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Demenz: Wenn deine Mutter plötzlich deine Tochter wird

Lange habe ich hin und her überlegt, ob ich über die letzten Monate schreiben soll. Wie meine Mutter das wohl fände, wenn ich über Demenz schreibe? Wäre sie beleidigt, empört, erschüttert oder enttäuscht von mir?

 

Über das Zweifeln und Verzweifeln

Darf man über die persönlichen Erfahrungen mit seiner demenzkranken Mutter schreiben? Wie Du siehst, habe ich mich entschieden, es zu tun – gerade weil ich meine Mutter liebe und respektiere und auch, weil ich mir sicher bin, dass es vielen ähnlich geht wie uns.

Ich hatte mir alles so schön vorgestellt: Ich setze meine alte kleine Mutsch ins Auto, wir fahren gemeinsam in die Oberlausitz und beginnen dort einen gemeinsamen neuen Lebensabschnitt in unserem alten kleinen Familienhaus. Es sollte ihr nicht so gehen müssen wie vielen alten Menschen, die unvermittelt im nächstbesten Pflegeheim landen, weil ihr Gesundheitszustand sich rapide verschlechtert hat. 

Das Haus schien ideal für sie zu sein: alles ebenerdig erreichbar, der Garten direkt vor der Tür, alte Freunde gleich um die Ecke. Und sollten doch noch seniorengerechte Anpassungen im oder am Haus notwendig sein, würde eine Baufirma aus Berlin in die Oberlausitz kommen.

Ihr Zustand verschlechterte sich langsam, aber stetig 

Im Sommer hatte sie eine Herz-OP gehabt und mir (ihr noch nicht so wirklich) war klar, dass die Zeiten, in denen sie ganz alleine in ihrer Wohnung im ersten Geschoss in Aachen leben konnte, so langsam vorbei waren. Neben den gesundheitlichen Problemen hatte auch ihre „Schusseligkeit“ in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen, was sich wiederum nicht  positiv auf ihren gesundheitlichen Zustand auswirkte. Und was es mit einem Menschen macht, wenn er nach 50 Jahren Ehe plötzlich alleine dasteht, konnte ich nur ahnen.

Die Herz-OP deutete ich als letzten Warnschuss und war daher nach Aachen ins Krankenhaus gefahren, um sie zu überzeugen, ein Experiment zu wagen und mit mir in die Oberlausitz zu ziehen. Alles schien tatsächlich auf dem richtigen Weg zu sein, als meine Mutter sich im Herbst entschloss, tatsächlich „testweise“ in die Oberlausitz zu kommen.

Ich will nicht behaupten, dass es nach all den Jahrzehnten einfach war, wieder zusammen unter einem Dach zu leben, aber wir haben uns beide große Mühe gegeben, uns zu arrangieren und so sehr schöne Momente miteinander erleben können – vorbei.

Sie wollte nur noch einmal kurz nach Aachen – nur ein paar wichtige Dinge regeln

Dann schien unaufhaltsam das Kartenhaus einzubrechen, die Domino-Reihen umzufallen, eine unaufhaltsame Folge von Tsunami-Wellen über uns zu stürzen, ein Strudel uns mitzureißen. Kaum in Aachen kam Mutter mit einem Infekt im Dezember als Notfall ins Krankenhaus und als Nebenbefund wurde eine unklare Raumforderung im Bauch bei ihr diagnostiziert.

Eine Alternative zum schnellstmöglichen Bauchaufschneiden, um zu sehen, was das überhaupt sein könnte, boten die Ärzte nicht an. Aufmachen, reinschauen, fertig. Wieder fuhr ich nach Aachen und konnte sie überreden, anstatt sich im Januar als Risikopatientin dort auf den OP-Tisch zu legen, in Berlin eine Zweitmeinung einzuholen und sich ggf. auch hier behandeln zu lassen, wo meine Kinder und ich uns um sie kümmern könnten. 

Ich hatte noch deutlich vor Augen, wie sich die Krebsdiagnose auf das Leben einer meiner besten Freundinnen ausgewirkt hatte, die deutlich jünger gewesen war und immer ihren Mann an ihrer Seite hatte …

„Wir konnten Ihre Mutter erfolgreich aus der Narkose holen, aber leider ist sie maximal verwirrt und paranoid.”

