Ulrike Garanin bringt mit ihrer Initiative „Joblinge“ Jugendliche in Arbeit, die andere schon aufgegeben haben und ist eine unserer „25 Frauen, die unsere Welt besser machen“. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, vor welchen Herausforderungen sie in ihrer Arbeit mit jungen Menschen täglich steht.
„Die Jugendlichen müssen erst wieder lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen“
Trotz des demographischen Wandels und einem Fachkräftemangel, empfängt der Arbeitsmarkt nicht jeden mit offenen Armen. Es gibt eine große Kluft zwischen Herkunft und Zukunft für viele Jugendliche in Deutschland: Den Übergang von Schule ins Berufsleben schaffen hierzulande etwa 500.000 Jugendliche nicht, hinzu kommen viele junge Geflüchtete, die ebenfalls ohne jede Perspektive dastehen. Diese Jugendliche gelten als unvermittelbar. Doch genau das, sieht Ulrike Garanin anders und engagiert sich mit ihrem Joblinge-Team an mittlerweile 20 Standorten in Deutschland, um diese Jugendlichen fit für den Arbeitsmarkt zu machen.
Mit welchen Methoden sie dabei arbeiten und welche Herausforderungen das mit sich bringt, das hat die Gründerin uns im Interview erzählt.
Joblinge unterstützt Jugendliche dabei, aus der Arbeitslosigkeit zu kommen bzw. nicht hineinzugeraten. Warum liegt Ihnen persönlich dieses Thema besonders am Herzen?
„Arbeit ist in unserer Gesellschaft eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben. Ich würde sogar noch weiter gehen: für die Würde des Einzelnen. Dass es junge Menschen, Jugendliche gibt, für die die Lücke zwischen Herkunft und Zukunft so groß zu sein scheint, dass sie als nicht vermittelbar gelten, dass sie langzeitarbeitslos sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben ohne je gearbeitet zu haben, dass darf nicht sein. Nicht für den Einzelnen – und nicht für die Gesellschaft.
Mich hat das Thema Gerechtigkeit schon immer sehr beschäftigt und der Wunsch, hierzu einen konkreten Beitrag zu leisten. Das ließ sich in wunderbarer Weise umsetzen, als wir – ein Team der Boston Consulting Group (BCG) und Eberhard von Kuenheim-Stiftung der BMW AG – im Jahr 2007 Joblinge ins Leben gerufen haben. Ich habe damals das BCG-Teams geleitet. Dass BCG mich dann in die „Social Entrepreneur“-Rolle schlüpfen, und mich aus dem Projekt Joblinge die Initiative Joblinge aufbauen ließ zeigt, wie ernst es uns war und ist, nicht nur ein Konzept oder Postulat zu formulieren, sondern wirklich etwas zu bewirken.“
„Hier liegt eine große Aufgabe vor uns – und eine mindestens so große Chance!“
Wie viele Jugendliche sind derzeit arbeitslos gemeldet?
„Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist im Januar 2017 mit 5,3 Prozent auf einem historischen Tiefstand, im Januar 2014 waren es im Vergleich noch 7,5 Prozent. Besonders im Vergleich mit Südeuropa scheinen wir uns in Deutschland auf einer Art Insel der Seligen zu befinden. Schaut man aber näher hin, so gibt es neben den rund 230.000 arbeitslos gemeldeten Jugendlichen noch weitere 270.000, die im sogenannten Übergangssystem zwischen Schule und Beruf ‚geparkt’ sind. Diese Zahl ist in den letzten Jahren sogar leicht gestiegen.
Das heißt trotz demographischem Wandel, positiver Arbeitsmarktsituation, bereits spürbarem Fachkräftemangel und einem Höchststand von über 40.000 nicht besetzten Ausbildungsplätzen, gibt es eine Gruppe von rund 500.000 Jugendlichen ohne Perspektive. Dazu kommen derzeit noch rund 300.000 Geflüchtete zwischen 15 und 25 Jahren. Hier liegt eine große Aufgabe vor uns – und eine mindestens so große Chance!“
Wie sieht die Unterstützung für die Jugendlichen durch Joblinge konkret aus?
