Auf dem Bild ist vor blauem Hintergrund die Politikerin Aminata Touré zu sehen.
Foto: Alina Schessler

Aminata Touré: „Ich hoffe, dass eine Schwarze Kanzlerin keine Utopie ist“

Die Politikerin Aminata Touré wird oft als Heldin erzählt – weil sie in so vielen Bereichen die erste war und oft auch die einzige. In ihrem ersten Buch schreibt sie ihre Geschichte selbst und möchte damit vielfältige Menschen ermutigen, politisch aktiv zu werden. Ein Gespräch über Vertrauen, Veränderung und ihre Mutter.

Aminata Touré, geboren 1992, wuchs in Neumünster auf und trat 2012 der Grünen Jugend bei. Seit 2017 ist sie Landtagsabgeordnete in Schleswig-Holstein und seit 2019 Vizepräsidentin des Parlaments. In ihrer Fraktion ist sie Sprecherin für die Themen Migration, Antirassismus und Gleichstellung.

Aktuell ist sie die erste afrodeutsche Vizepräsidentin eines Landtags. Und sie ist auch die erste afrodeutsche Politikerin, die ein politisches Sachbuch mit Lyrik geschrieben hat.

Wie viele Heldinnen braucht es noch, damit ihre Geschichte einfach nur eine Lebensgeschichte ist?

Wir treffen Aminata Touré zu einem digitalen Gespräch. Während wir sprechen, lacht sie viel und die Freude über ihr Buch, ihr erstes Buch, überträgt sich auch digital.

Aminata, du widmest dein Buch „allen, die Wege gehen, die vor ihnen noch niemand gegangen ist.“ Welche Wege sind das bei dir?

Aminata Touré: „Der Weg in die Politik als Teil einer Gruppe, die nicht oft in der Politik vertreten ist. Aber dann gibt es auch noch viele andere Bereiche außerhalb der Politik, in denen es nicht viele Menschen gibt, die so sind wie ich.“

Du schreibst: „In dem Moment, in dem unsere Eltern dieses Land betreten, beerdigen unsere Eltern ihre Träume.“ Welche Träume waren das bei deinen Eltern?

„Der Traum, das leben und arbeiten zu können, was man gelernt oder studiert hat. Das Leben zu leben, das man sich für sich vorgestellt hat. Meine Mutter, die ja auch in meinem Text auftaucht, führt ein gutes Leben. Aber ich ertappe mich schon dabei, manchmal Gewissensbisse zu haben oder mich schuldig zu fühlen, weil ich ein Leben führe, das sie sich für sich auch hätte vorstellen können.“

Ich lese dein Buch als Liebeserklärung an deine Mutter. Und aus der Perspektive einer Mutter würde ich sagen: Wenn deine Tochter so ein Buch schreibt, hast du alles richtig gemacht.

„Voll cool (lacht).“

Auszug aus dem Buch: Ich erinnere mich an unzählige Momente in meinem Leben, in denen die stärkste Person in einem Raum meine Mutter war. 

Du schreibst: „Was meine Mutter mir beibrachte, neben dem Schreiben, Lesen, Lieben, Wertschätzen und dem Beharren, ist Feminismus.“ Wer hat es ihr eigentlich beigebracht?

„Ihre eigene Mutter, aber auch die Umstände, in denen sie groß geworden ist. Meine Mutter ist nicht in einem feministischen Kollektiv groß geworden. Aber die Tatsache, dass sie Bildung hatte, hat sie ermutigt, zu sich selbst zu stehen. Sie wusste, was sie kann.“

Du erzählst in deinem Buch von einem rassistischen Übergriff des Schul-Hausmeisters auf dich. Deine Mutter hat sofort reagiert und die Schulbehörde informiert. 

„Die Angst vor einem Skandal war der Grund dafür, mich alleine zu einem Gespräch in der Schule kommen zu lassen. Aber das ließ meine Mutter nicht zu, so wie sie es in keiner anderen Lebenssituation zuließ, dass man ihre Töchter oder sie so behandelte. Sie ging mit und informierte die Behörden.“ 

„Ich bin mit einem kritischen Blick auf staatliche Institutionen aufgewachsen, aber immer mit dem Bewusstsein, sie auch besser machen zu können.“

Eigentlich ist dieses Verhalten deiner Mutter ja auch ein Plädoyer für Politik und Strukturen. Woher hatte deine Mutter diesen Mut und auch das Vertrauen in die Strukturen?