Weihnachten konnten wir wunderbarerweise noch halbwegs normal miteinander verbringen, Sylvester fuhr ich meine Mutter als Notfall ins Krankenhaus. Am Neujahrstag musste sie plötzlich narkotisiert und künstlich beatmet werden und am 2. Januar 2016 erhielt ich einen dringenden Anruf aus dem Krankenhaus: „Bitte kommen sie sofort – vielleicht können Sie sie beruhigen, damit wir ihr ihre Medikamente geben können.“

Und plötzlich weiß sie nicht mehr, wer du bist 

Mir fehlen die Worte, zu beschreiben, wie es ist, wenn deine Mutter dich nicht mehr erkennt. Wenn sie dich mit hasserfülltem Blick von der Seite ansieht und deine Hand wegstößt, weil sie denkt, du gehörst zu ihnen. Wie es ist, wenn sie dann Vertrauen schöpft und Dir zuflüstert, dass die Pfleger_innen und Ärzt_innen eigentlich verschworene Hexen und Zauberer sind, die sie ermorden wollen („Hast du den Zauberspruch gehört, als sie mir über die Stirn gestrichen hat?“). Wie es ist, wenn sie ärgerlich wird, weil du zu dumm bist, um zu verstehen, was sie schon lange verstanden hat. Und dann die Phasen zwischendurch, wenn sie wegdämmert, irgendetwas Unverständliches flüstert, sich entschuldigt und weint, weint, weint und einfach nicht mehr aufhört. Es brach mir fast das Herz und noch jetzt stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich nur daran denke.

Die Ärzte nannten es ein Durchgangssyndrom, das anscheinend häufig bei älteren Menschen auftritt, um sich dann vollständig, teilweise oder auch gar nicht zurückzubilden: „Ein akutes organisches Psychosyndrom wird gewöhnlich am Krankenbett oder in der Ambulanz diagnostiziert und ist durch das plötzliche Auftreten der typischen Symptome charakterisiert. Eine ausführliche klinische Diagnostik, besonders eine sorgfältige neurologische Untersuchung sowie bildgebende Verfahren und Labortests sind jedoch zum Ausschluss verwandter Erkrankungen erforderlich.“

Demenz macht auch aggressiv 

Bei meiner Mutter wurde keine ausführliche Diagnostik vorgenommen und  die Symptome bildeten sich nur teilweise zurück. Das Kurzzeitgedächtnis  funktioniert seitdem nur noch extrem schlecht und auch, wenn sie jetzt nicht mehr von Hexen redet – die Angst, der Wahn, das Misstrauen und damit auch die Aggression sind geblieben.

Nicht dass das jetzt völlig neu für uns ist: etwas davon war, wie bei vielen, die an den Folgen eines Kriegstraumas leiden, auch vorher schon vorhanden, weshalb sie schon seit mehr als 20 Jahren Antidepressiva nahm – eine mögliche Ursache für ihr Psychosyndrom und ein Grund mehr, warum eine Diagnostik hätte
stattfinden müssen.

Kinder sind noch unbeschriebene Blätter, Alte tragen schon eine ganze Bibliothek mit sich herum

Meine Mutter sagt, sie hatte es immer schwer, andere sagen, sie war nie einfach – und beides ist wahr. Ich kann mich nicht erinnern, sie irgendwann als gesunden und fröhlichen Menschen erlebt zu haben. Die Vertreibung aus Böhmen, den Verlust ihrer Heimat und Familie und die damit verbundenen grausigen Szenen, die sie als Kind erlebt hat, hat sie nie verwinden können. Und auch die Flucht aus Sachsen in den Westen, die sie mit Anfang zwanzig mit meinem Vater und meinen älteren Geschwistern wagte, war kein Aufbruch in ein Schlaraffenland für sie. Ein jahrelanger Aufenthalt in Flüchtlingslagern mit zwei kleinen Kindern blieben prägend und die Art der „Willkommenskultur“, die sie erst als Böhmin in Sachsen und dann als „Ossi” im Westen erlebte, sorgten dafür, dass sie sich nie irgendwo zuhause fühlte.

Sie ist niemals irgendwo wirklich angekommen, auch nicht, als sich ihre Herkunft relativierte, weil die zunehmende Zahl von Bürger_innen nichtdeutscher Herkunft den Platz einnahmen, den vorher die deutschsprachigen Migrant_innen innehatten und die Bedenken gegenüber
Muslim_innen vergessen ließen, dass es jemals ausgeprägte Konflikte zwischen Katholik_innen und Prostestant_innen gegeben hatte. Nach über 50 Jahren als Aachenerin ist sie immer noch keine Rheinländerin, sondern fühlt sich immer noch wie eine Biehmsche.

Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem seelischen Befinden und der körperlichen Verfassung. Jedenfalls scheint die Schwermut meiner Mutter immer wieder Wege in ihrem Körper gesucht zu haben, um auszubrechen. Ich glaube, es gibt kaum ein Organ bei ihr, dass nicht irgendwann Zysten, Geschwüre oder einfach Fehlfunktionen entwickelt hätte und so ist mittlerweile nicht nur ihre Seele vernarbt, sondern auch ihr Körper. Jetzt also ist es, so wie vermutet wird, ein Krebs, der unbehandelt in ihr wächst und ein Psychosyndrom, das sie unaufhaltsam quälen wird.

Recht auf Selbstbestimmung versus Fürsorge

Meine Mutter wurde nur wenige Tage nach ihrer „maximalen Verwirrung“ zu uns nach Hause entlassen – ohne eine entsprechende Diagnostik oder Behandlung, eine entsprechende Empfehlung an den Hausarzt und ohne
irgendeine Beratung mit mir zu einer möglichen Demenz.

Ich dachte, sie wäre nur geschwächt und ansonsten so wie vorher. Würde ich heute noch einmal in diese Situation geraten, mit dem Wissen, das ich jetzt habe, ich würde in ihrem und auch unserem Sinne auf einer neurologischen
Diagnostik und Behandlung auf einer gerontopsychiatrischen Station bestehen und mich weigern, sie mitzunehmen. 

Als Tochter sind dir nach der Krankenhausentlassung deiner Mutter die Hände gebunden, auch wenn du rechtzeitig versuchen möchtest, mögliche organische Ursachen herausfinden und sie behandeln zu lassen, damit die Symptome dieses Psychosyndroms sich möglichst verringern und gar nicht erst chronisch werden, was ohne Behandlung voraussichtlich passieren wird. 

Welches Umfeld brauchen Demenz-Kranke?

Und zu allem Überfluss, sozusagen als „Tüpfelchen auf dem I“ setzte meine Mutter auch noch unmittelbar nach ihrer Krankenhausentlassung  gegen jeden ärztlichen Rat von heute auf morgen ihre Antidepressiva ab, weil alle Medikamente im Krankenhaus umgestellt worden waren und sie den neuen unbekannten Tabletten misstraute. Nach einer Entlassung aus dem Krankenhaus hängen eine Diagnostik und Behandlung ausschließlich vom Verständnis und Einverständnis der betroffenen Person ab und damit auch, ob man für sie eine „optimale soziale, pflegerische und sensorische Umgebung“ einrichten kann, die sie dringend benötigen würde. 

Wie groß dazu die Bereitschaft eines misstrauischen, ängstlichen und hochdepressiven Menschen mit Demenz ist, kann sich wohl jeder lebhaft vorstellen. Dass eine normale Familie in einer normalen Wohnung gar nicht in der Lage sein kann, auch nur für eine ansatzweise optimale Umgebung, wie oben geschildert, zu sorgen oder ohne professionelle Unterstützung bei derart
schwerwiegenden psychischen Problemen zu helfen, ist, glaube ich, jedem
klar.

Was machst Du nun als besorgte Tochter, wenn deine Mutter hochdepressiv mit Selbstmordwünschen, einer beginnenden Demenz und gleichzeitigem Verdacht auf Krebs, vor dem sie panische Angst hat, bei dir lebt? 

Alleine kann man es gar nicht bewältigen

Du versuchst dir Hilfe zu holen. Ich habe mit meiner Mutter einen wahren Ärzte- und Krankenhausmarathon hingelegt. Und trotzdem sind wir in der Diagnostik ihrer „unklaren Raumforderung“ nicht wirklich weitergekommen,  so dass weder über eine Behandlung noch eine Perspektive gesprochen werden kann. Das Problem ist, dass sie den meisten Ärzten misstraut, auch weil sie teilweise schon am folgenden Tag vergessen hat, was besprochen wurde und sie so eine wahnsinnige Angst vor einer Fehlentscheidung hat, dass sie lieber gar nicht entscheidet.

Jedem Arzt wurde irgendwann klar, dass sie wegen ihrer Demenz seinen Ausführungen nicht wirklich folgen bzw. sie sich nicht merken kann, sie mit Entscheidungen überfordert ist und er deshalb mit Diagnostik und Behandlung bei ihr nicht weiterkommen wird. Obwohl sie selbst angibt, unter ihren Gedächtnislücken und ihren Depressionen so schlimm zu leiden „wie noch nie”,  hat keiner dieser Ärzte eine entsprechende Diagnostik und Behandlung bei ihr überzeugend angeregt, geschweige denn durchgesetzt.

