Foto: Michael Kranewitter I Wikimedia I CC BY-SA 4.0

Wer legt eigentlich fest, was deutsch ist? Über die neue Gefahr von Rechts

Gauland und die Nachbarschaft. Deutschsein und Fremdenhass. Was ist eigentlich deutsch? Ist Deutschland rassistisch? Janet Kinnert schreibt über den beunruhigenden Anstieg rassistischer und rechter Denkmuster in Deutschland.

 

Gute Nachbarn, schlechte Nachbarn

Am Sonntagabend läuft Anne Will. Das Thema, „Gute Nachbarn, schlechte Nachbarn – wie rassistisch ist Deutschland?“, ist mitsamt der geladenen Gäste vielversprechend. Denn der AfD-Vize Alexander Gauland selbst ist anwesend und Eckart Lohse, der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der das Interview führte, in dem Gauland die Aussage fallen ließ, viele Deutschen wollten jemanden wie Boateng nicht als Nachbarn, was sich medial im Schneeballprinzip verbreitet hatte. Ebenfalls in der Runde sitzen Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), Bilgin Ayata, Migrationsforscherin der Universität Basel, und der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt.

Wer sich solidarisch mit Boateng zeigt, kämpft gegen ein Stück der deutschen Realität. Studien bestätigen, dass Menschen mit ausländischen Nachnamen es auf dem Wohnungsmarkt und auch dem Arbeitsmarkt schwerer haben und bei ansonsten gleichen Umständen anders behandelt werden. Gibt es ein neues Rechts? Einen neuen Rassismus?

Was ist deutsch? Was ist rechts?

Maas hatte sich schon vor der Sendung eindeutig geäußert: Die Beleidigung von Jerome Boateng sei „einfach nur niveaulos und inakzeptabel. Wer so redet, entlarvt sich selbst – und das nicht nur als schlechter Nachbar.“ In der Talk-Sendung macht er darauf aufmerksam, dass Boateng Deutscher ist und Gauland schon mehrfach mindestens fremdenfeindliche Aussagen getroffen hat und so getan werde, als würde Gauland erstmals rassistische Phrasen nutzen.

War Gaulands Aussage nun rassistisch oder nicht? Deutschland streitet sich. Was für ein Zufall, denn um „Deutschland“ und „Deutschsein“ geht es hier auch.

Im Grundgesetz ist zu lesen: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“ Boateng ist allein durch seine Staatsbürgerschaft Deutscher. Zudem ist er hier geboren und aufgewachsen. Und noch weiter. Er ist erfolgreicher Fußballspieler und in der deutschen Nationalmannschaft. Gauland sagte weiter, die deutsche Fußballnationalmannschaft sei „schon lange nicht mehr deutsch“ im „klassischen Sinne“. Der Sport sei „keine Frage der nationalen Identität mehr.“

Was ist nun deutsch im klassischen Sinne, wenn nicht im Sinne des Grundgesetzes? Ist es eine bestimmte Haut- und Haarfarbe? Ein Geburtsort? Ein Stammbaum? Eine Blutlinie? Menschen mit Migrationshintergrund können keine Deutschen sein, sagen viele AfDler. Sie können sich zwar anpassen – oder tun es vermeintlich nicht – doch dazugehören in einem gleichwertigen Sinne tun sie nicht. Sie können sich das Deutsche nicht als Identität aneignen, sie können höchstens daneben existieren und toleriert werden. „Sie“ und „wir“, „wir Deutschen“ und „sie – die Anderen“?

Gaulands Aussage ist beispielhaft für ein rassistisches Denkmuster. Denn unabhängig von rechtlicher Anerkennung der Staatsbürgerschaft und auch unabhängig von Integration und Erfolg wird der Mensch mit andersartigen Merkmalen wie einem fremden Namen und anderer Hautfarbe als „jemand“ gekennzeichnet, der einer Gruppe angehört, die anders gewertet, herabgestuft wird. „Rassismus beginnt, wenn man den anderen nicht als Individuum wahrnimmt, sondern als Vertreter eines Typs“, sagte der auch bei Anne Will geladene Politikwissenschaftler Werner Patzelt, wenn von einer „Sorte von Menschen“ die Rede sei. „Das Typische vor dem Individuellen, das ist rassistisch.“

Die Mitte-Studien: Ist Deutschland rechts?

