Was habt ihr erlebt, als ihr so alt wart wie mein Sohn heute? Diese Frage haben Fotografin Frederike Helwig und Journalistin Anne Waak 45 Zeitzeugen gestellt – und die Antworten in ihrem Buch „Kriegskinder“ festgehalten.
45 Zeitzeugen, 45 Geschichten
Die Zeitzeugen, die den zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sind mittlerweile in ihrem achten Lebensjahrzehnt. Sie schauen auf ein Leben zurück, geprägt von einem Gefühl der Angst, von Hunger, von Krankheit, von Verlust von Familienangehörigen, von Tod. Fotografin Frederike Helwig und Journalistin Anne Waak haben 45 Zeitzeugen getroffen und sich über ihre Erinnerungen unterhalten und nachgehakt: „Was habt ihr erlebt, als ihr so alt ward wie mein Sohn heute? Und was hat euch zu dem Menschen gemacht, der ihr heute seid?“ Die Antworten haben sie in ihrem Buch „Kriegskinder“ zusammengefasst. Wir haben uns mit den beiden unterhalten und nachgefragt, was wir denn eigentlich machen können, damit die Erfahrungen der Zeitzeugen des zweiten Weltkriegs weiterleben.
Liebe Frederike, liebe Anne, wie ist die Idee zu eurem Buch „Kriegskinder“ entstanden?
Frederike Helwig: „Als mein Sohn vor ein paar Jahren in die Schule kam, stellte ich mir die Frage, wie eigentlich meine eigenen Eltern in diesem Alter lebten. Sie haben, genau wie die Großmütter von Anne, die Kriegs- und Nachkriegsjahre als Kinder mitgemacht, aber wie viele ihrer Generation selten bis nie darüber gesprochen. Entweder weil sie nie gefragt wurden oder, wenn sie gefragt wurden, häufig keine ehrlichen Antworten geben konnten, weil sie sich selber wenig mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. Dem wollten wir nachgehen.“
„Viele Menschen haben erst im hohen Alter den Raum, den Mut und den Willen, über diese Zeit nachzudenken, auch weil ihnen klar wird, dass es sonst zu spät sein könnte.“
Nach welchen Kriterien habt ihr die Porträtierten ausgewählt?
Anne Waak: „Wir haben Inserate in Zeitungen geschaltet, daraufhin haben sich die Zeitzeugen bei uns gemeldet. Sie brachten also die Bereitschaft zum Sprechen schon mit und hatten teilweise auch Dokumente herausgesucht: Fotos, Postkarten und Tagebuchaufzeichnungen. Das hat es uns leicht gemacht, ins Gespräch zu kommen.
Viele Menschen haben erst im hohen Alter den Raum, den Mut und den Willen, über diese Zeit nachzudenken, auch weil ihnen klar wird, dass es sonst zu spät sein könnte. Wichtig war uns, dass die Porträtierten während des Zweiten Weltkriegs und den Jahren unmittelbar danach noch Kinder waren, gleichzeitig aber alt genug, um eigene Erinnerungen an das zu haben, was um sie herum passierte. Deshalb haben wir Menschen ausgewählt, die zwischen 1934 und 1943 geboren wurden.“
„Die Erzählungen sind hart und man fragt sich, wie diese Menschen gelebt haben, während sie diese Erinnerungen mit sich herumgeschleppt haben.“
Rotraud Klein-Moquay, geb. 1938 in Wustrow.
Konntet ihr ähnliche Verhaltensweisen bei den Porträtierten feststellen?
Waak: „Nur wenige der Befragten fühlen sich durch das Erlebte traumatisiert. Im Gegenteil betonen die meisten, dass sie diese Zeit alles in allem gut überstanden haben und sie auch schön war. Manchmal wurde während der Interviews geweint, aber abschließend hieß es: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Dieser Satz fiel so häufig, dass wir ihn als Titel des Buchs hätten wählen können.“
Helwig: „Für uns spricht daraus die fehlende Bereitschaft und Fähigkeit der Nachkriegsgesellschaft, sich mit dem Geschehenem ehrlich und reflektiert auseinanderzusetzen, und die Unfähigkeit, trauern zu können – um mit den Worten der Psychoanalytikern Alexander und Margarete Mitscherlich zu sprechen. Ohne Trauer kann sich keine Reue entstellen und ohne Reue kein Verantwortungsgefühl. Die Generation hat sich hauptsächlich mit dem Wiederaufbau beschäftigt.
