Tausende rufen täglich bei der Telefonseelsorge an. Sie sind auf der Suche nach einem Menschen, der ihnen schenkt, was sie sonst nicht mehr bekommen – Zeit. Unser Partner ze.tt hat sich mit zwei Mitarbeiterinnen der Telefonseelsorge unterhalten.
Zu viele Anrufer
Manchmal, da sagen die Menschen nach dem „Hallo“ kein Wort mehr. Man hört sie leise atmen, ein paar Minuten lang. Man versucht, sie zum Sprechen zu bewegen, durch sanftes Nachfragen. Manchmal gelingt das, und die Anrufer brechen ihr Schweigen. Manchmal aber bringen sie weiter kein Wort über die Lippen. Die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge legen dann auf. Der Mensch am anderen Ende der Leitung ist noch nicht so weit.
Wer für die Telefonseelsorge arbeitet, muss sich einfühlen können. Wissen, wann es angebracht ist, zu sprechen – und wann zu schweigen. 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche. Die 0800 111 0 111 gilt als „Notruf“, und muss daher ständig erreichbar sein. Trotzdem kommen die Mitarbeiter*innen mit den Anrufen nicht hinterher: Die Telekom, die die kostenlosen Leitungen sponsert, misst, dass auf ein laufendes Telefongespräch zehn weitere Versuche kommen.
„Wir schaffen es nicht, alle Anrufer zu bedienen“, erzählt Carla Ortmann. Sie und Martina Kulms sind hauptamtliche Mitarbeiterinnen der Telefonseelsorge in Berlin. Während deutschlandweit Tausende Menschen anrufen, sind es allein in Berlin Hunderte. Im Schnitt werden dort 60 Gespräche am Tag geführt. Wer nicht durchkommt, wird zur Telefonseelsorge Brandenburg weitergeleitet.
Fragt man Kulms, die seit rund 20 Jahren dort arbeitet, nach etwas, das alle Anrufer*innen verbindet, sagt sie: ihre Einsamkeit.
Am Puls der Gesellschaft
Die Telefonseelsorge in Berlin ist die erste und älteste Einrichtung ihrer Art und gehört mit ihren 140 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen zu den größten in Deutschland. Am 6. Oktober 2016 wird sie 60 Jahre alt. Gegründet wurde sie 1956 in Westberlin, ursprünglich als Stelle zur Suizidprävention – zu diesem Zeitpunkt gab es dort die höchste Suizidrate des Landes.
Kulms und Ortmann, die neu bei der Telefonseelsorge ist, gehören zum psychosozialen Team der Einrichtung, sind zuständig für die Organisation, Ausbildung und Supervision. Hauptamtliche Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge haben wie sie in der Regel ein Studium der Psychologie absolviert, häufig in Verbindung mit einer psychotherapeutischen Ausbildung.
Sie arbeiten im dritten Stock eines limonengelb gestrichenen Gebäudes in Neukölln, dicht am Maybachufer, wo ein Kanal der Spree fließt. Ein paar Büros, eine Küche und ein Telefonraum, in dem gesprochen wird. Die Fenster lassen viel Licht rein.
Kulms und ihre Kollegin Ortmann begannen in Berlin wie alle Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge: am Telefon. Die beiden führen heute immer noch Gespräche, aber etwas seltener als früher. Den größten Teil übernehmen die Ehrenamtlichen.
Der Betrieb läuft in vier Schichten, die Mitarbeiter*innen tragen sich nach Belieben in den Plan ein, vier Nächte im Jahr sind aber Pflicht. Tagsüber telefonieren oft die Menschen, die etwas älter sind und am Ende des Arbeitslebens stehen. Abends und in der Nacht sind viele Berufsanfänger*innen oder Studierende am Telefon. Im Schnitt sind die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge in Berlin 40 Jahre alt, zwei Drittel sind Frauen, ein Drittel Männer.
Bei den Anrufer*innen verhält es sich demografisch gleich, sagt Kulms. „Interessant ist, dass Männer immer noch mehr Schwierigkeiten damit haben, ihre Gefühle auszudrücken oder ihre Stimmung zu deuten, als Frauen.“ Die Anrufer*innen bilden einen Querschnitt der Bevölkerung ab – es rufen Menschen aus jeder gesellschaftlichen Schicht an, ohne Ausnahme.