Deutschland sei „heute eher links als rechts, ist multikulturell und multiethnisch und multisexuell und offen“, schreibt auch der Soziologieprofessor Armin Nassehi von der LMU München. Nichtsdestotrotz beobachten wir Ressentiments in Deutschland. Die AfD ist in mehreren Landtagen vertreten und stetig in den Medien.

Komisch, denken wir, wie konnte das passieren, wenn wir die AfD doch erfolgreich ausgelacht haben? Dass viele die AfD lächerlich finden, hält sie nicht davon ab, Zuspruch aus unterschiedlichen Lagern zu bekommen. Dass ihre Vertreter sich undemokratisch äußern und sich gegenseitig widersprechen, hindert sie nicht daran, immer mehr Aufmerksamkeit der Medien zu bekommen. Sollte man die Rechten vielleicht ganz ignorieren? Ihnen gar nicht erst eine Plattform geben? Vielleicht. Aber nur weil man sie ignoriert, sind sie auch nicht plötzlich verschwunden. Insoweit ist Aufklärung und Berichterstattung wichtig für diejenigen, die sich unsicher und ängstlich nach Lösungen umschauen und von der AfD vermeintlich einfache Antworten bekommen.

„Der Alltagsrassismus muss auch in den Mittelpunkt rücken und nicht nur die Aussagen von Populisten, die ja viel Raum bekommen in der Medienlandschaft“, forderte die Migrationsforscherin Bilgin Ayata in der „Anne Will“-Sendung.

In den sogenannten „Mitte“-Studien untersuchen die Forscher Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler von der Universität Leipzig rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Die repräsentativen Erhebungen werden seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es eindeutig eine spezielle Gruppe von Menschen ist, die besonders empfänglich für ausländerfeindliche Botschaften sind.

Sie beobachten dabei auch einen Unterschied von in West- und Ostdeutschland Lebenden: „Die ostdeutschen Befragten sind häufiger chauvinistisch, ausländerfeindlich und sozialdarwinistisch eingestellt und befürworten häufiger eine rechtsautoritäre Diktatur. Westdeutsche dagegen äußerten sich häufiger antisemitisch und erreichten auch in der Dimension ,Verharmlosung des Nationalsozialismus einen höheren Wert.“

Gerade aber das Thema Islamfeindlichkeit erhält immer mehr Brisanz. „Jeder dritte Deutsche findet, Muslimen und Musliminnen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden, und 42,7 Prozent der Befragten fühlen sich „wie ein Fremder im eigenen Land“.

Es gebe eine „klare Grenze zwischen Religionskritik und Islamfeindschaft, die auf Ressentiments beruht“, zudem wurde deutlich, dass „die Islamfeindschaft das neue Gewand des Rassismus ist: Nun wird (vordergründig) nicht mehr biologistisch argumentiert, sondern die vermeintliche Rückständigkeit der islamischen Kultur thematisiert. Damit bricht der kulturalistische Rassismus wichtige Tabus, wie schon von der Kommunikationslatenz des primären Antisemitismus bekannt.“

Nassehi beschreibt das Rechte als „eine merkwürdige Konstellation von Gleichheit und Ungleichheit, nämlich Gleichheit nach innen und Ungleichheit nach außen.“ Was vielleicht etwas wirr klingt, deutet einen wichtigen Aspekt in der Entwicklung des neuen Rassismus an und vereint sich mit den Erhebungen der Mitte-Studien: Der Ethnopluralismus.