„Die Jugendlichen, darunter seit knapp einem Jahr übrigens nicht nur deutsche Langzeitarbeitslose sondern nun auch junge Geflüchtete, sind bei uns in einem intensiven Vollzeitprogramm, wo sie schrittweise in der Praxis auf die Praxis vorbereitet werden. Das, woran es unseren Teilnehmern am meisten mangelt – aus unterschiedlichen persönlichen Gründen – ist eine Chance, das Verhalten, das ein Arbeitgeber erwartet, zu verstehen, zu lernen, zu erleben und unter Beweis zu stellen. Diese Fähigkeiten werden bei uns in allen Programmphasen, die didaktisch aufeinander aufbauen, erworben.
Es geht im gesamten Programm darum, dass sich die Teilnehmer ihren Ausbildungsplatz erarbeiten. Zunächst setzen wir auf Berufsorientierung, aber sehr betriebsnah mit Unternehmensbesuchen, -präsentationen bis hin zu Praktika in der Probe- und Praxisphase. Dann auf Qualifizierung und Kompetenzvermittlung, das absolut praxisbezogen, in Workshops und über Bande in unserem Kultur- und Sportprogramm, in dem sich unsere Teilnehmer jobrelevante Kompetenzen in Theater-, Tanz oder Musikworkshops erarbeiten, an ihre Grenzen und darüber hinaus geführt werden. Workshops, auf die sich viele anfangs nur ungern einlassen.
Das ist übrigens auch eine Haltung, die sie gegenüber vielen Ausbildungsberufen haben. Aber die Erfahrung, dass sich der Mut lohnt, sich auf Neues einzulassen, ist wichtig – auch mit Blick auf die Berufsorientierung. Nebenbei entdecken die ‚Joblinge’ verborgene oder neue Talente, lernen sich selber kennen – und etwas durchzuziehen. Diese Erfolgserlebnisse helfen ihnen auch später in Praktika, Vorstellungsgesprächen und in der Ausbildung, die wir bis zum Abschluss begleiten. Auch die Sprachkurse in unserem neuen Programm ‚Joblinge Kompass’ für Flüchtlinge funktionieren nach diesem Prinzip: praxisnah, mit und in den Partnerunternehmen.“
„Wir können nicht alle Probleme lösen. Aber wir können einen Weg zeigen, wie sie trotz dieser Probleme ihre Ziele erreichen.“
Sich auf Neues einzulassen, setzt Vertrauen voraus. Welche Rolle spielt dabei die Arbeit mit Mentoren?
„Jeder, der zu Joblinge kommt, hat eine ganze Palette an Problemen. Wir können nicht alle lösen. Aber was wir tun können, ist unseren Teilnehmern einen Weg zeigen, wie sie trotz dieser Probleme ihre Ziele, einen Ausbildungsplatz zu finden, selbstbestimmt zu leben und sich eine Zukunft zu schaffen, erreichen können. Einzelgespräche und Mentoring sind daher genauso wichtig wie Gruppenprojekte.
Unsere ehrenamtlichen Mentoren, sind für viele unserer Teilnehmer schon allein deshalb ein Vorbild, weil sie erfolgreich im Beruf stehen und sich dann noch exklusiv nur für ‚ihren Jobling’ einsetzen, ihm den Rücken stärken, motivieren, beraten aber auch ehrlich die Meinung sagen und manchmal einfach nur zuhören. Für viele ist das eine neue Erfahrung. Vertrauen und ehrliches Interesse sind dabei entscheidend –aber nicht ein Übermaß an Empathie, das dazu verführt, für den anderen Verantwortung zu übernehmen, statt ihn dazu zu befähigen sie selbst zu tragen. Hilfe soll nicht zur Entmündigung werden.“
Wie viele Jugendliche nehmen aktuell die Hilfe von Joblinge in Anspruch?
