Familie, Finanzen und Besitz ist ganz klar Frauensache in Mawlynnong. Denn hier herrscht eine matrilineare Kultur. Welche Konflikte in einer Welt entstehen, in der die Männer die Unterlegenen sind, hat uns die Fotografin Karolin Klüppel im Interview erzählt.
Sechs Monate im Mädchenland
Eine Kultur, in der ausschließlich die Frauen das Sagen haben über Besitz, Familie und Finanzen? Nein, das ist keine Erfindung, die gibt es tatsächlich. Und zwar in dem Dorf Mawlynnong, im Nordosten Indiens. Die Fotografin Karolin Klüppel hat zehn Monate dort gelebt und die matrilineare Kultur in ihrem Bildband „Kingdom of Girls“ bzw. „Mädchenland“ festgehalten, das bei Hatje Cantz erschienen ist. Ihre Fotos zeigen Mädchen, die sich gerade die Haare kämmen, ein rostbraunes Huhn auf ihrem Arm halten, sich ankleiden oder einfach nur am Wasser liegen. Leicht wirken die Bilder, authentisch und „auf Augenhöhe“ – das war ihr besonders wichtig, wie uns die 31-Jährige im Interview erzählt hat.
Liebe Karolin, wie hast du die matrilineare Gesellschaft vor Ort erlebt?
„Das Matrinlineare der Khasi-Kultur definiert sich zum einem dadurch, dass die Mutter den Familiennamen an die Kinder weitergibt und die Kinder damit zu ihrem Familienklan gehören. Zum anderen hat die Frau das Sagen über Eigentum und Finanzen. Das Geld verdient zwar primär der Mann, wird aber am Ende der Woche gleich an die Frau weitergegeben, die es verwaltet. Außerdem typisch für die matrilineare Kultur ist, dass die jüngste Tochter, traditionell genannt ,Khaddhu‘, den gesamten Besitz erbt und damit für die Altersversorgung der Eltern verantwortlich ist.“
Die meisten Bilder sind aus der Situation heraus entstanden. Hier: Deng in der Küche.
Das heißt trotz der Rechte der Frauen, ist der Mann im konventionellen Sinne noch der Hauptverdiener der Familie?
„Ja, das Familienleben ist leider doch noch sehr konventionell. In den Dörfern haben nur manche Frauen gearbeitet. Die, die das Geld nicht unbedingt brauchten, haben sich zuhause um die Kinder gekümmert. Die Männer haben sechs Tage die Woche gearbeitet, waren dafür aber kaum in das Familienleben involviert. In der Landwirtschaft, was in den Dörfern meist die Einnahmequelle ist, verdienen Männer sogar doppelt so viel wie Frauen.“
Welche Konflikte entstehen in einer Welt, in der Männer nicht die gleichen Rechte haben wie Frauen?
„Teilweise sind die Männer sehr verantwortungslos aufgetreten. Ich hatte das Gefühl, dass ihre Rolle, in der sie wirklich nur der Ernährer der Familie sind, ihrem Selbstvertrauen geschadet hat und sie sich dadurch sehr jugendlich verhalten haben.“
Inwiefern?
„Nach der Arbeit haben sie meistens eine halbe Stunde mit den Kindern gespielt und sind dann mit den Kumpels losgezogen, um abseits ihren Whiskey zu trinken. Als Ernährer, der keine Besitztümer hat und auch seinen Namen nicht weitergibt, fühlten sie sich für die Familie kaum verantwortlich. Ich nehme mal an, dass das auch ein Grund ist, warum es in vielen Dörfern dort Probleme mit Alkoholismus und Drogenmissbrauch gibt.“
Du sagst, die Männer fühlen sich in ihrem Selbstbewusstsein verletzt – gibt es in der Khasi-Kultur dann auch Männerbewegungen, die mehr Gleichberechtigung fordern?
„Ja, es gibt die SRT. Die hat über 4.000 Mitglieder und kämpft für die Emanzipation des Mannes. Ihr Ziel ist, das matrilineare System zu kippen, weil die Männer so derzeit kaum Verantwortung tragen und dadurch, dass ihnen das Haus nicht gehört und auch die Kinder nicht zu ihrem Familienklan gehören, sozusagen vogelfrei sind. Und tatsächlich verlassen auch viele Männer ihre Frauen.“
Im Gegenzug bedeutet die matrilineare Kultur aber für die Frauen auch eine Chance auf Selbstverwirklichung?
