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Ein Jahr Selbstständigkeit: Ich habe unfassbar viel gelernt

Sich selbsständig zu machen, das ist ein Abenteuer. Unsere Community- Autorin Renata Britvec hat es gewagt und ist seit einem Jahr freiberufliche Texterin, Lektorin und Übersetzerin. Sie schaut hier auf dieses Jahr zurück, teilt ihre Erfahrungen und berichtet, was sie alles zu feiern hat.

 

Ein Jahr Selbstständigkeit: Das habe ich daraus gelernt

Heute bin ich genau ein Jahr lang selbstständig und feiere den Geburtstag meines Einzelunternehmens, der Lektoratur. Happy birthday to you! To me, too, gewissermaßen. In den vergangenen zwölf Monaten, in denen es bergauf, bergab und bisweilen geradeaus ging, habe ich viel gelernt. Außerdem habe ich Ressourcen und Kompetenzen entdeckt, von denen ich bisher gar nicht wusste, dass ich über sie verfüge. Es ist Zeit, ein Resümee zu ziehen:

Was ich gelernt habe? Vieles! Etwa, dass Nein sagen eins der schwierigsten Dinge der Welt ist. Die Gründe hierfür sind verschieden. Es geht nicht immer nur darum, es allen recht machen zu wollen. Nein. Manchmal sage ich Ja, obwohl ich Nein sagen müsste, weil ich selbst nicht verzichten will. Gelegentlich sagte ich Ja, obwohl ein klares Nein vonnöten war, weil ich Angst hatte, einen Kunden zu verlieren.

Heute kann ich ohne Probleme Nein sagen

Die Selbstständigkeit hat mich innerhalb kürzester Zeit vom zwanghaften Ja-Sagen kuriert. Ich habe einfach keine Zeit für ein Ja ohne Sinn und Verstand. Finde ich ein Projekt für mich nicht annehmbar, sage ich einfach Nein. Ist ein Job unter aller Sau bezahlt, sage ich mit großer Freude Nein. Ist ein Kunde unverschämt und gemein, gibt es ein scharfes Nein. Bietet mir ein Kunde an, eine unbezahlte Probearbeit zu leisten, lache ich ein wunderschönes Nein.

Das Video, mit dem Zulu Alpha Kilo, das vor einigen Monaten für virale Furore sorgte, bringt genau auf den Punkt, warum ich nicht umsonst arbeite. Ich habe ein Portfolio, eine Website und verschicke gerne auch weitere Links zu Arbeitsproben. Ist der Kunde dann noch nicht überzeugt, muss er sich einen anderen Dienstleister suchen.


Was wiederum das Ja angeht: Es freut sich sehr darüber, dass es sich ab und zu ausruhen darf, ist dafür aber umso motivierter, wenn es zum Einsatz kommt. Gerne auch einmal bei einem ehrenamtlichen Projekt oder wenn es darum geht, jemandem aus der Patsche zu helfen.

Neue Skills: Ich kann rechnen wie ein Gott

Ich bin ja einmal wegen Mathe durchgefallen. Zahlen waren meine Feinde, und Geld war mir auch immer suspekt. Wahrscheinlich weil ich als Kind, Schülerin und Studentin einfach keines hatte. Auch im Berufsleben setzte sich dieses Misstrauen fort und ich wollte am liebsten überhaupt keine Rechenaufgaben lösen, selbst dann nicht, wenn es um meine Existenz ging. Ich muss nicht erwähnen, dass es mir vor der jährlichen Lohnsteuererklärung graute.

Mittlerweile jedoch habe ich mich daran gewöhnt zu rechnen. Nicht, dass Zahlen und Euros nun meine besten Freunde wären – so innig ist unsere Beziehung nun auch wieder nicht – aber ich habe es geschafft, ein entspannt-professionelles Verhältnis zu ihnen aufzubauen. Gerne nehme ich die Dienste meiner überaus freundlichen und kompetenten Steuerberaterin in Anspruch, kümmere mich jedoch monatlich selbst um meine vorbereitende Buchhaltung. Ich habe eine schlaue Exceltabelle, die mir immer sagt, wie viel ich im laufenden Monat bereits verdient habe und ob eine Rechnung aus dem vergangenen Monat offen ist.

Ich fühle mich jetzt viel verantwortlicher. Verdiene ich nicht genug, kann ich meine Rechnungen nicht bezahlen. Ganz einfach. Man sollte meinen, dass diese Verantwortung auch und vor allem Druck bedeutet. Ich hingegen empfinde sie als Befreiung und Inspiration. Ich muss einfach wissen, was Sache ist. Wie viel darf ich mir auszahlen? Wie viel muss ich für Steuern und andere Notfälle zurücklegen? Was kann ich mir in diesem Monat leisten? Habe ich die Möglichkeit, etwas in meine Reisekasse zu werfen? Kann ich mir am Freitag freinehmen? Und plötzlich macht das Rechnen richtig Spaß!

Was ich heute auch sehr gut kann: Mich dem Genuss hingeben

Die Selbstständigkeit ist ein echter Genuss für mich. Ich möchte die Dinge nicht schönreden: Wie jede andere Gründerin auch sitze ich bisweilen nächtelang am Laptop und zerbreche mir den Kopf über Texte, die ich schreiben, übersetzen oder lektorieren muss. Oft weiß ich nicht, wie ich das alles schaffen soll. Manche Monate sind nicht so ertragreich wie andere.