„Seit unserem Start in 2008 konnten wir an den jetzt 25 bundesweiten Standorten über 5.500 Teilnehmer erreichen – 1.500 davon im letzten Jahr, unter ihnen mehr als 200 Geflüchtete. In diesem Jahr wollen wir noch einmal zulegen und mehr als 1.800 Teilnehmer erreichen. Unser Ziel ist die nachhaltige Integration in Ausbildung und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, keine Weiterbildung. Unsere Jugendlichen kommen aus dem sogenannten ‚Maßnahmen-Karussell’ der Berufsvorbereitung und das wollen wir nicht weiterdrehen, sondern stoppen. Das gelingt uns mit weit überdurchschnittlichen Erfolgen: wir sind sehr stolz, dass in Summe mehr als 70 Prozent unserer Teilnehmer sich bisher den Weg in Ausbildung erarbeitet haben – im letzten Jahr waren es sogar 77 Prozent – und das nachhaltig.“
„Es ist herausfordernd immer wieder gegen Vorurteile anzukämpfen.“
Was sind die größten Herausforderungen in der täglichen Arbeit für das Team von Joblinge?
Wir sind angetreten, um angeblich nicht vermittelbare Jugendliche, die im Durschnitt seit mehr als drei Jahren durch alle bisherigen Integrationsangebote nicht erreicht werden konnten, eben doch zu vermitteln. Die Vermutung liegt nahe, dass die Teilnehmer und die Probleme, die sie mitbringen, die größte Herausforderung darstellen. Natürlich ist die Arbeit mit ihnen herausfordernd, aber dass 77 Prozent von ihnen in den letzten zwölf Monaten den Weg in Ausbildung gemeistert haben, macht uns unendlich stolz und gibt viel Kraft und Geduld für diese Herausforderungen.
Herausfordernd ist es natürlich auch immer wieder gegen Vorurteile anzukämpfen: Vorurteile gegen unsere Zielgruppe – mehrheitlich mit Migrationshintergrund und aus Harz-IV-Bedarfsgemeinschaften sowie erst recht natürlich Vorurteile gegen die Flüchtlinge im Programm. Es ist eine fatale Schlussfolgerung zu sagen, wer keine Chance hätte, hätte auch kein Potenzial. Das Gegenteil ist der Fall.“
Und welche Herausforderungen stellen sich Ihnen strukturell und organisatorisch?
Mit Joblinge bewegen wir uns in einem ‚Markt’, in dem jährlich Milliarden an öffentlichen Fördergeldern so vergeben werden, dass finanziell ein Anreiz entsteht, die Teilnehmer zu halten, statt zu vermitteln – also das soziale Problem zu lösen. Ein Beispiel: Wenn ein Teilnehmer nach vier statt nach sechs Monaten bereits eine Ausbildung beginnen könnte, hieße das, für zwei Monate auf Fördergelder zu verzichten. Nur ein besetzter Maßnahmenplatz ist ein geförderter Platz. Es gibt Bildungsträger die offen fragen, welchen Anreiz sie denn hätten einen Kunden, sprich Arbeitslosen, aus dem System zu entlassen?
Solange soziales und ökonomisches Ziel in einem solchen Widerspruch stehen, muss man sich entscheiden. Wir tun das, für das soziale Ziel, für den Teilnehmer. Das heißt aber oft genug auch gegen unsere eigene Finanzierung. Leisten können wir uns das nur dank der privaten Förderer und neuerer erfolgsbasierter öffentlicher Förderansätze, die uns ein Stück der dafür notwendigen Unabhängigkeit geben. Ultimativ müsste es das Ziel jeder sozialen Organisation sein, das soziale Ziel zu erreichen und sich damit selbst überflüssig zu machen. Diese Haltung, die dem Selbsterhaltungsinteresse von Organisationen und ihrer Mitarbeiter im ersten Blick zuwider läuft, versuchen wir immer wieder zu befeuern. Aber ganz sicher ist diese Fehlsteuerung im Markt, die hohe Intransparenz, extremen administrativen Aufwand und großen Hürden für neue Konzeptansätze mit sich bringt, eine große Herausforderung.“
Was muss den Jugendlichen im Wesentlichen vermittelt werden, um sie fit für den Arbeitsmarkt zu machen?
„Wir verfolgen mit unseren Jugendlichen ein ehrgeiziges Ziel: sie sollen im betrieblichen Umfeld bestehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie sollen das Stigma der ‚Benachteiligung’ hinter sich lassen. Und sie schaffen das. Aber eben nur, wenn es gelingt, in ihnen die Eigenverantwortung wach zu kitzeln und zu stärken. Das Problem dabei ist, dass sie meist über Jahre die Erfahrung gemacht haben, dass andere dafür zuständig sind, ihre Probleme zu lösen, wie Sozialarbeiter, Bildungsträger, Integrationsfachkräfte, Bewährungshelfer, Lehrer oder Eltern.
