Der Kinofilm „Ein kleines Stück vom Kuchen“ von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam bricht mit zahlreichen Tabus im Iran. Im Interview geben die Filmemacher*innen Einblick in die Lebensrealität der Menschen im Land.
Auf der Leinwand eine Frau ohne Hijab zu zeigen, ist in der Islamischen Republik Iran verboten. Das führt zu absurden Bildern, in denen weibliche Filmcharaktere auch in ihrem Zuhause, wo sie das Kopftuch in der Regel ablegen, einen Hijab tragen, egal in welcher Alltagssituation. Die Drehbuchautor*innen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha haben mit diesem Tabu gebrochen und gehen sogar noch weiter in „Ein kleines Stück vom Kuchen“.
In dem Film spricht die 70-jährige Protagonistin Mahin (Lily Farhadpour) fremde Männer auf der Straße an, weil sie nicht länger einsam sein möchte. Sie flirtet mit einem Taxifahrer und lädt ihn zu sich nachhause ein. Dort trinken Mahin und ihr Auserwählter Faramarz (Esmail Mehrabi) Wein, berühren sich beim Tanzen, duschen zusammen und beschließen, dass die Nacht gemeinsam in Mahins Bett enden soll.
Solche Szenen sind seit der Islamischen Revolution im Iran starker Zensur ausgesetzt, die Bevölkerung ist den strengen Regeln der patriarchalen Autoritäten unterworfen. Die Regisseur*innen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha und ihre Filmcrew sind große Risiken eingegangen, um sich der Unterdrückung des Regimes entgegenzustellen und das Leben iranischer Frauen realitätsnah zu zeigen.
Wenige Tage nach Drehbeginn des Films wurde der Tod von Jina Mahsa Amini publik, die infolge der gewaltsamen Inhaftierung durch die sogenannte Sittenpolizei starb. Während die Iraner*innen gegen das Regime auf die Straße gingen, drehten die Filmemacher*innen im Verborgenen weiter und widmeten sich in ihrem Werk genau den Themen, für die sich die Protestierenden bis heute unter Lebensgefahr einsetzen.
Vergangenes Jahr wurden Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha dann die Pässe abgenommen, als sie für die Postproduktion ihres Films aus dem Iran ausreisen wollten. Sie mussten ihren Film mit dem Produktionsteam, das im Ausland saß, aus der Ferne fertigstellen. Auch an der Uraufführung des Films auf der Berlinale Anfang 2024 durften die Filmemacher*innen, im Gegensatz zu den Hauptdarsteller*innen, nicht teilnehmen.
Im Interview erzählen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha von ihren Beweggründen, den Film trotz all der Risiken und Repressalien zu drehen. Das Regieduo spricht über die große Bedeutung kleiner Glücksmomente, über Humor und Hoffnung und gibt Einblick in die aktuelle Lage der Menschen im Iran.
Von wo aus sind Sie beide zugeschaltet und unter welchen Bedingungen können Sie derzeit mit Journalist*innen sprechen?
Maryam Moghaddam: „Wir befinden uns in unserem Zuhause in Teheran, da es uns nicht erlaubt ist, aus dem Iran auszureisen. Aktuell warten wir auf das Urteil des Gerichts, das ein Verfahren gegen uns eröffnet hat wegen der Produktion des Films.“
„Ein kleines Stück vom Kuchen“ wird als Tragikömodie beschrieben, „die ein authentisches Bild vom alltäglichen Leben der Iranerinnen und ihren Möglichkeiten einer subtilen Emanzipation gegen die patriarchalen Autoritäten zeichnet“. Würden Sie das auch so formulieren?
Behtash Sanaeeha: „Das ist eine schöne Beschreibung.“
Maryam Moghaddam: „Ich würde anfügen, dass ,Ein kleines Stück vom Kuchen‘ eine Geschichte über das Leben ist. Der Film zeigt, dass das Leben sehr schnell vorbei sein kann und dass es trotz all der Misere lebenswert ist, selbst wenn uns vielleicht nur eine glückliche Nacht bleibt.“
Gab es eine Botschaft, die Sie in Ihrem Film unbedingt vermitteln wollten?