Aber, und es ist ein großes Aber: Ich genieße die bereits erwähnte Verantwortung, die zwar ausschließlich auf meinen Schultern lastet, weil ich keine Chefin und keine Kollegen habe, welche mich jedoch gleichzeitig befreit. Ich bin frei zu tun und zu lassen, was immer ich möchte. Und das genieße ich in vollen Zügen.

Was ich darüber hinaus genieße: Etwas zu tun, was ich richtig gut kann. Mich jeden einzelnen Tag neuen Herausforderungen zu stellen. Mir einen freien Tag zu nehmen, wenn ich ihn brauche oder wenn jemand mich braucht. Einfach mal zwei Monate in meiner Heimat zu verbringen und dort zu arbeiten.

Meine Freizeit genieße ich übrigens auch viel mehr, seit ich selbstständig bin. Nach der Arbeit schalte ich jetzt richtig ab. Im Gegensatz zu früher fühle ich mich nicht mehr gezwungen, etwas zu kompensieren. Meine Freizeit ist jetzt wirklich freie Zeit, in der ich mich völlig fallen lassen kann!

Geschieht heute regelmäßig: Dankbarkeit spüren

Das Gefühl von Dankbarkeit werte ich als Ressource. Dankbarkeit inspiriert, motiviert und strahlt nach außen. Ich bin dankbar dafür, dass ich die Chance bekommen habe, mich selbstständig zu machen. Wie so oft im Leben ist auch hier eine Krise vorangegangen, die sich letztlich als Chance erwiesen hat. Ich weiß nicht, wer von den Göttern seine Finger mit ihm Spiel hatte, ob es vielleicht Fortuna war, ob Dionysos und Apollon am Werk waren, oder ob das Universum auf wundersame Weise eine neue Ordnung für mich erdacht hat. Wer auch immer du bist, ich bedanke mich bei dir.

Ich bin mir selbst dankbar dafür, dass ich diese Chance nicht verstreichen ließ, sondern sie allen Ängsten zum Trotz am Schopfe packte und mich ins Abenteuer stürzte. Belohnt wurde ich mit der Lektoratur und einem neuen Lebensgefühl. Ebenfalls dankbar bin ich meinen lieben Freundinnen, Freunden und meiner Mutter. Ohne euch hätte ich mich weder getraut, das Wagnis einzugehen, noch hätte ich irgendetwas zustande gebracht. Euer Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten hat mich von der Vorbereitungsphase bis zum ersten Tag der Gründung und darüber hinaus getragen.

Wem ich außerdem dankbar bin: meinen treuen Kundinnen und Geschäftspartnern. Ich habe tolle Menschen kennengelernt, mit denen es sich professionell und freudvoll zusammenarbeiten lässt. Vielen Dank Ihnen allen, Sie machen das Abenteuer Lektoratur zu dem, was es ist

Fünfe gerade sein lassen

Vor der Gründung hatte ich die Befürchtung, dass ich mich in einen hysterischen Pedanten verwandeln würde. Es hätte mich auch nicht gewundert – schließlich habe ich als Einzelunternehmerin ganz schön viel Verantwortung und Unmengen an Arbeit. Damit alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, muss ich mit Argusaugen über mich, meine Arbeit, meine Finanzen, mein Marketing und vieles mehr wachen.

Absurder- und glücklicherweise haben all diese Anforderungen dazu geführt, dass ich mich zutiefst entspannt habe. Ausnahmen bestätigen die Regel, und so drehe natürlich auch ich durch, wenn die Lektoratur kurz vorm Explodieren steht, weil ich mir entweder zu viel Arbeit aufgehalst habe oder ein wenig zu nachlässig mit der Akquise war und deshalb kurzzeitig Flaute herrscht.

Mittlerweile vertraue mir selbst aber, alles richtig zu machen und die Dinge im Griff zu haben. Da ich Stress in übertriebenen Maßen als meinen Erzfeind betrachte, gebe ich ihm jetzt einfach keine Chance. Wenn sein hässlicher gehörnter Kopf sich wieder einmal blicken lässt, pfeife ich einfach ein Liedchen. Im übertragenen Sinne natürlich. Manchmal aber auch in echt.

Auf zu neuen Abenteuern!

Mein Fazit nach dem ersten Jahr der Selbstständigkeit fällt jedenfalls hauptsächlich positiv aus. Das Schöne ist: All das, was ich durch das Einzelunternehmertum gelernt habe, wirkt sich auf mein ganzes Leben aus. Ich halte nicht viel von dem Begriff Work-Life-Balance. Für mich ist die Arbeit ein wichtiger Bestandteil des Lebens, so kann ich keine Balance zwischen Leben und Arbeit finden, wenn mein Leben nicht in Ordnung ist. Dass aber die Arbeit sich positiv auf mein Leben auswirken und es in diesem Maße bereichern würde, hätte ich niemals für möglich gehalten. Ziemlich gut, muss ich sagen. Das Abenteuer kann also weitergehen!

Dieser Text wurde zuerst auf Notizen am Rande veröffentlicht. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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