Und sie haben wieder und wieder erlebt, dass man ihnen nichts zutraut – bis sie sich schließlich selbst nichts mehr zutrauen. ‚Niedrigschwelligkeit der Angebote’, also keine Hürden oder Herausforderungen, sondern bewusst ein sehr geringes Anforderungsniveau, Problem- und Schwächen-orientierte Sozialarbeit und ein ‚kumpelhaftes’, überverständnisvolles Auftreten der Sozialpädagogen sind weit verbreitete Reaktionen. Unserer Meinung nach ist das nicht der Ansatz, mit dem man die Jugendlichen erreicht.“
„Unser Teilnehmer werden von uns nie als Hilfsbedürftige behandelt, sondern als eigenverantwortliche Personen.“
Wie geht es denn besser?
„Wir haben beispielsweise eine Aufnahmephase eingeführt, also eine Hürde aufgebaut: Nur wer sich die Teilnahme verdient, wird bei uns aufgenommen. Jeder muss mit uns in der Gruppe zwei bis drei Tage gemeinnützige Projektarbeit bei einem lokalen Partner, wie dem Zoo oder einem Kinderheim, leisten. Und entgegen der Prophezeiungen von Experten, die mir auf den Kopf zu gesagt haben, dass wir mit Gruppen ohne Teilnehmer arbeiten würden, nehmen die Jugendlichen diese Herausforderung an und sind schließlich stolz, bei uns aufgenommen worden zu sein.
Durch diesen pädagogischen Trick starten sie mit einer anderen Haltung.
Dies zieht sich durch unser gesamtes Programm: den Teilnehmern wird viel abverlangt – und viel zugetraut. Unsere Haltung ist aktivierend und lösungsorientiert – wir schauen gemeinsam mit den Teilnehmern nach vorn und auf das Potenzial, das in ihnen steckt. Wir bauen Vertrauen auf, sind kooperativ, aber auch deutlich konfrontativ, um klare Grenzen zu setzen und für ein Bestehen im Arbeitsumfeld notwendige Verhaltensänderungen zu erreichen. Unser Teilnehmer werden von uns nie als Hilfsbedürftige behandelt, sondern als eigenverantwortliche Personen, damit sie lernen, die Verantwortung für sich zu übernehmen.“
Gibt es einen „Fall“, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
„Fast hinter jedem Teilnehmer verbirgt sich eine Geschichte, die berührt, die auch in Abgründe von sozialer Verwahrlosung oder Misshandlung gucken lässt, die einem sehr nahe gehen. Berührend finde ich aber immer wieder zu sehen, was diese Jugendlichen in so kurzer Zeit erreichen können – welche Kräfte und Fähigkeiten in ihnen stecken, wie kollegial sie in der Gruppe sind und wie viel Humor sie haben – trotz und vielleicht auch wegen allem.
Es gab aber tatsächlich einen Fall aus den Anfängen der Initiative, als ich fast alle Teilnehmer noch namentlich kannte, der mir noch sehr in Erinnerung ist. Ein junger Mann, sehr charmant und intelligent und Liebling der ganzen Gruppe – wenn er da war. Nur war er das leider höchst unzuverlässig und so gut wie nie, wenn es drauf ankam.