Ethnopluralismus: Die sind nicht wie wir

Die neue rechte Bewegung bedient sich dem Ethnopluralismus. Viele können mit dem Begriff selbst vielleicht nicht viel anfangen, obwohl sie sein Gedankengut teilen: Nämlich, dass Menschen bestimmte kulturelle und ethnische Identitäten haben, die ihnen fest anhaftet und nicht veränderbar ist. Es könne etwas wie eine „erfolgreiche Integration“ nicht geben und etwas wie „Deutschwerden“ sei somit auch nicht möglich. Entweder man habe es in seiner Identität schon enthalten oder nicht. Treffen nun Menschen aufeinander, die verschiedenen Kulturen und somit Identitäten haben, kann sie nicht friedlich nebeneinander bestehen und Ethnopluralisten sind der Meinung, man müsse die Menschengruppen voneinander trennen – der Rassismus der Biologie verebbt und derjenige der Herkunftsidentität rückt voran.

Diese Theorien funktionieren auch aus dem Grunde so gut, weil sie mobilisieren, stigmatisieren und klare Teilung schaffen: Es gibt die Bedrohung und es gibt „uns“. Erst durch die Furcht vor Islamisierung des Abendlandes, aus Angst vor Verdrängung und Unterdrückung durch Fremde wird eine Opferrolle geschaffen, aus der man sich heraushebt. Menschen sehen sich bedroht – ihre Werte, ihr Land, ihre deutsche Identität? 

Gauland weiß von nichts

„Herr Lohse hat mich reingelegt“, sagt Gauland bei „Anne Will“ und blickt hinüber in die Augen der Lügenpresse. Außerdem habe er nicht gewusst, dass Boateng schwarz ist. Erst seine Parteikollegin von Storch habe ihn später aufgeklärt. „Wir wollen das Land behalten, wie wir es von unseren Vorvätern übernommen haben“, sagte Gauland in einer Rede, er habe „keine Lust, die Globalisierung mitzumachen.“ Die Flüchtlingsbewegung sei der Versuch der „Kanzlerdiktatorin“, das deutsche Volk durch eines aus aller Welt zu ersetzen und das seien „keine Menschen, die wir hier gebrauchen können!“ Frau Merkel sei für viele Deutsche längst eine „fremde Macht“ geworden.

Und damit ist er gar nicht mal alleine. Denn die stellvertretende Bundessprecherin der AfD erklärte zuletzt auch schon: „Die Kanzlerin stürzt unser Land derart ins Chaos, dass nicht nur die Bürger anfangen sich zu bewaffnen, sondern dass die Polizei öffentlich – im wahrsten Sinne – Schützenhilfe leistet. Die bald Ex-Kanzlerin Merkel ruiniert unser Land, wie es seit ’45 keiner mehr getan hat. Der Platz in unseren Geschichtsbüchern ist ihr sicher. Und ich nehme Wetten an: Wenn sie bald zurücktritt, wird sie das Land verlassen. Aus Sicherheitsgründen.“

Was ist es, das Volk, das da ersetzt wird? Es sind kaum die wütenden Menschen, die dauernd schreien, sie seien das Volk. Was ist deutsche Identität? Weimarer Klassik? Oktoberfest? Wieso gehört der Islam keinesfalls zu Deutschland? Ist Deutschland und seine Identität etwas Unveränderliches? „Es wird nicht das Volk ersetzt, es verändert sich“, sagte Werner Patzelt bei Anne Will.  Die Zeit nationaler Homogenität ist vorbei und das ist nicht notwendigerweise ein Verlust und nicht bloß eine Chance, sondern die einzige Chance auf langfristiges Überleben.

„Heute tolerant, dann fremd im eigenen Land“, wiederholt Gauland auch sehr gerne. Ein Satz,, mit dem auch die NPD geworben hat und von einer CD stammt, die den Titel „Adolf Hitler lebt“ trägt. Auch das habe er nicht gewusst. „Ich kannte den Satz nicht“, sagt Gauland, „aber ich fand ihn sehr gut.“


Bild: Michael Kranewitter I Wikimedia I CC BY-SA 4.0


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