Foto: Ana Drannikow

Die grüne Welle – Argentiniens Debatte über eine Abtreibungsreform

Wann darf eine Frau abtreiben? Kaum ein Thema hat Argentinien in diesen Monaten so bewegt wie ein Gesetzesprojekt zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Der Senat kippte es in letzter Minute – Argentiniens Frauenbewegung hat er damit nicht aufgehalten. Im Gegenteil.

Ein Gesetz für die Legalisierung von Abtreibungen? Noch nicht

Um 2:55 Uhr, in den kalten Morgenstunden des 9. August, fällt die Entscheidung. Das Ergebnis flimmert über die Großleinwand an der Avenida 9 de Julio. 38 rote gegen 31 grüne Punkte. Bedeutet: abgelehnt. Argentiniens Senator*innen haben sich gegen ein Gesetzesprojekt gestellt, das Abtreibungen legalisieren sollte. Laura Moses spürt wie ihr Tränen in die Augen steigen – vor Enttäuschung, vor Wut, aber auch vor Erschöpfung. „Ich kann einfach nicht glauben, dass die Senator*innen da drinnen gegen uns gestimmt haben, gegen diese Masse an Menschen auf der Straße“, sagt die 23-Jährige.

Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits über 24 Stunden wach, hat ausgeharrt bei strömendem Regen und eisigem Wind bis tief in die Nacht hinein. Die meisten ihrer Mitstreiterinnen bibbern unter durchnässten Jacken, die symbolischen grünen Kopftücher hängen ihnen klamm um den Hals, der Mate-Tee ist längst schal geworden. Doch das zählt nicht. Nicht an diesem Tag, nicht in diesem Moment, auf den sie seit Monaten hingearbeitet haben.

Für die Legalisierung von Abtreibungen: die Mahnwache trotz Regen und Kälte.

Die „Grünen“

Am 8. August hielten mehr als eine Million Frauen, aber auch Männer, eine Mahnwache vor dem Kongress in Buenos Aires. Viele von ihnen waren wie Laura erst Anfang 20. Ihr Symbol: die grünen Kopftücher. Ursprünglich das Zeichen der „Nationalen Kampagne für legale, sichere und kostenfreie Abtreibungen“, ein Zusammenschluss von 500 Organisationen, der das Gesetzesprojekt erarbeitet hat.

In den ersten 14 Schwangerschaftswochen sollten Abtreibungen straffrei sein – in Deutschland sind es zwölf Wochen – und sie sollten kostenlos über das öffentliche Gesundheitssystem vorgenommen werden können. Aber längst stehen die grünen Kopftücher für mehr: für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und eine neue Generation, die gegen verkrustete Strukturen rebelliert.

„Legalisiert Abtreibungen!“ Politikerinnen unterstützen die Frauenbewegung.

Eine grüne Welle füllte die Straßen zur rechten Seite des Kongresses: ein grünes Meer, das wogte, tanzte, trommelte und sang: „Jetzt, da wir zusammen sind! Jetzt, da sie uns sehen! Es lebe der Feminismus, er wird siegen, er wird siegen!“ oder „Legale Abtreibung! Jetzt!“ Ganz Lateinamerika hielt den Atem an. Eine Liberalisierung in Argentinien, der Heimat des Papstes, hätte Signalwirkung für die ganze Region gehabt.

„In El Salvador stehen 50 Jahre Haft auf Schwangerschaftsabbrüche. Wie in Honduras, Nicaragua, Haiti und der Dominikanischen Republik dürfen Frauen dort selbst dann nicht abtreiben, wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist.”

