Foto: Shooresh Fezoni

Mareike Geiling: „Die Geflüchteten leben immer noch in Heimen und die Heime sind immer noch scheiße”

Mareike Geiling ist eine unserer „25 Frauen, die unsere Welt besser machen” – mit ihrer Initiative „Flüchtlinge Willkommen” bringt sie geflüchtete Menschen mit Wohngemeinschaften zusammen – und setzt damit ein starkes Zeichen gegen Massenunterkünfte und Fremdenfeindlichkeit.

 

Wir brauchen mehr Solidarität mit Geflüchteten

Im Sommer 2014 begannen Mareike Geiling und Jonas Kakoschke sich kritisch mit der Unterbringung von Geflüchteten auseinanderzusetzen, sie wollten helfen. Aus der privaten Idee ein Zimmer ihrer Wohnung an einen Geflüchteten zu vermieten, entstand die Initiative „Flüchtlinge Willkommen”. Seit ihrer Gründung im November 2014 kamen bereits 352 Vermittlungen zustande – Dank des großen Einsatzes von Mareike Geiling und ihrem Team. 

Doch die Stimmung gegenüber Geflüchteten hat sich in den letzten Monaten geändert, obwohl sich an ihrer Situation in Massenunterkünften in Deutschland nichts geändert hat. Mareike Geilings Engagement leistet einen großen Beitrag im Kampf gegen diese besorgniserregende Stimmung in der deutschen Gesellschaft, in der immer mehr rechte Parolen Einzug erhalten.

Vor einigen Monaten wurde sie unter unsere „25 Frauen, die unsere Welt besser machen“ gewählt. Wir haben die beeindruckende und hochschwangere Mareike in Berlin getroffen, um mit ihr über ihre Initiative, den erschreckenden Stimmungswandel und eine bessere Gesellschaft zu sprechen.

Flüchtlinge Willkommen habt ihr im November 2014 gegründet. Wenn man auf die vergangenen zwei Jahre blickt, habt ihr eine Menge erreicht. Angefangen habt ihr aber ganz klein. Wie waren die letzten zwei Jahre?

„Vor allem hat sich noch kein Monat wiederholt. Es passiert die ganze Zeit total viel, es geht vorwärts, manchmal vielleicht auch ein bisschen rückwärts. Zu Beginn sind wir sehr unbedarft und naiv an die Sache herangegangen. Der Ursprung unseres Projekts liegt in Jonas’ und meiner privaten Initiative: Wir haben einen Geflüchteten bei uns in der Wohnung aufgenommen. Und dann kam irgendwann die Idee, zusammen mit Golde, unserer dritten Gründerin, eine Plattform zu entwickeln. Die Ansprüche waren damals sehr klein: Vielleicht melden sich in den ersten sechs Monaten zehn Leute an – und vielleicht schaffen wir es sogar, jemanden zu vermitteln.”

Dann kam überraschend aber alles anders, oder?

„Genau, als wir im November 2014 online gegangen sind, hatten wir nach zwei Tagen 1.000 Facebook-Likes und nach der ersten Woche 80 Anmeldungen. Das hat uns völlig überrumpelt. Dann kamen auch gleich ganz viele Interviewanfragen. Und von da an bis September 2015 haben wir jeden Tag ein bis zwei Interviews geführt, würde ich sagen. Das hat dann auch dazu geführt, dass sich immer mehr Leute auf unserer Plattform angemeldet haben und das Projekt immer bekannter wurde. Relativ schnell wurde deutlich, dass der ursprüngliche Plan eines ehrenamtlichen Projekts nicht mehr haltbar war. Am Anfang habe ich deshalb 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Damals lebte ich noch in Kairo, habe dort normal gearbeitet – so wie die anderen in Deutschland – und habe das Projekt mitgeleitet. Das war so viel Arbeit am Anfang. Da dachten wir nur: ,Krass, was passiert hier eigentlich gerade?’

Dann hat es sich ganz gut gefügt: Ich bin aus Kairo wiedergekommen, Jonas hat freiberuflich gearbeitet und konnte das ohne Probleme aufgeben. Wir haben Spenden bekommen und konnten uns ein Gehalt auszahlen, ab Juni 2015 konnte ich mich anstellen und kurz darauf dann auch Jonas. Anders wäre es auch gar nicht gegangen, das Projekt war ja von Anfang an ein Fulltime-Job. Das erste halbe Jahr war geprägt davon, dass wir erst einmal klarkommen und schauen mussten wie wir die viele Arbeit irgendwie bewältigen können. Zusätzlich hatten wir noch zwei Leute, die uns auf Honorarbasis unterstützt haben.”

„Da hab ich zum ersten Mal gedacht: ,Fuck, ich schaff’s nicht mehr.‘”

2015 kam die sogenannte „Flüchtlingskrise” zum einem in der deutschen Öffentlichkeit und zum anderen in der deutschen Realität an. Die furchtbaren Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen wurden viel diskutiert. Es gab eine breite Solidarität und viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagiert haben und helfen wollten. Was bedeutete das für eure Arbeit?