„Meine Mutter hat uns immer Vertrauen in bürokratische Strukturen vermittelt. Ohne Naivität – es war immer klar, dass diese auch problematisch sein können oder zumindest einige Menschen in den Strukturen. Aber es war immer klar, dass ein Grundvertrauen da ist. Wir leben in einem Land, in dem Demokratie funktioniert, mit diesem Wissen bin ich aufgewachsen. Deshalb gehöre ich auch nicht zu den Leuten, die dieses Land schlechtreden. So bin ich nicht aufgewachsen. Schon mit einem kritischen Blick auf staatliche Institutionen, aber immer mit dem Bewusstsein, sie auch besser machen zu können.“

Das schreibt deine Mutter ja auch selbst in einem Teil deines Buchs.

„Genau, und sie schreibt, dass sie stolz ist, dass ihre Tochter jetzt selbst Teil dieser Strukturen ist. Und dieses Vertrauen beginnt ja dann auch, wenn man diese Strukturen nutzt. Ich bin mir sicher, hätte meine Mutter nicht bei der ersten Telefonnummer Hilfe gefunden, sie hätte die nächste und die übernächste Nummer angerufen. Sie wusste, was ihr zusteht.“

Deine Mutter ist sehr stolz auf dich. Hinterfragt sie auch manchmal den Stress, den du hast, weil du eine öffentliche Person bist?

„Sie ist immer unterstützend, aber sie sagt auch, dass ich das Wichtigste bin. Ohne das alles um mich herum. Das finde ich auch total wichtig. Wenn ich sie besuchen komme, sagt sie immer: Bitte schlaf aus. Die eigene Familie ist ja auch manchmal ein gutes Warnsignal. Wenn dann sowas kommt, denke ich: Okay, vielleicht war ich die letzten Male ein bisschen zu pampig unterwegs.“ 

In deinem Buch fragst du: Wie bereit wäre diese Gesellschaft für eine Schwarze im Vorstand eines DAX-Konzerns? Für eine Schwarze Kanzlerin? Was denkst du?

„Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es. Ich hoffe, dass eine Schwarze Kanzlerin keine Utopie ist.“

Dir wird diese politische Zukunft ja auch oft vorhergesagt und du stellst im Buch klar, dass das eigentlich nicht dein Traum ist. Wird dir diese Frage gestellt, um sich selbst zu vergewissern, dass alles gut und alles möglich ist?

„Die Mehrheitsgesellschaft wiegt sich in Sicherheit, wenn sie sagen kann: Guck mal, wir haben doch dich, alles ist gut. Genau wie mit einer Frau an der Spitze. ,Jetzt haben wir kein Problem mehr mit Sexismus in der Gesellschaft.‘ Das stimmt natürlich nicht. Und trotzdem würde ich nicht sagen, dass es egal ist, ob eine Frau an der Spitze steht oder nicht.“ 

Du schreibst: „Aber ja, Frauen können es an die Spitze schaffen, ich habe schon mal von Angela Merkel gehört.“ Wie findest du Angela Merkel?

„Ich habe einen Heidenrespekt vor ihr. Gerade, seitdem ich selbst in der Politik bin. Das verändert ja nochmal die Perspektive. Von außen ist es leicht zu sagen, so und so würde ich das machen. In einer konservativen Partei so einen politischen Machtanspruch gestellt zu haben und das auch durchgezogen zu haben, das finde ich krass.

Nichtsdestotrotz gibt es natürlich inhaltliche Punkte, bei denen ich absolut nicht konform gehe mit ihr. Der EU-Türkei-Deal zum Beispiel. Auf der anderen Seite fand ich es richtig, dass sie 2015 sagte, dass wir bereit sind, über die Quote hinaus Menschen bei uns aufzunehmen. Wenn man sich die politische Person Angela Merkel anschaut, muss man schon sagen, so eine Person gibt es nicht noch einmal.“ 

Und innerhalb der Partei ja erst recht nicht. Es gibt wenig weiblichen Nachwuchs in der Union.

„Daran sieht man ja auch, dass sich die Strukturen durch eine Frau an der Spitze nicht verändern. Dafür muss man aktiv arbeiten.“

Auszug aus dem Buch: Ich würde mich auch lieber mit anderen Dingen beschäftigen als mit dem Hass, der uns entgegenschlägt, aber es geschieht nicht ausreichend und deshalb muss ich dafür streiten. 

„Vielleicht wäre ich ohne Rassismus in der Gesellschaft nicht in die erste Reihe gegangen.“

Welche Dinge wären das, mit denen du dich beschäftigen würdest?