Er hatte einige Probleme, zuhause war er rausgeflogen, nachdem er seinem Vater Geld geklaut hatte, das er dann nachts in Spielhallen durchbrachte, er hatte die Schule nicht abgeschlossen – und hat mit seinem Verhalten nicht nur seinen eigenen, sondern auch den Erfolg der Gruppe so sehr gefährdet, dass wir ihn schließlich aus dem Programm ausschließen mussten. Natürlich mit dem Angebot wieder zu kommen, wenn er bereit ist, die Regeln zu akzeptieren. Sein ‚mir kann keiner mehr helfen – auch ihr nicht’ klingt mir heute noch in den Ohren. Er schien so absehbar auf einer sehr schiefen Bahn zu landen und hatte eigentlich so viel Potential, es auf dem richtigen Kurs wirklich weit zu bringen. Tatsächlich stand er zwei Jahre und einige schmerzhafte Erfahrungen später wieder vor der Tür mit der Frage, ob das Angebot noch stehe? Es stand – und er ist heute ausgebildeter Anlagenmechaniker und engagiert sich bei uns Mentor.“
„Fast alle unsere Teilnehmer haben eins gemeinsam: die meisten von ihnen waren viel zu früh auf sich allein gestellt.“
Wir haben einen demographischen Wandel und auch Fachkräfte werden händeringend gesucht – Warum fällt es diesen Jugendlichen so schwer, einen Ausbildungsplatz finden?
„Die schulischen Defizite sind oft nur die Spitze des Eisbergs von tiefer liegenden Problemen. Fast alle unsere Teilnehmer haben eins gemeinsam: die meisten von ihnen waren viel zu früh auf sich allein gestellt, haben Entscheidungen getroffen, die oft nicht die besten für sie waren – sind in die falschen Cliquen, schulische Schieflagen und/oder die schiefe Bahn geraten – und stehen nun da, mit Bewerbungsunterlagen, die vor den Augen keiner Personalabteilung standhalten. Zudem hatten sie nicht die Möglichkeit, das Verhalten, das ein Arbeitgeber verlässlich erwartet zu lernen, vorgelebt zu bekommen und sich selber zu erwerben. Sehr viele unserer Jugendlichen haben zudem sowohl über ihre eigenen Stärken und Schwächen – als auch über die vermeintlichen Wunsch- und Anti-Berufe – entweder gar keine oder sehr wenig klare und realistische Vorstellungen. Alles keine gute Voraussetzung, wenn es darum geht, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.“
Welche Rolle spielt hierbei der familiäre Background und das Umfeld, in dem die Jugendlichen aufwachsen? Wie sehr ist Bildung hierzulande noch mit Geld verknüpft?
„Diese These wird von vielen Studien belegt – und auch bei uns stammt der überwiegende Anteil der Teilnehmer aus Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos sind und man vom Existenzminimum lebt. Aber das, was unseren Jugendlichen fehlt, ist nicht nur Bildung im schulischen Sinne. Es ist auch die Erfahrung, sich etwas abzuverlangen, Neues zu wagen. Bei kritischem Feedback nicht sofort hinzuschmeißen, dran zu bleiben und den Rücken gestärkt zu bekommen. Es sind zwar Ausnahmen, aber wir haben durchaus auch vereinzelte Abiturienten in unseren Gruppen, denen es nicht an Schulbildung mangelt – aber an anderen, meist gravierenden Aspekten der Persönlichkeitsbildung. Wie die anderen Teilnehmer auch waren sie meist viel zu früh auf sich gestellt und haben diese Chance nicht erhalten.“
„Erst mit einem persönliche Kennenlernen haben die Jugendlichen eine Chance von sich zu überzeugen.“
Immer mehr Jugendliche machen Abitur und das heißt, für Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss wird es schwerer. Sind sie aber tatsächlich geringer qualifiziert oder schielen Arbeitgeber einfach per se auf Menschen, mit einem höheren Schulabschluss?
„Absolut, genau das ist auch ein zentraler Punkt in unserem Programm. Indem wir den Bewerbungsprozess mit unseren Partnerunternehmen quasi auf den Kopf stellen: erst das persönliche Kennenlernen, die Chance für den Jugendlichen im Bewerbungspraktikum von sich zu überzeugen, dann der Bewerbungsprozess für die Ausbildung. Damit sind über 70 Prozent unserer Jugendlichen erfolgreich und im Übrigen oft hochgelobt von ihren Ausbildungsbetrieben. Mit dem umgekehrten Vorgehen wären 100 Prozent über die Papierform aussortiert worden.
Das zeigt, wie fatal es auch für Unternehmen ist, nach wie vor ein alles dominierendes Kriterium in der Bewerberbeurteilung zu nutzen: Abschluss und Noten. Da der Pool der Einser-Abiturienten weitestgehend leergefischt ist, hat man die Kriterien bereits gelockert, aber auch hier filtert man wieder nach dem einen Kriterien: den Noten.