„Wir haben die breite Solidarität gespürt, von Ende 2014 bis zum Sommer 2015 haben sich immer mehr Leute bei uns gemeldet. Am 1. September hat Merkel die Rede gehalten, die ihren berühmten Satz: „Wir schaffen das!”, enthielt. Von da an war Land unter bei uns. Ich erinnere ich mich noch an einen Tag, an dem ich 200 E-Mails im Postfach hatte – keine einzige davon Spam, die mussten alle beantwortet werden. Da hab ich zum ersten Mal gedacht: ,Fuck, ich schaffs nicht mehr.‘
Zum Glück kamen mit den vielen Interviewanfragen auch Spenden, sodass wir dann Leute einstellen konnten. Bis Oktober 2015 sind wir dann, unnatürlich schnell, auf sieben Teammitglieder gewachsen, die aber auch von Nöten waren.”

„Viele Menschen glauben beurteilen zu können, wer Hilfe verdient – und wer eben nicht.”

Im Oktober 2015 hat sich dann aber auch in der Flüchtlingspolitik einiges geändert. Die Grenzen wurden dicht gemacht und die Stimmung fing an sich zu wandeln. Was hatte das für Auswirkungen auf euch und euer Projekt?

„Im Oktober wurden die Grenzen auf der Balkanroute geschlossen. Im November wurden die Anschläge in Paris verübt, im Januar gab es die Ereignisse in Köln und den Aufstieg der AFD. Seit Januar 2016 ist unsere Arbeit sehr stark durch den wachsenden Rassismus und Skeptizismus in der deutschen Gesellschaft beeinflusst. Das belegen unsere Zahlen: Im September 2015 hatten wir 1.000 Anmeldungen für freie Zimmer, mittlerweile sind es deutschlandweit nur noch 50-80 pro Monat. Unser Team mussten wir deshalb auch doch wieder verkleinern.

Mittlerweile hat sich auch die Anspruchshaltung geändert: Viele Leute sind zwar bereit, ihr Zimmer anzubieten, erwarten dafür aber auch unglaubliche Dankbarkeit. Am liebsten wollen sie, überspitzt gesagt, eine vegane, christliche Syrerin zwischen 25 und 30. Viele Menschen glauben beurteilen zu können, wer Hilfe verdient – und wer eben nicht.”

Wie geht ihr mit dieser Anspruchshaltung um?

„Unser Grundcredo lautet: Wir fragen nicht nach dem Fluchtweg oder der Fluchtgeschichte. Wenn sich jemand bei uns anmeldet und sagt er ist geflüchtet, dann reicht das für uns aus. Und um der Hierarchisierung der Geflüchteten entgegen zu wirken, leisten wir viel Aufklärungsarbeit.

Wir sind aber trotzdem damit konfrontiert, dass Leute zu uns sagen: Keine Schwarzen, keine Muslime, Zimmer ja, aber nur gegen Arbeit – lauter solche Sachen. Je nach Schweregrad suchen wir das Gespräch, oder sagen direkt ab.

Manchmal kommen auch Anfragen, in denen die Leute angeben, dass sie zum Beispiel gerade Persisch lernen und deswegen gerne mit einer Iranerin zusammenwohnen würden. Das ist natürlich irgendwie ein verständlicher Gedanke, aber darum geht es bei uns nun mal nicht. Es geht nicht darum, ein Tandem zu bilden, es geht darum, Massenunterkünfte aktiv zu kritisieren, in dem man sagt: ,Ich hab ein freies Zimmer, da kann jemand wohnen.‘

Da prallen dann manchmal sehr unterschiedliche Erwartungshaltungen aufeinander. Trotzdem: Wir haben immer noch jeden Monat viele Anmeldungen. Es gibt immer noch viele Menschen, die sich engagieren wollen. Solange wir irgendwie Spenden bekommen und uns damit finanzieren können, machen wir weiter unsere Arbeit. Die Situation für die Geflüchteten hat sich schließlich nicht geändert: Die Leute leben immer noch in Heimen und die Heime sind immer noch scheiße.”

Welche Motivation steht hinter Flüchtlinge Willkommen?

„Entstanden ist das ganze ja aus unserer privaten Initiative: Wir haben viele Dokumentationen gesehen, viel gelesen und gemerkt: ,Die Heimsituation für Geflüchtete scheint schlimm zu sein. Ok, was können wir machen? Naja, wir können unser Zimmer anbieten.’ Daraus resultierte dann, dass wir uns intensiv mit dem Thema befasst haben und die generellen Verhältnisse kritisieren und uns für eine dezentrale Unterbringung engagieren. Damit geht aber natürlich auch einher, dass wir uns damit beschäftigen, wie wird mit Geflüchteten umgegangen, wie werden sie wahrgenommen und was kann unser Konzept zur Verbesserung beitragen.”

Und?

„Wenn Geflüchtete in Wohngemeinschaften, Familien, mit Paaren, Alleinerziehenden oder Einzelpersonen zusammenwohnen, lernen sie viel schneller deutsch, sie leben in unseren Häusern, Straßen, Nachbarschaften mit uns zusammen, teilen auf eine intime Art den Wohnraum mit uns und können sich dadurch viel schneller Vernetzen, viel schneller Zugang zu den Strukturen bekommen – ohne dass man ein Patenprogramm braucht. Dadurch kann ein Leben fast auf Augenhöhe entstehen, nicht zu 100 Prozent, aber viel mehr als wenn die Geflüchteten am Stadtrand in überfüllten Sammelunterkünften leben.”

