Die Frau des Journalisten Antoine Leiris wurde bei den Anschlägen in Paris im November 2015 von Terroristen ermordet. Kurz danach postete er einen offenen Brief bei Facebook, in dem er den Terroristen seinen Hass versagte. Nun hat er ein Buch über seinen neuen Alltag als Witwer und Vater eines kleinen Sohnes geschrieben – voller Liebe für seine Frau statt Hass für die Terroristen.
„Meinen Hass bekommt ihr nicht“
Seine Frau Hélène starb am 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal Le Bataclan, durch Kugeln der Terroristen. Das warf den Journalisten Antoine Leiris völlig aus dem Leben, er verlor die Liebe seines Lebens, sein 17 Monate alter Sohn seine Mutter. Doch anstatt mit nachvollziehbarem Hass zu reagieren, veröffentlichte Leiris bei Facebook einen offenen Brief an die Terroristen – mit einer bewegenden und hoffnungsvollen Botschaft: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“. Jetzt hat er ein Buch geschrieben über das Leben allein mit seinem Sohn. Seine Beschreibungen sind bewegende und ehrliche Zeugnisse des zerrütteten und doch wahnsinnig liebevollen Alltags der beiden. Wir veröffentlichen einen Auszug:
Das Recht unterzugehen
22. November
09:00 Uhr
Gerade habe ich Melvil in der Krippe abgegeben. Er hat nicht geweint. Ich stelle mich ein bisschen seitlich hin, damit er nicht sieht, dass ich ihn durch eine der Scheiben der verglasten Fassade beobachte. Die Krippe ist wie ein großes Becken, in dem man den Fischen zusehen kann. Manchmal klopft man an die Scheibe, um sich bemerkbar zu machen. Er spielt schon mit seinem Musikbuch. Es schildert auf wenigen Seiten eine Reise durch die Welt der Musikinstrumente. Das Bandoneon wird von einem Lama gespielt, die Balalaika von einem Bären, und in Venedig übernimmt ein Fuchs im Gondoliere-Gewand die Mandoline.
In der Krippe wissen alle Bescheid. Wenn ich morgens ankomme, trägt jeder eine Maske. Der Karneval der Toten. Da nützt es nicht, dass ich ihnen das Märchen vom Mann erzähle, der sich nicht unterkriegen lässt. Es gelingt mir nicht, sie zum Abnehmen der Maske zu bewegen. Ich weiß, dass ich für diese Frauen nicht mehr ich bin, sondern ein Geist, Hélènes Geist.
Doch Melvil ist ein sehr lebendiges kleines Wesen. Kaum ist er angekommen, fallen die Masken. Er tritt auf Zehenspitzen ein, verabschiedet sich von mir, lächelt, und es braucht nur sein Kinderlachen, damit die Leichenbittermienen in einer Spielzeugkiste verschwinden.
Es ist Zeit für mich, nach Hause zu gehen.
Zeichen der Anteilnahme
Bevor ich die Treppe hochgehe, hole ich die Post aus dem Briefkasten. Ich habe ihn kaum halb geöffnet, da fällt mir ein Schwall Papier entgegen, und Umschläge aller Formate verteilen sich rings um mich. Es gibt dicke Umschläge mit sehr langen Briefen, in denen man mir von einem anderen Leben erzählt. Es gibt große braune Umschläge mit Bildern, die andere Kinder für Melvil gemalt haben. Und es gibt einfache Karten. Zumindest im Augenblick enthält der Briefkasten mehr echte Briefe als Rechnungen.