Warum finden Sie das problematisch?
Gute Noten sind nicht für alle Ausbildungsberufe ein Garant für Erfolg und Talent. Sie mögen vielleicht die Wahrscheinlichkeit eines reibungslosen Ablaufs der Berufsschulprüfungen erhöhen – aber zeigen sie, ob jemand Gespür für Technik, Geduld, Genauigkeit, Gefühl für Materialien, kreative Ideen oder ein Talent für Kommunikation hat? Fehlt das, ist es aber viel schwieriger zu kompensieren als schulische Defizite und deshalb ist das viel entscheidender für die Frage, ob jemand mit Begeisterung für seine Ausbildung brennt. Ich plädiere daher für eine Schärfung der Anforderungsprofile und entsprechende Eignungstests – wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht.“
Welche Rolle spielt bei den Jugendlichen ein Gefühl des „Abgehängtseins“ und die daraus resultierende Lustlosigkeit, sich wirklich um einen Job zu bemühen?
„Fast alle unsere Jugendlichen haben wieder und wieder gehört, dass sie nichts können und dass eh nichts aus ihnen wird. Wenn sie bei uns im ersten Informationsgespräch hören, dass über 75 Prozent erfolgreich in Ausbildung einmünden, ist für sie klar, dass sie zu den anderen 25 Prozent gehören. Viele unserer Teilnehmer haben weit über 100 Bewerbungen geschrieben und manchmal nicht mal eine Antwort erhalten. Der Frust ist nachvollziehbar. Aber leider auch ein Muster, dass immer die ‚anderen’ schuld sind.
Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Teilnehmer bei uns schrittweise Erfolge erarbeiten, dass sie den Mut fassen, Neuland zu betreten und die Erfahrung machen, dass sie echte Herausforderungen meistern. Es ist wichtig, dass sie darüber sich selber realistisch einschätzen lernen, einen für sie passenden und erreichbaren Berufswunsch formulieren – und die Verantwortung für ihr Tun übernehmen.“
Ich habe das Gefühl, wir reden häufig mehr über die Jugendarbeitslosigkeit in anderen Ländern von Europa als über die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande. Blenden wir, bei aller Wichtigkeit, die der europäische Kontext hat, das Thema gerne aus?
„Im europäischen Vergleich ist die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in der Tat auf einem niedrigen Niveau, aktuell bei unter sechs Prozent. Im EU-Durchschnitt sprechen wir hier bereits von etwa 19 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, in Ländern wie Griechenland, Spanien und Italien von mehr als 40 Prozent. Die Brisanz dieser Situation lenkt die Aufmerksamkeit nach Südeuropa. Dennoch verdeckt der reine Zahlenvergleich, was hier in Deutschland dahintersteckt.
Denn die Situation ist paradox: Obwohl die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut ist und Unternehmen mehr Menschen einstellen, die Arbeitslosenquote gesunken ist, rund 40.000 Lehrstellen sogar nicht besetzt werden können, hat Deutschland eben noch immer mehr als eine halbe Million junger Menschen, die den Sprung von der Schule in die Ausbildung nicht schaffen, die arbeitslos sind oder sich in Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems zwischen Schule und Beruf befinden. In die Arbeitslosenstatistik fließen davon nur die etwa 230.000 arbeitslos gemeldeten ein. Das heißt, man könnte auch in Deutschland von einem Handlungsbedarf bei 15 Prozent der Jugendlichen reden – die 300.000 Flüchtlinge in der gleichen Altersgruppe nicht eingerechnet.“
Was könnte denn von Seiten der Schulen getan werden, um die Jugendlichen besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten?
„Eine größere Praxisnähe und betriebsnahe Form der Berufsorientierung – eine Aufgabe, die die Schulen aber nur gemeinsam mit der Wirtschaft leisten können. Und eine pädagogische Haltung, die in der Lehrerausbildung verankert ist, die auch im Umgang mit ‚schulmüden Jugendlichen’ aufzeigt, wie man diese Gruppe aus einer passiven oder womöglich destruktiven Verweigerungshaltung herausholen und dazu motivieren kann, für ihren Weg Verantwortung zu übernehmen.“
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