Foto: Everyone’s Going to Die Limited

Nora Tschirner: „Freundschaft ist ein Balsam, den man nicht ersetzen kann“

„Everyone’s going to die“ – mit diesem Film schlug Nora Tschirner als Melanie nach Keinohrhasen & Co. melancholischere Töne an. Wir sprachen mit Nora über Freundschaft, Einsamkeit und die Dreharbeiten.

 

Zwei Spielfiguren am Rande des Spielfelds 

Manchmal reicht nur ein kleiner Stoß oder ein kleiner Riss bis die Fassade zu bröckeln anfängt. Das Lebensgerüst, das man sich über Jahre hinweg aufgebaut hat, gerät ins Wanken. Selbst wenn die Menschen um einen herum es gar nicht unbedingt merken, stellt man sich nicht nur selbst, sondern auch das Lebensziel in Frage: War’s das? Mache ich so weiter? Oder, kann ich genug Mut aufbringen, um meinem Leben eine neue Richtung zu geben? 

Die beiden Hauptdarsteller des Films „Everyone’s going to die“ befinden sich genau an diesem Punkt. Melanie, gespielt von Nora Tschirner, kommt eigentlich aus Deutschland, ist jedoch mit ihrem Verlobten nach England gekommen und auf der Suche nach einem Job. Ray, gespielt von Rob Knighton, ist zu Ehren seines kürzlich verstorbenen Bruders, zu dem er jahrelang keinen Kontakt hatte, ebenso heimgekehrt.

Gegensätzlicher könnten sie kaum sein: Melanie und Ray.        Quelle: Everyone’s Going to Die Limited

Als sie in einem Café im englischen Folkstone aufeinander treffen, prallen mit Melanie, die sehr gesprächig ist, und Ray, mürrisch dreinblickend und eher mundfaul, zwei Welten aufeinander, und werden doch irgendwie eins: es ist der Beginn einer Freundschaft. 

Wir haben Nora Tschirner getroffen und mit ihr über Freundschaft, Orientierungslosigkeit sowie ihre Dreharbeiten in England gesprochen. 

Dein neuer Film
„Everyone’s going to die“ handelt davon, nach Hause zu kommen und von
Orientierungslosigkeit. Wann warst du das letzte Mal orientierungslos?

„Um ehrlich zu sein, auf dem Weg hierher, weil
ich einfach in den falschen Stadtteil gefahren bin. Genau vor einer Stunde
suchte ich einen Hauseingang bei einem Haus, das aber hier stand an einer
anderen Adresse, weil wir einfach ein Missverständnis hatten.“

Was machst du gegen das
Gefühl von Einsamkeit?

„Mich mit Leuten
verbinden, Freunde zusammentrommeln. Einfach direkt anrufen, das ist ja bei uns
heutzutage so als Großstadtneurotiker, dass man sich erstmal wieder daran
gewöhnen muss. Dass man seine Leute einfach wieder anruft und sagt: ,Hallo,
ich brauche einen Kontakt. Du fehlst mir, bitte komme. Wann sehen wir uns?‘ Das
habe ich mir in den letzten Jahren wieder sehr angewöhnt. Und das ist, finde ich, die beste und urälteste Waffe der Welt.“

Wo fühlst du dich momentan Zuhause?

„Berlin ist mein absolutes
Zuhause. Ich liebe es sehr, zu reisen, aber als Basis wird es immer auf Berlin-Brandenburg
hinauslaufen. In der Landschaft um Berlin herum verbringe ich auch
sehr viel Zeit.“ 

Die Charaktere Melanie
und Ray sind sehr unterschiedlich. Melanie gerade verlassen, auf der Suche nach
einem Job. Ray wirkt mit seinem Anzug und seinem Auftreten sehr selbstbewusst.
Melanie redet viel, Ray sehr wenig. Was ist es, das die beiden „Extremen“
zusammenführt und verbindet?

„Die sind beide aus dem Spiel gefallen. Wie so zwei Spielfiguren, die sich plötzlich neben
das Spielfeld gestellt haben und merken, dass es ein Spielfeld ist. Und sich außerdem denken: ,Oh Gott, was machen wir hier eigentlich nochmal‘? Beide befinden sich gerade in einer Standby-Position im Leben. Das zeigt sich sehr durch ihre Depression sowie Isolation. Sie befinden sich beide plötzlich an einer Kreuzung, wo alles in Frage steht, wo sie sich selbst in Frage stellen, alles einfach von Zweifeln überlastet wird – das verbindet sie.“ 

Was hälst du von der These „Zusammen ist man weniger allein“? Sind Freundschaften immer DIE Lösung, wenn man
sich alleine fühlt?