Uns war es wichtig, die Menschen reden zu lassen, ohne sie zu bewerten. Trotzdem ist es offensichtlich, dass in der Kriegskindheit Erlebtes im Erwachsenenalter nicht aufgearbeitet wurde. Die Erzählungen sind hart und man fragt sich, wie diese Menschen gelebt haben, während sie diese Erinnerungen mit sich herumgeschleppt haben. Gesellschaftlich kann man sich fragen, warum das Nazireich politisch und dokumentarisch vorbildhaft dokumentiert wurde, aber in deutschen Familien bis zu diesem Tag wenig über die Vorfahren geredet wird. Schuld und Scham spielen weiterhin eine große Rolle.“
Horst Meinardus, geb. 1941 in Köln.
Welche Handlungsmuster habt ihr in euch wiedererkannt, die von eurer Familie an euch weitergegeben wurden?
Helwig: „Meine Generation hat, ohne zur Zeit des Krieges auf der Welt gewesen zu sein, eine gute Portion Schuld und auch Scham geerbt. Häufig äußert dieses sich in inkonkreten und diffusen Gefühlen. Einige in meiner Generation leiden unter transgenerationalen Folgen wie Depressionen. Häufig werden die Kinder unbewusst beauftragt, die Probleme der Eltern zu lösen. Darauf geht die Publizistin Alexandra Senfft im Vorwort des Buches ein.“
Waak: „Ich kenne den Impuls, über bestimmte Dinge lieber nicht sprechen zu wollen oder andere nicht zum Reden drängen zu wollen, aus Angst, alte Wunden aufzureißen. Aber es gibt ein Bedürfnis zu sprechen – und eine Dringlichkeit. Die erlebten Erinnerungen an den Krieg werden mit diesen Menschen verschwinden.“
Welche Botschaft wollt ihr mit dem Buch weitertragen?
Waak: „Wie viele Bücher ist es erst einmal ein Versuch, etwas in der Welt zu verstehen. In diesem Fall war das die Geschichte der eigenen Eltern bzw. Großeltern. Was hat sie zu denen gemacht, die sie sind? Gleichzeitig wollen wir mit dem Buch die frühen Erfahrungen einer Generation dokumentieren und einen Eindruck darüber vermitteln, wie lange diese nachwirken. Wenn wir damit das Sprechen in anderen Familien anstoßen können: umso besser.“
„Meiner Ansicht nach wird in deutschen Familien zu häufig die eigene Opferrolle betont und die Täterschaft verschwiegen.“
Wolf-Dieter Glatzel, geb. 1941 in Berlin.
Was nehmt ihr persönlich aus den Geschichten mit, die ihr durch das Buch erfahren habt?
Helwig: „Es ist wichtig, dass in deutschen Familien ein offener und ehrlicher Dialog über die Rolle der eigenen Großeltern und Urgroßeltern im Nazi-Regime geführt wird, um zu verstehen, wie es von einer ganzen Gesellschaft unterstützt wurde. Meiner Ansicht nach wird in deutschen Familien zu häufig die eigene Opferrolle betont und die Täterschaft verschwiegen. Das hilft weder den wahren Opfern der Nazis, die auch weiterhin Empathie und Verständnis verdienen, noch den Nachfahren, weil keine Verantwortung von Seiten der Täter übernommen wird.“
Was können wir machen, damit die Erfahrungen der Generation der Zeitzeugen weiterleben?
Waak: „Nachfragen. Zuhören. Weiter nachfragen.“
Helwig: „Zusammen über Geschehenes trauern und anfangen, Verantwortung zu übernehmen, damit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland keine Chance mehr haben.“
Waak: „Und wir sollten uns klar machen, dass in diesem Moment in Deutschland und anderswo eine neue Generation von Kriegskindern heranwächst: die Menschen aus den Kriegsgebieten der Gegenwart.“
Anneliese Rübesamen, geboren 1938 in München. Hannelore Bille, geb. 1936 in Berlin.
Werner Weber, geb. 1936 in Dortmund. Brigitte Böhme, geb. 1937 in Dortmund.
Ruth Stengler, geb. 1935 in Hamburg. Peter Brötzmann, geb. 1941 in Remscheid.
Wenn ihr mehr über die Erfahrungen und Erlebnisse der Generation Kriegskinder erfahren wollt, könnt ihr das Buch hier kaufen.
Quelle aller Bilder: Frederike Helwig
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