Maryam Moghaddam: „Ich glaube nicht, dass man mit einem Film eine konkrete Botschaft sendet. Wir haben damit vielmehr ein Fenster geöffnet, durch das zu sehen ist, wie wir fühlen, denken und aufs Leben schauen. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, dass dieses offene Fenster Einblick in die Lebensrealität der Iraner*innen gibt und auf das Doppelleben, das die Menschen hier seit 45 Jahren führen müssen. In unserem Zuhause zeigt sich, dass wir normale Menschen sind, mit Sehnsüchten und Begierden, mit allem eben, was uns menschlich macht. Doch außerhalb der vertrauten vier Wände ist das Leben geprägt von Verboten. Sobald wir vor die Tür treten, müssen wir uns verstellen. Und zu solchen Lügen wurde auch die iranische Filmwelt gezwungen: Wir dürfen in unseren Werken nicht zeigen, wie Menschen wirklich leben. Behtash und ich brechen mit diesem Lügengebilde. Wir bilden die Leben der Menschen ab, so wie sie zuhause geführt werden, wo niemand kontrollieren kann, ob die Regeln eingehalten werden.“
Die Arbeiten zu Ihrem Film starteten vor den weltweit beachteten Protestwellen im Herbst 2022, die durch den Tod von Jina Mahsa Amini ausgelöst wurden. Die Dreharbeiten erfolgten im Verborgenen, während die Straßendemonstrationen andauerten. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Behtash Sanaeeha: „Die Situation war sehr herausfordernd für uns und die Crew. Wir begannen die Vorproduktion des Films drei Monate vor Beginn der Protestbewegung. Dreizehn Tage nach Drehbeginn kam dann die schockierende und traurige Nachricht, dass Mahsa Amini getötet wurde. Die gesamte Crew konnte sich dann erstmal nicht vorstellen, den Film weiterzudrehen, wir pausierten die Arbeit. Nach ein paar Tagen trafen wir uns alle in dem Haus, wo ein Großteil des Films gedreht wurde und sprachen über den Vorfall und die Proteste. Es ging niemandem gut, wir weinten und klagten darüber, was den Menschen im Iran angetan wird. Aber wir sprachen auch über die Themen der Protestbewegung, deren Kampf dem Leben, den iranischen Frauen und der Freiheit gilt. Das sind zugleich die Themen des Films: Frau, Leben, Freiheit.
Deshalb entschieden wir, mit der Produktion weiter und dadurch sichtbar zu machen, wonach sich die Menschen im Iran sehnen und worunter insbesondere die Frauen leiden. Das ist, was wir Filmemacher*innen gut können: Geschichten erzählen. Dieser Gedanke motivierte uns nicht nur, wir und die gesamte Crew empfanden es sogar als unsere Pflicht, diesen Film zu drehen und damit einen Beitrag zur Protestbewegung zu leisten. Diese Zeit bedeutete jedoch großen Stress für uns alle. Wir fürchteten uns davor, dass die Revolutionsgarden die Location stürmen und die Produktion stoppen könnten. Jeder Drehtag fühlte sich so an, als könnte es der letzte sein. Doch wir hatten Glück und konnten die Dreharbeiten abschließen und sogar einen Rohschnitt erstellen, den wir rechtzeitig außer Landes schafften.“
Sie befinden sich in einem Gerichtsverfahren wegen Ihrer Arbeit an dem Film. Ihre Pässe wurden beschlagnahmt, als Sie für die Postproduktion nach Paris reisen wollten. Es gab eine Razzia bei Ihnen zuhause, bei der Filmmaterial beschlagnahmt wurde. Sie ahnten vermutlich bereits, dass dieses Projekt schwere Konsequenzen für Sie beide, aber auch für andere Beteiligte haben könnte. Wie gehen Sie mit diesem Gedanken um und welche Gespräche und Überlegungen gingen der Arbeit am Film voraus?
Maryam Moghaddam: „Wir waren uns der Konsequenzen sehr bewusst, als wir vor drei Jahren mit der Arbeit am Skript begannen. Uns, die Crew und die Schauspieler*innen verbindet alle das gleiche Gefühl: Wir sehnen uns danach, mit unserer Arbeit etwas zu verändern. Das Skript entstand lange vor der Protestbewegung, die auf Mahsa Aminis Tod folgte. Die Freiheitsbeschränkungen und die Schwierigkeiten, mit denen insbesondere Frauen auf der Straße konfrontiert sind, sind schon lange Realität. Nur waren das weltweite Bewusstsein dafür und der Widerstand dagegen vor Beginn der Protestbewegung 2022 nicht so groß. Mahsa Aminis Tod ist tragischerweise nichts, was wir nicht schon vorher kannten, hier im Iran. Solche Fälle gab es in den vergangenen Jahren bestimmt viele. Der große Unterschied ist, dass Aminis Tod durch die Sozialen Medien viral ging und die darauffolgende Protestbegung dann weltweite Öffentlichkeit und Empörung erfuhr.“
Die Hauptprotagonistin Mahin sagt im Film zu einem sogenannten Sittenwächter, der eine junge Frau festnehmen will: „Vergeuden sie doch Ihr Leben nicht mit dieser Arbeit. Sie werden sie doch nicht wegen ein paar Haarsträhnen umbringen.“ – Immer wieder ist die Rede von Haarsträhnen, deren Sichtbarkeit das Regime bestraft, aber am Ende geht es den Machthabern um viel mehr als ein paar Haare, nicht wahr?