Anders als in den meisten Städten ist die Berliner Telefonseelsorge kirchlich ungebunden – grundsätzlich wird sie von der evangelischen und katholischen Kirche getragen – und finanziert sich als eingetragener Verein hauptsächlich aus Spendengeldern und Förderungen. Bis auf wenige Sprachbarrieren ist das Angebot sehr niedrigschwellig: Bei den Gesprächen gibt es keinen Glauben, kein Äußeres, keine Mimik, kein reich oder arm, kein Alter, keine ablenkenden Faktoren. Nur Worte.
Wenn man so möchte, misst die Telefonseelsorge den Puls der Gesellschaft, sagt Kulms. „Wir bekommen immer die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung mit.“
Von denen, die alles verloren haben
„Bei allen Gesprächen kommt durch, wie vereinsamt die Menschen am Hörer sind“, erzählt Kulms von ihren und den Erfahrungen der ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person single oder seit 40 Jahren verheiratet ist – oft rufen etwa Frauen an, deren Ehemann im Nebenzimmer sitzt.
Die Gespräche haben kein Zeitlimit. Sie können wenige Minuten dauern oder mehrere Stunden. Und die Probleme, mit denen die Anrufer*innen zu kämpfen haben, sind so vielfältig wie die Dauer der Telefonate.
Mal rufen psychisch kranke Menschen an, die sich in einer Betreuungseinrichtung befinden und sich dort trotzdem einsam fühlen. „Sie finden durch den Anruf eine Art Stabilisierung“, sagt Ortmann. So wie die „Wendeverlierer“ – Menschen aus dem Raum Berlin und Brandenburg, die den Umbruch und die veränderte gesellschaftliche Stimmung nicht verkraftet haben, die ihre Arbeit unverschuldet verloren haben und sich nie wieder ganz davon erholen konnten.
Einige rufen beinahe schon im Tagesrhythmus an, die Mitarbeiter*innen nennen diese Menschen „Daueranrufer“, erklärt Kulms. „Das sind oft Menschen, die durch alle soziale Netze gefallen sind.“ Solche, die alles verloren haben, vor allem aber den Austausch zu anderen Menschen. Für sie ist das Gespräch mit der Telefonseelsorge der einzige soziale Kontakt, den sie am Tag haben.
Auch diejenigen, die sich in einer akuten Lebenskrise befinden, rufen an. Manche lassen sich über einen Prozess begleiten, häufig monatelang. Andere fragen, wo sie gezielte Hilfe finden. Die Mitarbeiter*innen vermitteln dann zu weiteren Einrichtungen. Aus dem Konzept der Telefonseelsorge entstanden im Laufe der Jahrzehnte ganz spezifische Hilfstelefone für jegliche Anliegen – etwa ein Telefon für Kinder und Jugendliche oder eines für Opfer häuslicher oder sexueller Gewalt.
Was die Telefonseelsorge den Anrufer*innen schenken können, ist vor allem ihre Zeit. „Das ist heute so rar und kostbar geworden“, sagt Ortmann. Im Gespräch müssen die Mitarbeiter*innen sich ganz zurücknehmen können, gezielt immer weiter kurze Fragen stellen, dadurch kleine Wegsteine legen und das Gegenüber zum Reflektieren anregen – etwa wenn ihre Beziehung endete oder sie von Existenzängsten geplagt sind. Häufig lösen die Anrufer*innen ihre Probleme dann quasi von selbst.
Die Kunst des Zuhörens
Wer bei der Telefonseelsorge ehrenamtlich mitarbeiten möchte, muss eine eineinhalbjährige Ausbildung in einer Gruppe durchlaufen. Auch wenn viele Mitarbeiter*innen jahrzehntelang dabei sind, ist die Fluktuation hoch: Beginnen zehn neue Menschen, hören zehn wieder auf.
„Man lernt in der Ausbildung weniger methodisches Verständnis. Mehr lernt man über sich selbst“, sagt Kulms, die selbst Aus- und Weiterbildungsgruppen betreut. Vor allem lehre man die Kunst des Zuhörens. Ortmann nennt dazu als Beispiel Michael Endes „Momo“, die Menschen auf andere Gedanken bringen kann, indem sie einfach nur aufrichtig und mit voller Anteilnahme zuhört.