In diesem Land wirst du mit starken Bauchschmerzen umgehend mit Blaulicht ins nächste Krankenhaus gebracht, hast du aber ein psychisches Problem, überlässt man es dir selbst zu entscheiden, ob du dich behandeln lassen willst, auch wenn dem Arzt klar ist, dass du gar nicht in der Lage bist, diese Entscheidung treffen zu können.

Und plötzlich bist du die Mutter deiner Mutter

Wenn Du kleine Kinder hast oder hattest, kennst du das Phänomen, dass du deine Pläne von morgens bis abends oft nicht abhaken kannst. Du musst mit fortlaufenden Überraschungen und flexiblen Planänderungen leben, wenn Du nicht völlig im Chaos versinken und verzweifeln willst.

In Ruhe lesen, baden, frühstücken oder etwa ausschlafen? Vergiss es. Das oder
die kleinen Wesen halten Dich mit ihren jeweiligen Gefühlen, (Nicht-) Schlafgewohnheiten und ihrem Tatendrang ständig auf Trab und dazu kommt die Beunruhigung, wenn Krankheiten oder Unfälle noch hinzukommen. Und in  besonders harten Zeiten fährt dein Nervensystem dann nur noch auf Reserve, damit du die tägliche Reizüberflutung, der du nun ausgesetzt bist und die fehlenden Ruhephasen überstehen kannst, so dass du schon selbst manchmal apathisch und/oder zerstreut wirkst.

Genau so erging es auch mir ab dem Moment, in dem meine Mutter nach ihrem Durchgangssyndrom aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Fast hatte ich vergessen (oder verdrängt?), wie das so ist, denn meine beiden „Kleinen“ sind schon lange aus diesem Alter raus. Doch nun wurde es mir wieder deutlich bewusst.

Jeden Tag ein bisschen weniger 

Plötzlich ist da dieser neue Mensch, der es nicht ertragen kann, wenn du die Wohnung verlässt, ja, nicht einmal, wenn du im Zimmer nebenan bist. Der nachts nicht schlafen kann und sich über Dinge aufregt, die du nicht verstehst. Der spontan mitten auf der Straße stehen bleibt, um sich in Ruhe mal umzusehen. Der regelmäßig scheinbar aus dem Nichts Weinkrämpfe oder Wutanfälle hat. Der darauf besteht, alles alleine zu machen, um dann regelmäßig zu verzweifeln und sich aufzuregen. Den du zu jedem Arzt begleiten musst, um sicher zu stellen, dass der Arzt die richtigen Informationen erhält und die Empfehlungen des Arztes nicht vergessen werden. Ein Mensch, der heute vehement einfordert, dass du etwas für ihn tun sollst, was er dir morgen vorwirft, weil er das nie gewollt hätte, auf gar keinen Fall.

Doch der Unterschied zwischen deinen Kindern und deiner Mutter ist der: bei deinen Kindern hast du eine Fürsorgepflicht, aber deine Mutter hat das Recht auf Selbstbestimmung. Für deine Kinder bist du eine Autoritätsperson, für deine Mutter „die Kleine“ und deine Kinder lernen jeden Tag Neues, während deine Mutter immer mehr vergisst.

Wenn deine Mutter notwendige Untersuchungen und Behandlungen oder die Einnahme ihrer Medikamente vergisst/verweigert, weil sie sich nicht mehr erinnern kann oder die Tragweite nicht überblickt, kannst du nichts dagegen tun. Auch dann nicht, wenn es lebensgefährlich werden sollte – es ist ihr gutes Recht. Auch wenn deine Mutter regelmäßig davon spricht, sich umzubringen, kannst du nichts tun (es sei denn, sie hat schon die Tabletten oder den Strick in der Hand). Und wenn sie trotz all dieser (auch den Ärzten bekannten Symptome) verweigert, sich wegen ihrer Depressionen und/oder Demenz behandeln zu lassen, dann kannst du ebenfalls nichts tun.

Entmündigen oder selbstbestimmt ins Unglück laufen lassen?