Maryam Moghaddam: „Absolut, es geht um grundlegende Menschenrechte, die uns verwehrt werden. Das Regime versucht, jeden Bereich unseres Lebens zu regulieren und zwingt die Menschen somit dazu, ein Doppelleben zu führen, um sich irgendwo noch eine gewisse Normalität zu bewahren. Wir sind gezwungen zu lügen, egal worum es geht: was wir denken, woran wir glauben, wie wir uns kleiden, wer wir sind, was wir trinken und essen. Wer wir in unserem Zuhause sind, darf nicht an die Öffentlichkeit getragen werden, alles geschieht im Verborgenen. Das erschwert die Arbeit als Filmemacher*innen enorm, weil wir nicht abbilden und thematisieren dürfen, wie Menschen wirklich leben.
Allerdings geht es in unserem Film nicht nur um die Schwierigkeiten, mit denen iranische Frauen konfrontiert werden. Das ist ein Teil des Films. Was wir genauso vermitteln möchten, ist, dass es so viele Schichten gibt, aus denen sich das Leben einer Frau wie Mahin zusammensetzt. Ältere Frauen erfahren kaum Sichtbarkeit, sobald sie nicht mehr den medialen Schönheitsansprüchen genügen. Wir wollten uns der Frage widmen, wie ein lebenswertes Leben aussehen kann, trotz all der Herausforderungen, mit denen die Menschen hier konfrontiert sind. Genügt eine schöne Nacht, um die Schwere auszugleichen? Wir finden schon und wollten mit dem Film vermitteln, dass die Hoffnung auf reale Gefühle und einen glücklichen Moment das Leben lebenswert machen.“
Sie haben eben das Alter der Hauptfigur angesprochen. Gerade im Hinblick auf diesen Aspekt bricht Ihr Film nicht nur im Iran mit Tabus. Auch in der westlich geprägten Filmwelt ist die Darstellung von Liebe, Begierde und Sex im Alter, generell die Darstellung alter Frauen im Film, eher eine Seltenheit. Ab einem gewissen Alter verschwinden Frauen oftmals in der Unsichtbarkeit. Wie kamen Sie auf die Idee, eine alte Frau ins Zentrum ihrer Geschichte zu rücken?
Maryam Moghaddam: „Wir haben uns sehr bewusst dafür entschieden, einen Film zu dieser Thematik zu machen. Wie Sie sagen, ist die Unsichtbarmachung alter Frauen ein weltweites Phänomen. Etwa ab dem 50. Lebensjahr werden Frauen nicht mehr als interessanter und aktiver Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Wer nicht aussieht wie ein Superstar, wird aufs Abstellgleis gestellt. Im Iran, wie auch in anderen stark religiös geprägten Gesellschaften, ist die Misere nochmal größer als in westlichen Ländern. Hier ist es ein Tabu für ältere Frauen, Begierden zu haben und ihnen nachzugehen. Von ihnen wird erwartet, dass sie zuhause bleiben und sich um Angehörige und den Haushalt kümmern.“
Behtash Sanaeeha: „Nicht nur werden die Begierden der Frauen tabuisiert, sie sollen auch kein zweites Mal heiraten. Männern ist es erlaubt, vier Ehefrauen gleichzeitig zu haben. Frauen aber sollen während ihres ganzen Lebens nur einen Mann haben. Werden sie zur Witwe, wird von ihnen erwartet, dass sie allein bleiben. Lehnt sich eine Frau gegen dieses Tabu auf, wird sehr schlecht über sie gesprochen.“
Im Film lachen Mahin und Faramarz über die Regeln der Regierung, über die Sittenpolizei und die neugierigen Nachbarn. Ihr Coping Mechanismus, um mit dieser schwierigen Situation umzugehen, scheint Humor zu sein. Welche Rolle spielt Humor für die Menschen im Iran und für Sie beide?
