sie eben diese Einstellung hatte, sich nicht unterkriegen zu lassen, immer weiter zu machen, wachsam zu sein. 

Außerdem war Simone de Beauvoir, das finde ich so toll an ihr, sehr lernwillig. Sie hatte eine klare Meinung, war aber auch immer bereit mit ihren Gedanken noch einmal die Richtung zu wenden, wenn jemand sie kritisiert hat. Sie hat stetig dazu gelernt. Sie ist ja quasi als alte Frau zur feministischen Bewegung der 1970er Jahre gekommen und hat dort das Wissen der jungen Generation geradezu aufgesogen. Auch das kann man von ihr lernen. Sie hat ihre Stimme als berühmte Person in den Dienst der feministischen Bewegung gestellt.” 

In deinem Buch schreibst du: „So lebensbejahend und zuversichtlich Simone selbst ist, so ist auch ihre Philosophie” – Trump, die aktuelle Debatte um Abtreibungen, der Backlash zu #Metoo: Glaubst du, sie wäre heute frustriert? 

„Verbittert wäre sie, denke ich, nicht. Ich glaube, sie wäre immer eine Person, die aktiv ist, die reist, die mit Menschen spricht. Aber erschöpft wäre sie vielleicht. Es ist ja auch ermüdend, wenn man sieht, wie politische Träume zerplatzen, wenn man sieht, dass es oft einen Schritt vorwärts und zwei zurückgeht. Das musste sie ja schon zu Lebzeiten lernen. Aber ich glaube, sie hat nie die Zuversicht verloren, dass man immer etwas tun kann. Auch das kann man sich von ihr abschauen. Aber so ein Trump hätte sie wahrscheinlich endlos frustriert. Obwohl sie dann wahrscheinlich erst einmal hingereist wäre und mit den Frauen vor Ort gesprochen hätte.” 

Du beschreibst im Buch immer wieder, wie vielseitig Simone und ihr Werk sind. Was macht sie für dich ganz persönlich aus? 

„Sie ist so vieles für mich: Wenn ich gerade keine Lust habe zu arbeiten, reicht es die Briefe an Sartre zu lesen. Bei den detaillierten Beschreibungen ihres Arbeitsalltages kann man gar nicht anders als sich an den Schreibtisch zu setzen. Oder in politischer Hinsicht: Wenn ich mich manchmal umschaue und frage, was hier eigentlich gerade passiert, finde ich immer wieder Antworten in ihren Texten – natürlich immer im Kontext ihrer Zeit betrachtet. Aber auch ,Das andere Geschlecht’ noch mal zu lesen, ist für mich immer wieder eine riesige Motivation. Besonders an Tagen, an denen ich entweder schreien oder mich im Bett verkriechen möchte, hilft es mir zu sehen, wie es damals war und was Simone alles gemacht hat und dass es eben doch vorangeht.  

Aber ich lese auch ihre Romane total gerne, weil sie es dort schafft mit Geschichten philosophische Ideen rüberzubringen, die Sartre nie so vermitteln konnte. Es ist toll, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Im Prinzip ist sie für mich Motivationstrainerin, aber auch Inspiration und Herausforderung, weil ich mich auch oft, gerade bei der Lektüre von Briefen, sehr über sie ärgere. Manchmal war sie zum Beispiel sehr stur und hart in ihren Urteilen über andere Menschen. Und weil sie manchmal auch einfach falsch lag. Ja, das alles ist Simone de Beauvoir für mich. Ein Vorbild, aber eben kein perfektes. Aber wer kann das schon sein?”

 

Julia Korbik: „Oh, Simone!: Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten”, Rowohlt, 2017, 320 Seiten, 12,99 Euro. 

 

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