Obwohl auch hierfür die Zustimmung meiner Mutter notwendig gewesen
wäre, habe ich mir verschiedene Angebote für Ältere angesehen, in der Hoffnung, dass ich sie motivieren könnte, tagsüber zumindest stundenweise dorthin zu gehen, da sie dort vielleicht auf Gesprächspartner_innen treffen könnte, ein wenig Abwechslung hätte und eine optimale soziale, pflegerische und sensorische Umgebung.

Aber – egal ob Begegnungs- oder Tagespflegestätten – ich war entsetzt davon, was man alten Menschen zumutet. Das Ziel scheint lediglich zu sein, aufzubewahren und abzufüttern. Von einer behaglichen und altersgerechten Umgebung keine Spur. Der Gipfel war ein vollgequalmter Flur in einer Tagespflegestätte (in der es mit Sicherheit auch Alte mit Lungenproblemen gibt). Und dass auch ältere Menschen – selbst mit einer (beginnenden) Demenz eine gewisse Intelligenz und vielfältige, auch anspruchsvolle Interessen besitzen könnten, damit scheint niemand zu rechnen.

Ähnliches habe ich damals erlebt, als ich auf der Suche nach einem Betreuungsangebot für meine Kinder war: lieblos eingerichtete Räumlichkeiten und schlecht gelaunte Erzieher_innen ohne Motivation, Intelligenz, geschweige denn Phantasie. Doch während sich für Kinder in den vergangenen Jahren auch andere Angebote etablieren konnten, die häufig von Eltern mit initiiert wurden, scheint es so etwas für Ältere kaum zu geben. 

Wo sind die Einrichtungen für Ältere, die durch ihre Kinder initiiert wurden?

Wann wird es so etwas geben? Wieso scheint noch niemand auf so eine Idee gekommen zu sein? Und wieso wundert man sich überhaupt, dass unsere sogenannten Begegnungsstätten für Alte, die ein Freizeitangebot für Menschen ohne anerkannten Betreuungsbedarf sein sollen, häufig leer bleiben?

Meine Mutter sprach derweil immer wieder davon, wieder nach Aachen zu fahren, um „dringende Angelegenheiten“ zu regeln und um uns nicht weiter „zu belasten”

„Alt und Jung passen nicht zusammen und eine Drei-Zimmer-Wohnung ist für vier Leute zu eng.”  

So waren ihre Worte (wobei sie auch regelmäßig betonte, dass es ihr hier eigentlich besser gefällt und ablehnte, über Alternativen nachzudenken). Nun, was soll ich dazu sagen.

Der Plan war ja eigentlich auch nicht, zu viert in Berlin zu wohnen, sondern zu zweit in der Oberlausitz. Was allerdings erst möglich wäre, wenn Diagnosen und
Behandlung geklärt wären. Und dass sie dieses Ziel in ihrem Zustand alleine in Aachen erreichen kann, bezweifle ich jetzt noch mehr als im Dezember.

Was ist bloß das beste für meine Mutter?

Neben ihren Ärzt_innen habe ich deshalb auch verschiedene Psycholog_innen um Rat gebeten. Ich habe mit einer Psychoonkologin gesprochen, mit dem Psychosozialen Dienst und mit dem Berliner Krisendienst. Jede_r teilte mir das gleiche mit: Die Entscheidung liegt alleine bei meiner Mutter – auch mit Demenz. 

Ich trage keine Verantwortung. Ich muss mir keine Sorgen machen. Ich könne aber dem Amtsgericht mitteilen, dass ich den Verdacht habe, dass meine Mutter nicht mehr zurechnungsfähig ist (in der Hoffnung, dass ein aufsuchender Arzt in einem Gespräch die Tragweite ihrer psychischen Verfassung erkennt), was zur Entmündigung führt oder einen Notarzt einschalten, der sie, wenn er davon überzeugt ist, dass sie akut selbstmordgefährdet ist, in die geschlossene Psychiatrie einweist. Etwas dazwischen – so wie bei einem Beinbruch, der ohne Frage natürlich und auch ohne Entmündigung umgehend im Krankenhaus behandelt wird – scheint es nicht zu geben. 

Ich habe mich trotz meiner Sorgen für ihre Selbstbestimmung und gegen eine Fürsorge entschieden, die erst durch radikale Maßnahmen möglich wird. Am Sonntag habe ich sie auf ihren Wunsch hin zum Bahnhof gefahren und versuche mir jetzt nicht auszumalen, wie es mit ihr in Aachen weitergehen wird. Aber die Idee, mich mit einem Konzept für eine Pflegeeinrichtung zu beschäftigen, die durch Angehörige initiiert und gesteuert wird – diese Idee geht mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf.

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