„Dahinter steckt die zentrale Frage: Würde ich Politik machen, wenn es bestimmte Herausforderungen nicht geben würde? Würden wir dann alle einfach nur verwalten und keine Politik mehr machen? Wir bräuchten dann diese Aushandlungsprozesse nicht mehr. Ich denke, ohne diese Herausforderungen wäre ich nicht in die Politik gegangen. Vielleicht hätte ich mich mit kreativeren Dingen auseinandergesetzt. Vielleicht wäre ich ohne Rassismus in der Gesellschaft nicht in die erste Reihe gegangen.“

Dein Buch ist ein Aufruf an vielfältige Menschen, in die Politik zu gehen. Verstehst du die Menschen, die dafür zu müde sind?

„Auf jeden Fall. Es gibt so viele Lebensumstände, die das so schwer machen. Wenn man Kinder hat, alleinerziehend ist. Wenn man viele andere Herausforderungen hat. Aber ich glaube, es gibt eine große Gruppe von Menschen, die die Kapazitäten dafür hätten und sich manchmal zu schade dafür sind. Das finde ich schade. Das sind Leute, die am Ende des Tages ,die Gute‘ oder ,der Gute‘ sein und sich nicht die Hände schmutzig machen wollen. Die sagen: ,Ich will keine Kompromisse eingehen‘ und sie wollen nicht kritisiert werden. Aber das alles ist Teil von Politik. Und ich meine nicht, dass alle Politik machen sollen. Aber ich glaube, dass es mehr sein sollten.“

„In der Politik geht es auch darum, unbeliebte Entscheidungen zu treffen, weil sie auf lange Sicht notwendig sind.“ 

Du schreibst: „Politik kann mehr sein als Machterhalt und Verwaltung der Zustände.“ Was könnte Politik sein?

„Politik könnte vorausschauender sein und sie könnte inklusiver sein. Politik sollte nicht mit Blick auf die nächste Wahl oder Umfragewerte gemacht werden, sondern mit Blick auf die Zukunft. Bei ganz vielen Themen, die gerade anstehen, sieht man das aktuell, dass genau so die vergangenen Jahre Politik gemacht wurde. Gerade beim Thema Klimapolitik sehen wir das. Es geht auch darum, unbeliebte Entscheidungen zu treffen, weil sie auf lange Sicht notwendig sind.“ 

Mit deinem Buch bist du nicht nur Politikerin, sondern auch Autorin und Lyrikerin. Jedem Kapitel ist ein Gedicht von dir vorangestellt. Auf dem Cover sehen wir zwei Seiten von dir und diese ziehen sich auch durch das Buch. Ist das die Politikerin und die Lyrikerin, oder wofür steht die Trennung?

„Auch dafür, ja. Und für mich als Person und für das, was auf mich projiziert wird. Das Buch hat unterschiedliche Ebenen und ich als Person ja auch. Wer ist man selbst, wenn man in einer exponierten Position ist? Wie habe ich noch die Macht über mich selbst?“

Woran merkst du, dass du die Macht über dich selbst hast?

„Durch das Buch. Durch das Schreiben des Buchs habe ich gemerkt, dass ich krass durchgeatmet habe. Das Schreiben hat mir geholfen, mich zu zentrieren.“

Du schreibst über sehr Persönliches und bist als Schwarze junge Frau von Diskriminierung und Hass betroffen. Hattest du Angst, dieses Buch zu schreiben?

„Ich hatte auf jeden Fall Schiss davor. Wie vermutlich jede Person, die Privates öffentlich macht. Und dann bin ich auch noch so bescheuert, Lyrik zu veröffentlichen (lacht). Natürlich habe ich mich das alles gefragt. Aber ich wollte kein Buch schreiben, um die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen. Ich habe es geschrieben als alles, was ich bin: Politikerin, Privatperson, Schwarze Frau. Ich habe dann eher darüber nachgedacht, was es Leuten bedeuten könnte. Und dafür musste ich ehrlich schreiben.“

Auszug aus dem Buch: Bis heute bin ich fasziniert davon, wie es gelingen kann, mit einzelnen Worten unzählige Menschen, ganze Teile der Gesellschaft, zum Nachdenken oder zum Handeln zu bringen. Dazu, die Veränderung selbst in die Hand zu nehmen. 

Worum geht es in deinem nächsten Buch? Möchtest du noch eins schreiben? 

„Meine Mutter sagte nach der Abgabe zu mir: ,Bitte, Amina, schreib erstmal kein weiteres Buch mehr‘. Die Schreibzeit war schon intensiv. Immer nach der Arbeit, in den Ferien und wenn ich freihatte. Im Moment freue ich mich vor allem, endlich wieder nur für mich zu schreiben.“

Aminata, Danke für das Gespräch.


Aminata Touré: „Wir können mehr sein – Die Macht der Vielfalt”, Kiwi Taschenbuch, August 2021, 14 Euro.

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