Maryam Moghaddam: „Ich habe gehört, dass insbesondere Inhaftierte in Gefängnissen von Diktaturen Witze über ihre miserable Situation reißen, um die untragbaren Zustände auszuhalten. Das lässt sich auch auf die iranische Gesellschaft übertragen. Unser Sinn für Humor ermöglicht es uns, die harte Realität etwas aufzuweichen; er ist ein Mittel, um die Düsterkeit und den Kummer im Iran zu überleben.“
Die Menschen im Iran machen sehr schwierige Zeiten durch. Die immer wieder zurückgeschlagenen Protestbewegungen, Inhaftierungen und Hinrichtungen, die wirtschaftliche Lage, die Furcht vor einer zunehmenden Eskalation zwischen dem iranischen und dem israelischen Regime. Welche Bedeutung hat die Kunst in so herausfordernden Zeiten wie dieser?
Behtash Sanaeeha: „Die Menschen im Iran leben seit mehr als vier Jahrzehnten unter diesen Bedingungen und lassen sich dennoch nicht davon abbringen, ihren Leidenschaften nachzugehen. Wir Künstler*innen drehen Filme und versuchen, Geschichten zu erzählen, die unsere Realität abbilden. Es ist für alle offensichtlich, dass der Druck auf uns, auf alle Menschen in diesem Land, zunimmt. Die Sanktionen und Probleme, die himmeltraurigen Beziehungen unserer Regierung mit westlichen Staaten. All diese Themen verarbeiten iranische Kulturschaffende in ihren Werken und versuchen dadurch, der Welt mitzuteilen, wie wir die Situation erleben und vor allem, wer wir wirklich sind und woran wir wirklich glauben. Unsere Filme sind eine Reflexion davon, wie die Menschen hierzulande auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen schauen. Sie spiegeln die Situation im Land wider, die tatsächlich gar nicht gut ist in diesen Zeiten.“
Maryam Moghaddam: „Ich würde noch ergänzen, dass die Werke von Künstler*innen immer von ihrem Erleben geprägt sind. Die Lebensbedingungen in den verschiedenen Regionen dieser Welt sind sehr ungleich. Wir sind eine Nation, die stark von den politischen Umständen geprägt ist, deshalb wird eine für die Leinwand konzipierte Liebesgeschichte immer auch ein gesellschaftspolitischer Film sein. Nicht, weil wir dazu verpflichtet wären, sondern weil unsere Werke Ausdruck unserer Gefühle und Gedanken sind.“
Behtash Sanaeeha: „Im Hier und Jetzt sein, ist genau deshalb so ein wichtiges Thema in unserem Film. ,Ein kleines Stück vom Kuchen‘ spiegelt die Probleme der iranischen Bevölkerung wider und zeigt zugleich das simple Leben zweier alter Menschen, die eine gemeinsame Nacht erleben und aus diesen Stunden das Maximum herausholen. Den Moment zu leben, ist für uns Iraner*innen enorm bedeutend. Wir denken nicht allzu weit voraus, weil wir uns der Zukunft nie sicher sein können. Wer weiß, was schon morgen sein könnte? In den meisten Ländern im mittleren Osten, insbesondere im Iran, ist nichts mit Sicherheit voraussagbar.“
Die Uraufführung Ihres Films auf der Berlinale widmeten Sie den Frauen Ihres Landes. In Ihrem dort verlesenen Statement schrieben Sie: „Es ist uns verwehrt, gemeinsam mit Ihnen einen Film auf der Leinwand zu sehen, der von Liebe, vom Leben und auch von der Freiheit handelt, einem verlorenen Schatz in unserem Land.“ Wie können die Menschen im Iran sich die Liebe, das Leben, die Freiheit zurückerobern – und wie können die Menschen außerhalb des Irans sie dabei unterstützen?
Maryam Moghaddam: „Wie sich die Iraner*innen diese Rechte sichern können, wissen auch wir nicht. Doch die Menschen hier im Land haben erlebt, dass es in diesen zwei Jahren seit Beginn der neuen Protestbewegung weltweit viel Unterstützung gab. Wir wissen, dass die Welt auf uns blickt und das tut unseren Herzen gut. Dieser herzerwärmende Support macht uns Mut. Gleichzeitig realisierten wir auch, dass wir absolut keine Unterstützung von den Politiker*innen anderer Länder bekommen. Die Menschen im Iran sind auf sich allein gestellt und hoffen auf bessere Zeiten.“