„Ja, auf jeden Fall! In Shillong gab es beispielsweise sehr viele Plakate für Universitäten, auf denen auch immer eine Studentin abgebildet war. Im indischen Vergleich sind die Khasi sehr gebildet und auch sehr erfolgreich. Oft verlassen sie auch ihre Dörfer, um in größeren Städten zu arbeiten oder ins Ausland zu gehen. Die gesamte indische Kultur ist ja auf einem großen Familienzusammenhalt aufgebaut. Und alle indischen Kinder haben auch mehr Pflichten als deutsche Kinder, weil sie beispielsweise auch die Altersversorgung der Eltern garantieren. Bei den Khasi ist es die jüngste Tochter, die sich darum zu sorgen hat. Ich denke, der Titel ,Khaddhu‘ kann auch eine große Belastung sein, aber mittlerweile sind die Rollen nicht mehr ganz so festgelegt und auch eine andere Tochter könnte das übernehmen.“
Yasmin hält ein Huhn auf dem Arm.
Du erwähntest bereits die gesamte Kultur. Wir wird denn die Khasi-Kultur im Rest von Indien wahrgenommen?
„Khasi ist eine Minderheit und für die Inder sind Minderheiten etwas, auf das sie eher herabschauen und nicht wirklich daran interessiert sind. Sie können die Kultur nicht ganz verstehen, sie erscheint ihnen vermutlich auch suspekt, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, dass ihre Frauen so viele Rechte haben.“
Ist den Khasi-Mädchen bewusst, dass ihnen eine besondere Bedeutung zukommt?
„In jungen Jahren eher nicht. Später, mit etwa zehn Jahren, wahrscheinlich schon. Dann lernen sie in der Schule ja auch die indische Kultur kennen und vergleichen. Ich hatte schon das Gefühl, dass die Mädchen das indirekt spüren, weil die Eltern sie halt sehr lieben und manchmal auch bevorzugen.“
Dadurch, dass Karolin Klüppel die Mädchen in ihrer natürlich Umgebung aufnehmen wollte, sind viele Bilder am Fluss entstanden.
Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
„Einen bestimmten Moment gibt es nicht, dafür aber ein Kind, mit dem ich sehr viel verbinde: Grace, die älteste Tochter meiner Gastfamilie. Sie war sehr beeindruckend. Mit gerade mal sieben Jahren konnte sie ganz alleine auf ihre drei jüngeren Geschwister aufpassen. Ich konnte richtig merken, wie sie an ihren Aufgaben gewachsen ist. Sie wusste genau, wann sie spielen durfte und wann es Zeit war, ihrer Mutter zu helfen.“
Denkst du, dass die Khasi-Kultur weiterhin bestehen bleibt oder irgendwann von der indischen Kultur überschattet wird?
„Ich denke, dass die Gesellschaftsform auf jeden Fall bleiben wird. Die Männerbewegung gibt es schon seit 20 Jahren und die haben noch nicht wirklich etwas bewirkt. Khasi-Frauen können sich auch gut in ihrer Kultur behaupten! An sich funktioniert die Kultur ja auch sehr gut, nur könnte ihr etwas mehr Liberalität und Gleichberechtigung nicht schaden.“
Was wäre denn ein denkbarer Lösungsansatz?
„Hätten die Männer mehr Rechte, würden sie auch mehr Verantwortung für ihre Familie übernehmen. Würden die Frauen beispielsweise genauso viel Geld verdienen wie die Männer, wären sie auch noch unabhängiger und eine Trennung von ihrem Mann würde sie nicht mehr in so große finanzielle Schwierigkeiten bringen. Und bezüglich des Erbes werden die Traditionen auch mehr und mehr aufgehoben und nicht mehr nur an die jüngste Tochter vererbt, sondern auf alle Kinder verteilt. Die Eltern verstehen auch, dass es nicht gut ist, den Söhnen gar nichts mitzugeben.“
Quelle aller Bilder: Karolin Klüppel
Mädchenland / Kingdom of Girls, erschienen bei Hatje Cantz, 92 Seiten.
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