Die künftigen Mitarbeiter*innen sollen sich klarmachen, dass sie auch gleichzeitig Anrufer*in sein könnten. „Gespräche müssen von Mensch zu Mensch stattfinden, auf Augenhöhe“, sagt Kulms. Dazu gehöre Empathie, aber vor allem die Fähigkeit zur Selbstreflexion: „Nur wenn man sich selbst kennt, versteht man Themen besser.“
Es sei wichtig, im Blick zu behalten, dass die eigene Wahrnehmungswelt immer eine andere ist. In der einen Woche könnte etwa eine Frau anrufen, deren Mann kürzlich verstarb. In der nächsten könnte eine Frau anrufen, deren Wellensittich verstarb – und diese Frau könnte dadurch ungleich mehr leiden, als die, die ihren Partner verlor. „Wir vermitteln die Erkenntnis, dass wir nie wissen, wie es sich anfühlt.“
Das ist der Unterschied zu weiteren Hilfsangeboten oder Therapien: Es wird lediglich gesprochen, es werden keine Diagnosen gestellt. Die Menschen, die anrufen, sind sich oft ihrer grundlegenden Probleme nicht bewusst, sagt Kulms. „Wir arbeiten nicht lösungsorientiert. Für vieles gibt es keine Lösung.“ Die Telefonseelsorge sei wie eine Bank am Fluss, auf der man sich zufällig trifft, ein kurzes oder langes Gespräch führt – und danach verlässt man sich auch wieder. Ohne Namen, ohne Kontaktdaten.
In solchen besonderen Momenten lernen in der Regel beide Parteien. So auch die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge. Einmal erzählte ein Anrufer beispielsweise nüchtern von einem plötzlichen Todesfall. Trauer war ihm nicht anzuhören. Die kam hingegen bei Kulms auf. Und plötzlich fragte sie sich: Warum bin eigentlich ich traurig – und nicht er? Sie fühlte sich in ihn hinein und übertrug seine Erfahrungen auf sich selbst.
Ihre Empathie half ihr, zu fühlen, was ihr Anrufer nicht zulassen konnte.
Ehrenamtliche berichten laut Ortmann davon, wie viel ihnen die Arbeit gebe, wie viel sie dabei über sich selbst lernten. Ihre Motivation: Sie wollen etwas zurückgeben können. Dennoch: Die Gespräche gehen häufig an die Substanz, sagt sie. Wie schaffen es die Ehrenamtlichen, im Nachhinein mit schweren Gesprächen umzugehen?
Im Schutz der Gruppe
Nach intensiven Gesprächen bereiten die Mitarbeiter*innen sich unterschiedlich auf das nächste vor. Um die Themen zu verarbeiten, essen die einen Kekse, die anderen rauchen eine Zigarette, manche machen einen kurzen Spaziergang. Vor jedem Telefonat müssen sie wieder klar werden, sich von den Emotionen des vorherigen lösen – weil nun wieder neue auf sie warten.
Es ist ein ständiges emotionales Auspendeln zwischen Nähe, die man schenkt, und Distanz, die man braucht, sagt Kulms. „Ideal ist es, wenn man sich dazwischen bewegen kann, um sich selbst nicht zu verlieren.“ Das beginne bei Kleinigkeiten wie der Körperhaltung beim Telefonieren. Wer sitzend in einer nach vorn gebeugten Haltung verweilt, muss sich davon lösen und sich wieder nach hinten lehnen; wer sich zu tief in die Emotionswelt des*der Gesprächspartner*in versetzt, muss analog dazu in Gedanken wieder drei Schritte zurückgehen, um das Gesamtbild wieder sehen zu können.
Scherzanrufe durch Kinder unterbrechen die Arbeit zwar nur selten, aber sie gibt es noch; meistens zu Zeiten, an denen sie gerade aus der Schule kommen. Sie seien eher nervend, rauben sie doch Energie, die zur Vorbereitung auf „echte“ Gespräche verwendet werden müsste, sagt Ortmann. Dennoch hätten Scherzanrufe für sie eine wichtige Funktion: „So bemerken die Kinder, dass da tatsächlich jemand rangeht – dass es uns wirklich gibt.“
Belastend sind Anrufe von Menschen, die versuchen, durch ein vermeintlich ernstes Thema eine Bindung aufzubauen, Mitarbeiter*innen jedoch später merkten, dass sich die Anrufenden dadurch sexuell erregt fühlten und masturbierten, sagt Kulms.