Lateinamerika ist der Subkontinent mit den strengsten Abtreibungsregeln der Welt. Einzig im kleinen Uruguay, im sozialistischen Kuba, den beiden Guyanas und Mexiko-Stadt sind Abtreibungen straffrei. In El Salvador dagegen stehen 50 Jahre Haft auf Schwangerschaftsabbrüche. Wie in Honduras, Nicaragua, Haiti und der Dominikanischen Republik dürfen Frauen dort selbst dann nicht abtreiben, wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist. Argentinien gehört da noch zu den „moderateren“ Staaten. In Ausnahmefällen sind Schwangerschaftsabbrüche möglich – nach Vergewaltigungen oder bei Gefahr für Gesundheit und Leben. Ansonsten gelten sie laut Strafgesetzbuch als Verbrechen, auf das bis zu vier Jahre Gefängnis steht.

Mehr als 350.000 „Verbrecherinnen“

Trotzdem treiben die Frauen in Argentinien ab. Illegal. Im Verborgenen. Mehr als 350.000 sind es pro Jahr, schätzt das Gesundheitsministerium. Auch Laura Perla konnte sich damals, vor zehn Jahren, nicht vorstellen, Mutter zu werden. Sie geriet in Panik, erfuhr dann von ihrer Mutter, dass es „Lösungen“ gab. Währenddessen tickte die Uhr: „Irgendwann hatte ich einen Termin, wir fuhren nachts zu der Privatklinik, es ging in den Keller. Das war alles wie in einem seltsamen Film.“

Der Eingriff ging schnell und ohne Worte vor sich. Er kostet sie die achtfache Monatsmiete ihres Ein-Zimmer-Apartments. Sie sagt rückblickend: „Das Schlimmste war, dass ich nichts fragen konnte, nicht wusste, was genau passiert, niemanden hatte, an den ich mich danach wenden konnte. Ich habe mich die ganze Zeit wie eine Verbrecherin gefühlt.“ Heute berät Perla in einer Aktivistengruppe Frauen, die mit dem Arzneistoff Misoprostol abtreiben wollen.

Auch Liz wollte nicht schwanger sein. Aber sie hatte weder Geld für eine Privatklinik noch für Misoprostol-Tabletten. Sie kam mit einer schweren Blutvergiftung ins Krankenhaus, In ihrer Gebärmutter fanden die Ärzte Reste eines grünen Krauts: Petersilie, bestätigten Frauenorganisationen später. Die 24-Jährige hatte versucht, so ihre Schwangerschaft zu beenden. Selbst auf der Intensivstation konnte nichts mehr sie getan werden. Sie starb, zwei Tage, nachdem der Senat gegen die Legalisierung von Abtreibungen gestimmt hatte – und hinterlässt zwei kleine Kinder.

Verbote verhindern die Abtreibung nicht

„Seien wir doch nicht scheinheilig!“, hatte die Senatorin der Provinz La Pampa, Norma Durango, gefordert: „Frauen treiben ab. Wer das Geld hat, zahlt dafür teuer in einer privaten Praxis. Doch wer das Geld nicht hat – und das ist die Mehrzahl der Frauen – zahlt allzu oft mit dem Leben. Unterstützung von Frauen, die abtreiben wollen, muss Gesundheitspolitik sein – alles andere bedeutet, die Heimlichkeit und den Schwarzmarkt zu fördern.“

Verbote verhindern Abtreibungen nicht, das zeigt ein weltweiter Vergleich der WHO. In Ländern mit liberalen Gesetzgebungen gehen dagegen Abtreibungen und Risikofälle zurück, auch weil die Legalisierung meist mit umfassenden Beratungsangeboten verbunden wird. Dass hinter der Illegalität auch ein großes Geschäft blüht – für Ärzt*innen, Privatkliniken oder den bisher einzigen Hersteller des Arzneistoffes Misoprostol in Argentinien – dürfte beim Widerstand gegen das Gesetzesprojekt keine unwichtige Rolle gespielt haben.

Kritik an der Regierung Macri, die grünes Licht für Debatte im Senat gab.