„Egal, ob Freundschaft oder Familie ­– Ich glaube nach wie vor, dass der Mensch ein soziales Tier ist, das eingeht
ohne andere. Zusammen ist man nicht nur weniger alleine, sondern alleine kann
man auch gar nicht richtig weiterleben. Es gibt Leute, die
brauchen mehr Kontakte, andere weniger. Aber ich glaube, dass es eine
Riesenlösung ist, sich ernsthaft und richtig tiefgründig miteinander zu verbinden.
Ob es jetzt Freundschaften sind oder Liebesbeziehungen – das ist ein Balsam,
das kann man nicht ersetzen.

Außer halt durch Facebook
und Twitter (lacht). Wenn man da punktet, dann braucht man die ganze Homie-Scheiße
natürlich nicht mehr.“

Was hat dich an der Rolle so gereizt? Welche Eigenschaften haben
Melanie und Nora Tschirner gemeinsam?

„Mich reizt eher ein Buch, als dass mich eine Rolle reizt. Wenn mich die Rolle nicht reizt, dann würde ich das auch nicht unbedingt
spielen. Hier war es so, dass ich das Buch gelesen habe und sofort am
nächsten Tag anfangen wollte zu drehen. Das hat so eine klare Sprache, einen Tonfall gesprochen, was
selten ist bei Büchern, sodass man es schon richtig beim Lesen spürt und alles nur noch folgerichtig findet,
was dann visuell am Set entsteht. 

Ich habe einfach geliebt, wie es geschrieben ist. Und Max, der mit Michael Woodward für einen großen Teil der
Dialoge zuständig ist, ist einer meiner nächsten Freunde geworden. Den habe ich
im Prinzip schon im Schreiben erkannt, das war einfach eine total irre Begegnung.
Das war für mich ein absoluter ,No-Brainer‘, wie die Amerikaner sagen.“

Sonst machst du hauptsächlich deutsche Filme. Bist du gehemmter, wenn du mit englischer Sprache schauspielerst?

„Ich habe das schon ein
paar Mal gemacht, das war jetzt nicht das Allerneueste für mich. Aber, ja, es ist
ein bisschen weniger leicht als im Deutschen, weil man einfach weniger Möglichkeiten hat, den Satz noch zu Ende zu bringen. Und das ist das, was
einem am meisten die Freiheit nimmt. 

Im Deutschen kriegst du den Satz immer
noch irgendwie zu Ende – auch, wenn Dreiviertel in deinem Kopf zusammenschmilzt – man geht total natürlich in die Szene hinein. 

Ich habe mal einen
spanischen Film gedreht, da war es eine Katastrophe. Weil ich wusste: ,Oh Gott, ich muss
von A nach B kommen, durch genau diesen Slalom-Parcours‘. 

Im Englischen habe ich da nicht so große Probleme, weil ich das sehr liebe und die amerikanische und die englische Kultur einfach ein Teil von mir sind. Ich bin ein totaler Sprachenfan, Englisch war schon immer meine
Lieblingssprache, das macht mich einfach glücklich.“

Könntest du dir vorstellen, in England zu leben?

„Nein, früher konnte ich
mir an jedem Ort, an dem ich für MTV oder für einen Film war oder sonst Zeit
verbracht habe, direkt vorstellen ,Och, hiiier könnte ich doch mal leben‘, aber
mittlerweile weiß ich: will ich gar nicht. Ich bin so verwurzelt.

Ich liebe
Reisen, das ist mir total wichtig, und ich kann mir auch mal vorstellen, ein Jahr irgendwo
in der Pampa zu verbringen, aber so richtig weg von meiner Familie, von meinen
Freunden oder meine über Jahre gebildeten Beziehungen? Nein, ich wüsste gar nicht, was ich ohne all die da soll.“ 

Ist es eigentlich einfacher, mit Leuten zu drehen, mit denen man
befreundet ist, oder eher mit „Fremden“?