Die schlimmsten Telefonate jedoch sind die mit Anrufer*innen, die versuchen, Druck aufzubauen – indem sie beispielsweise Amokläufe androhen. Andere drohen mit Selbstmord; sagen, sie stünden am Brückengeländer oder hätten eine Pistole am Kopf. Diesen Menschen begegnet Kulms und ihre Kolleg*innen mit Nüchternheit: „Wir sagen ihnen ruhig, dass wir in dieser Atmosphäre nicht mit ihnen sprechen werden“, erklärt Kulms, „wir sagen ihnen: Entweder Sie legen sofort die Pistole weg oder treten vom Geländer zurück oder wir legen auf. Sie dürfen uns dann später wieder anrufen.“
In diesen speziellen Fällen versuchen sie zwar noch, den genauen Standort zu erfragen, um diesen an Rettungsdienste weiterzuleiten, aber was nach dem Auflegen passiert, haben die Mitarbeiter*innen nicht in der Hand. Oft bleibt bei ihnen dadurch ein mulmiges Gefühl. Am nächsten Tag prüfe sie dann die Zeitungen, sagt Ortmann. „Würde man in dieser Drucksituation mit den Anrufern sprechen, wäre das im Nachhinein schwer zu verkraften.“ Es ist ein Schutzmechanismus für die Mitarbeiter*innen.
„Man muss sehr aufmerksam mit sich sein. Es kommt vor, dass man die Distanz aus eigener Kraft nicht halten kann, die es dazu benötigt“, sagt Kulms. Dann spätestens greift der Schutz der Gruppe, des Teams der Telefonseelsorge. Ob am Tag oder in der Nacht: immer ist es möglich, eine*n der hauptamtlichen Kolleg*innen zu erreichen und über die eigenen Gedanken zu sprechen. „Das wird häufig genutzt, gerade nachts, weil da viele schwere Gespräche anstehen“, erzählt Ortmann, die häufig solche Nachbesprechungen mit den Ehrenamtlichen führt. Außerdem sind alle Mitarbeiter*innen verpflichtet, sich regelmäßig in den Supervisions-Gruppen zu treffen, wo Erlebtes verarbeitet wird. Zur Weiterbildung gibt es auch nationale Kongresse und Fachtagungen.
Nach jedem Gespräch fertigen die Mitarbeiter*innen ein Protokoll mit dem Inhalt des Gesprächs an, um in den Supervisions-Gruppen die Gesprächsstruktur erforschen zu können. Anonymität, Schweigepflicht und Datenschutz sind bei der Telefonseelsorge aber höchste Gebote. Die Telefonverbindungen sind per Gesetz nicht nachvollziehbar und erscheinen auf keiner Rechnung.
Manchmal erkennen die Mitarbeiter*innen aber einen Menschen an der Stimme oder der Geschichte wieder. Und manchmal ruft der Mensch ein zweites Mal an, der sich vorher nicht traute, etwas zu sagen. Wenn er sich dann zu erkennen gibt, löst das die Stimmung – er hat erkannt, dass ihm hier zugehört wird, wenn er nur spricht. Das ist anders als bei vielen anderen Hilfsangeboten, sagt Ortmann. Die Hilfe, die die Telefonseelsorge leiste, braucht ihre Zeit, bis sie wirken kann.
Auf die Frage, ob sie sich die Menschen am anderen Ende der Leitung eigentlich bildlich vorstellen, antwortet Kulms lächelnd: „Immer.“ Ihre Kollegin Ortmann nickt. Oft bedanken sich Anrufer*innen, nachdem sie sich durch einen langen Krisenprozess begleiten ließen. Auch wenn sie keine Namen voneinander kennen: Für die Mitarbeiter*innen der Telefonseelsorge sind das die schönsten Momente ihrer Arbeit.
Die Nummer der Telefonseelsorge ist die 0 800 111 0 111. Sie ist rund um die Uhr erreichbar.
Der Originaltext von Till Eckert ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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