Währenddessen kommt es in Argentinien jedes Jahr bei rund 50.000 im Verborgenen durchgeführten Abtreibungen zu Komplikationen. Das sind Zahlen des Gesundheitsministeriums. In den letzten 40 Jahren endeten über 3.000 solcher Komplikationen mit dem Tod der Frau. Die meisten Fälle verzeichnen die ärmsten Regionen des Landes: die Vorstädte von Buenos Aires und der Norden. Es sind die Regionen, in denen keine oder kaum Sexualerziehung an Schulen stattfindet, die kostenlose Ausgabe von Verhütungsmitteln verhindert wird und es die meisten minderjährigen Mütter gibt. Es sind gleichzeitig die Regionen, in denen die Kirche den größten Einfluss hat.

Hellblau gegen grün

Auf der anderen Seite des Kongresses explodieren in den Morgenstunden des 9. August Feuerwerkskörper. Hinter dem Vorplatz des Parlamentsgebäudes, der mit schweren Gittern umstellt ist und so die umliegenden Straßenblöcke in zwei Lager teilt, feiern die Gegner*innen des Gesetzesprojektes das Nein zur Legalisierung. Mit hellblauen Kopftüchern und hellblauen Nationalflaggen, Rosenkränzen und Kruzifixen. „Danke Gott, danke Senatoren“, kreischen zwei Freundinnen hüpfend in die Kameras, sie sind aus der nördlichen Provinz Tucumán angereist. Die „Hellblauen“ waren weit weniger als die „Grünen“, doch über den Tag verteilt kamen immer noch Tausende.

„Rettet die zwei Leben“, steht auf ihren Plakaten, und: „Das Leben beginnt mit der Empfängnis“. „Wir sind die Stimme derer, die keine haben“, sagt die 21-jährige Talca Viale, die Jura an der Katholischen Universität studiert. Marta Rodriguez von „Pro Vida“ erklärt: „Ich bin für Frauenrechte, aber auch das Ungeborene hat Rechte.“ Der Staat müsse Alternativen zur Abtreibung bieten und dürfe die verzweifelten Frauen nicht alleine lassen. Francisco Salas aus dem Vorort Morón findet: „Das Leben und die Liebe haben gesiegt. Der einzige, der über das Leben entscheidet, ist Gott.“

Abtreibungsgegner in Buenos Aires.

Zur Stunde der Abstimmungen harren nur noch ein paar Hundert auf der Straße aus. Auch die Attrappe eines gigantischen Fötus aus Pappmaché ist um diese Uhrzeit bereits abgebaut. So sind auf dem Titelfoto der Zeitung „La Nación“ am nächsten Tag vor allem jubelnde Männer zu sehen, einer davon in Jesus-Pose, dazu das Plakat: „Christus siegt“. Das sagt viel über den Riss, der Argentiniens Gesellschaft in dieser Debatte spaltet.

Kirche und Staat

Mehr als 700 Redner*innen haben seit Beginn der Debatte im Kongress im März Argumente für und gegen die Legalisierung von Abtreibungen dargelegt. Erstmals wurde öffentlich über das Tabu-Thema gesprochen. Quer durch alle Parteien, so vielschichtig und so emotional wie kaum zuvor bei einer Gesetzesinitiative – teils wurde es aber auch bizarr. Der einstige Bildungsminister und aktuelle Senator der Provinz Buenos Aires hielt ein Plädoyer für die Mutterschaft, zuvor hatte er bereits mit einem Gedicht aus der Ich-Perspektive eines Fötus für Schlagzeilen gesorgt. Eine Abgeordnete schlug vor, das ungewollte Ungeborene per Kaiserschnitt zu entfernen und im Brutkasten aufwachsen zu lassen. Ein anderer Politiker dankte den Müttern von Mozart, Vivaldi, Da Vinci und seiner eigenen, dass sie nicht abgetrieben hatten.