„Kann man so nicht sagen.
Ich merke, dass ich immer mehr dazu neige, mit Leuten zu drehen, die ich schon
kenne, weil ich sie einfach schätze. Weil man die Sprache des anderen schon
kennt, der Zeichenvorrat schon
abgeklärt ist. Man wird ja nicht gezwungen, mit irgendwem zu arbeiten. Dann
fängt man nicht jedes Mal wieder bei Null an.“

Was war die größte
Herausforderung bei dem Dreh?

„Der Abschied, dass es
irgendwann zu Ende war.“

Und, ist Rob im echten Leben wirklich so unfreundlich und mürrisch wie Ray im Film?

„Überhaupt nicht! Nein,
das war die allergrößte Herausforderung. Ray war zwei Monate zuvor noch
Teppichverleger und wurde dann irgendwann in London Fields von einem Modelscout
entdeckt. Die Story ist total crazy: Er hat schon für Hermès gemodelt, kürzlich gemeinsam mit David Beckham einen Spot für H&M gedreht, aber im Film hat er vorher noch nie mitgespielt. 

Zwar haben sie natürlich vorab viel geprobt, aber Rob
ist der freundlichste Mensch der Welt, der kann überhaupt nicht mürrisch sein.
Also musst ich mit ihm üben und Spiele machen, wo ich ihn so lange voll quatsche, bis er
sich dann irgendwann mal von mir wegdreht. Aus Rob einen mürrischen, grumpy Typen zu machen, das war die größte
Herausforderung.“ 

Guckst du dir die Filme eigentlich auch selber an? Was geht dir dabei durch den Kopf?

„Ja, sehr gerne. Jetzt gar
nicht im Sinne, dass ich mich dann total beiweihräuchere jedes Mal. Ich sehe
mich selber gar nicht. Ich lege so viel Arbeit da rein, in die Regie, in die einzelnen Szenen, sodass das gesamte Ding am Ende so ist, dass ich mich darin gar
nicht mehr sehe. 

Wenn die
Filme gut funktioniert haben, gehe ich wie jeder Zuschauer nachher rein
und denke, ,Ach guck mal‘ und ,Och nee, jetzt ist die am Ende doch noch mit dem
Til Schweiger zusammen, das hätte ich nicht gedacht, zwischendrin haben die
sich doch schon richtig gestritten‘. Da habe ich keine Befindlichkeiten.“

Wie war denn der Dreh?

„Sechs Wochen hat er gedauert, aber wir
hatten gar keine Kohle. Übrigens waren das die kürzesten und gechilltesten
Drehtage der Welt, weil die alles so krass vorbereitet haben – so etwas habe ich
wirklich noch nie erlebt. Das war der Wahnsinn. 

Der Dreh war extrem entspannt und auch als Team hatten wir eine echt starke Verbindung, weil wir da
eben alle wohnten. Das war schließlich Folkson, eine Stadt, in der kein Mensch von uns wohnte. Die kamen alle aus London und sonst wo her. Das heißt, wir waren dort gemeinsam Ferienlager-mäßig untergebracht. Ich habe mit ein paar Leuten in einem Haus gewohnt, wo das
Produktionsbüro dann unten im Wohnzimmer war, alle vorbeikamen, wir ins Pub
gingen. Das war wie im Ferienlager der Video-AG.“

Warum lautet eigentlich der Titel
„Jeder wird sterben“, wenn dies doch gar nicht passiert?

„Ich habe es immer so
interpretiert, dass man auf einmal in dieser Standby-Situation ist im Leben, in der man merkt ‚Man irgendwie
habe ich mich verfahren‘. Ist das ja eigentlich der Hauptgedanke, könnte man
meinen: ,Alter, check’s mal. Ewig geht’s nicht weiter, irgendwann werden alle
sterben‘. Für mich steckt da sehr dieses ,Love it, change it or leave it‘ Motiv
dahinter. Dass man ganz einfach sagt: Pack dein Leben an und sei nicht passiv. Es geht dabei für mich vor allem um die Sache: ,Was mache ich, wenn ich mich verfahren habe? Habe ich den Mut, etwas zu ändern oder mache ich 100 Jahre lang wie gelähmt
weiter?‘.“

 

Neugierig geworden? Hier und hier könnt ihr euch den Film anschauen. 

 

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