Ich öffne den ersten Umschlag und lese die Karte, während ich die Treppe hinaufgehe. Freundliche Worte, die ihren Weg aus den Vereinigten Staaten bis hierher gefunden haben. Vor der Wohnungstür hebe ich einen Zettel auf, den mir ein Nachbar hingelegt hat. „Bitte melden Sie sich, wenn ich Ihnen mit Ihrem Sohn helfen kann. Der Nachbar von gegenüber.“
Ich verteile die Post auf dem Wohnzimmertisch. Die Farbe eines der Umschläge macht mich neugierig. Vergilbtes Weiß. Ein Brief aus einer anderen Zeit. Ein Schreiben mit Briefkopf. Der Mann heißt Philippe. Ich stelle mir einen leicht ergrauten Herrn an seinem Sekretär vor. Ich hülle mich in seine Sätze. Er antwortet auf meinen Facebook-Brief. Es ist schön. Ich habe es warm in diesem wohltuenden Brief. Und dann, ganz unten wie eine Unterschrift, dies: „Sie hat es getroffen, und Sie sind es, der uns Mut macht!“
Jeden Tag, Schritt für Schritt
Aus der Ferne betrachtet hat man immer den Eindruck, dass derjenige, der das
Schlimmste überlebt, ein Held ist. Ich weiß, dass ich keiner bin. Das Schicksal hat zugeschlagen, das ist alles. Es hat mich vorher nicht gefragt. Es hat nicht
herauszufinden versucht, ob ich dafür bereit war. Es hat Hélène geholt und mich
gezwungen, morgens ohne sie aufzuwachen. Seither weiß ich nicht, wohin ich gehe, ich weiß nicht, wie ich dorthin komme, und man darf sich nicht allzu sehr auf mich verlassen. Ich denke an Philippe, der mir diesen Brief geschickt hat. Ich denke an all die anderen, die mir geschrieben haben. Am liebsten möchte ich ihnen sagen, dass ich mich von meinen Worten überfordert fühle. Wenn ich mich selbst davon zu überzeugen versuche, dass sie von mir stammen, weiß ich trotzdem nicht, ob sie mir je ganz gehören werden. Ich kann von einem Tag auf den anderen untergehen.
Das Recht, nicht mehr zu können
Mit einem Mal habe ich Angst. Angst, den Erwartungen an mich nicht entsprechen zu können. Werde ich noch das Recht haben, nicht tapfer zu sein? Das Recht, zornig zu sein. Das Recht, überfordert zu sein. Das Recht, müde zu sein. Das Recht, zu viel zu trinken und immer noch zu rauchen. Das Recht, eine andere Frau zu treffen, keine anderen Frauen mehr zu treffen. Das Recht, nicht mehr zu lieben, niemals mehr. Mir kein neues Leben aufzubauen und auch kein anderes zu wollen. Das Recht, keine Lust zu haben, zu spielen, in den Park zu gehen oder eine Geschichte zu erzählen. Das Recht, Fehler zu machen. Das Recht, falsche Entscheidungen zu treffen. Das Recht, keine Zeit zu haben. Das Recht, nicht da zu sein. Das Recht, nicht lustig zu sein. Das Recht, zynisch zu sein. Das Recht, einen schlechten Tag zu haben. Das Recht zu verschlafen. Das Recht, meinen Sohn zu spät von der Krippe abzuholen. Das Recht, die „hausgemachten“ Gerichte nicht hinzukriegen, die ich zu kochen versuchen werde. Das Recht, schlecht gelaunt zu sein. Das Recht, nicht alles zu sagen. Das Recht, nicht mehr darüber zu sprechen. Das Recht, banal zu sein. Das Recht, Angst zu haben. Das Recht, nicht zu wissen. Das Recht, nicht zu wollen. Das Recht, es nicht zu schaffen.
aus: Antoine Leiris: Meinen Hass bekommt ihr nicht. Blanvalet Verlag, Mai 2016, 144 Seiten, 12 Euro.
Mehr bei EDITION F
Nach Paris: Was ist nun die richtige Reaktion? Weiterlesen
Madita: „Wir setzen uns nicht mehr mit dem Tod auseinander. Und dann fällt uns die Trauer an, wie ein wildes Tier“. Weiterlesen
„Mein Stil ist härter und echter geworden“. Weiterlesen