Auf der anderen Seite formierten sich Mediziner*innen, Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen. „Ich bin selbst nicht für Abtreibungen,“ erklärte eine eher konservative TV-Moderatorin, „aber hier geht es nicht um persönliche Überzeugungen, sondern um ein Problem der Gesundheitspolitik.“ Im Juni wurde die Vorlage zur Legalisierung – knapp und überraschend – von der Abgeordnetenkammer angenommen. Mehrere Umfragen kamen zu dem Ergebnis, dass die große Kammer des Kongresses damit im Sinne der Mehrheit in der Bevölkerung entschieden hatte.

Kurz danach begann der Widerstand von ganz oben: Papst Franziskus verglich die Abtreibung schwerkranker Föten mit Nazi-Praktiken „in weißen Handschuhen“. Erzbischof Mario Aurelio Kardinal Poli mahnte die Senatoren, nicht den Tod zu legalisieren. Und Padre Pepe di Paola, ein mit dem Papst eng verbundener Pater, der sich in Argentiniens Armenviertel engagiert, erklärte: Legale Abtreibungen seien Teil der Vereinbarung der Regierung unter Präsident Mauricio Macri und dem Internationalen Währungsfonds, bei dem Argentinien gerade einen umstrittenen Milliarden-Kredit aufgenommen hatte. Er suggerierte: Es gehe um Geburtenkontrolle in Entwicklungsländern. Gerüchte kursierten: Arme Frauen sollten zum Abtreibungen gezwungen werden. Sie würden zum Ersatz für Verhütungsmittel. Das Gesetz sähe Abbrüche bis zum 9. Monat vor.

Marta Alanis schüttelt den Kopf: „Es geht um Entkriminalisierung. Keine Frau wird zum Abtreiben gezwungen.“ Die 69-Jährige ist Katholikin und Feministin. Kein Widerspruch, findet sie. Im Gegenteil: Der Kirche gehe es nur vordergründig um Moral, sagt sie, vor allem aber um Einfluss und Macht: „Die katholische Kirche ist eine Organisation von Männern, die uns Frauen seit Jahrhunderten vorschreiben, was wir mit unseren Körpern und unserer Sexualität machen dürfen. Dabei verstehen sie von beidem nichts. Das gleicht einem Kreuzzug.“

Die Welle rollt weiter

Protest der Mägde vor dem Kongress.

Eine Woche nach der Abstimmung im Senat, eine halbe Woche nach dem Tod von Liz, ziehen die „Mägde“ vor den Kongress. Eingehüllt in rote Roben, den Kopf gesenkt, das Gesicht durch eine weiße Haube vor Blicken abgeschirmt. Frei nach Margaret Atwoods berühmtem Roman und der gleichnamigen Serie „The Handmaids Tale“, zu Deutsch „Der Report der Magd“; eine Dystopie über ein theokratisches Männerregime, in dem die Mägde nichts weiter sind als Gebärmaschinen.

Aktivistinnen weltweit nutzen die Robe der Mägde zum Protest für Frauenrechte. Die „Mägde“ von Buenos Aires haben Petersilie dabei, Kleiderbügel und eine Attrappe der Abstimmungstafel aus dem Senat – für jede Nein-Stimme zum Gesetz prangt darauf ein Kreuz. „Ihr seid verantwortlich für jede weitere Frau, die durch geheime Abtreibungen stirbt“, steht darunter.

In der gleichen Woche treten Hunderte Frauen zeitgleich aus der katholischen Kirche aus. Und Kioske der Stadt bereiten sich auf die nächste Debatte vor: Zusätzlich zu grünen und hellblauen Kopftüchern gibt es dort nun orangefarbene: Für die wahre Trennung von Kirche und Staat, steht darauf.

„Heute Nacht gewinnt das Nein, aber es wird nicht überzeugen“, sagte der Senator Miguel Ángel Pichetto in seinem Abschlussplädoyer am 8. August. Und Aktivistin Laura Moses glaubt: „Die Legalisierung wird kommen, dann eben nächstes oder übernächstes Jahr – das ist nicht mehr aufzuhalten.“

Alle Bilder im Text: Anne Herrberg

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