Das klingt nach ziemlich guten Argumenten für euren Weg. Die Unterbringung eines Geflüchteten ist aber auch mit wahnsinnig vielen Dokumenten und Richtlinien verbunden. Woher nehmt ihr eure Expertise, um dabei alles richtig zu machen?

„Unsere Mitgründerin Golde hat als Sozialarbeiterin mit den Geflüchteten am Oranienplatz hier in Berlin gearbeitet. Sie hat schon vor Flüchtlinge Willkommen ganz viel zum Thema Asylrecht und mit Geflüchteten gearbeitet. Seit gut einem Jahr arbeitet sie allerdings nicht mehr bei uns. Unsere Projektleiterin Hanan ist Juristin und hat sich ebenfalls schon zuvor ganz viel in dem Feld engagiert. Jonas und ich hatten dagegen keine Ahnung von dem rechtlichen und bürokratischen System, unser Wissen haben wir uns angelesen und im Laufe der Gründung gewonnen.”

„Sicherheit haben wir so bis Mitte nächsten Jahres, was danach passiert steht in den Sternen.”

Mit welchen Herausforderungen und Hindernissen seid ihr konfrontiert?

„Die größte Herausforderung ist vielleicht die Finanzierung unseres Projekts, da wir ja von Spenden leben. Es gibt zwar einzelne Förderungen, die sind aber meistens mit der Verknüpfung von Ehrenamtlichen und Events verbunden. Personalkosten fördert ja irgendwie niemand gerne. Sicherheit haben wir so bis Mitte nächsten Jahres, was danach passiert steht in den Sternen.

In der direkten Projektarbeit ist die größte Hürde definitiv die Bürokratie, die macht die Prozesse einfach wahnsinnig anstrengend. Man hat eine WG, eine geflüchtete Person, einen Begleiter, alle finden sich cool und können sich das Zusammenleben vorstellen, man reicht den Untermietvertrag beim Amt ein – und dann brauchen die mindestens einen Monat um diesen zu bearbeiten. Die WG braucht aber die Miete. Das ist sehr frustrierend. Wir müssen dann in Vorleistung gehen über unser Mietspendenkonto und uns das Geld dann vom Amt wieder zurückholen, völlig unnötiger Arbeitsaufwand. 

Oder man macht einen Termin mit dem Amt aus, der ist dann aber erst vier Wochen später. Und wir denken uns: ,Können wir das nicht einfach kurz klären?‘ Das Klischee stimmt: Die Mühlen mahlen sehr langsam.”

„Wir denken uns: Da ist ein Zimmer, da ist eine WG, die gerne jemanden aufnehmen möchte, da ist jemand der gerne einziehen möchte und dann scheitert es an der Bürokratie.”

Welche Veränderungen würden eure Arbeit erleichtern?

„Es müsste einfach unbürokratischer werden. Ein Beispiel: Wir haben ein 13 Quadratmeter Zimmer zur Verfügung, die amtliche Vorgabe liegt aber 15 Quadratmetern. 13 Quadratmeter sind definitiv menschenwürdig, aber das Amt sagt dann: ,Dafür übernehmen wir die Kosten nicht.‘ Und wir denken uns: ,Da ist ein Zimmer, da ist eine WG, die gerne jemanden aufnehmen möchte, da ist jemand der gerne einziehen möchte und dann scheitert es an so etwas.’ Angesichts der angeblichen Krise und der faktischen Situation momentan, wünschen wir uns da einfach ein wenig Spielraum. Natürlich muss man sicherstellen, dass die Geflüchteten unter guten Bedingungen leben, aber dann muss sich halt jemand vom Amt das Zimmer ansehen und das sicherstellen.”

Wie sieht der konkrete Vermittlungsprozess aus?

„Beide Parteien, Geflüchtete und Wohnraumgebende – egal, ob WG, Familie, Paar, Alleinerziehende, Einzelpersonen – melden sich auf unserer Plattform an. Wir bearbeiten die eingegangenen Zimmerangebote und treten mit den jeweiligen Personen in Kontakt, treffen diese oder skypen mit ihnen, um nach einem Leitfaden, abzufragen wie sie sich das Zusammenleben vorstellen, also: habt ihr Wünsche oder gibt es Ausschlusskriterien? Danach machen wir uns auf die Suche nach einer geflüchteten Person, die dort hinpasst und das erst einmal über unsere eigene Datenbank, in der um die 10.000 Geflüchtete angemeldet sind.

Wenn wir glauben eine Person gefunden zu haben, nehmen wir Kontakt zu ihr auf, stellen ihr die Wohnsituation vor – falls deutsch oder englisch schwierig ist, arbeiten wir mit Muttersprachlern zusammen, um sicherzustellen, dass die Person weiß, worauf sie sich einlässt. Wenn das geklärt ist, bringen wir noch einen Begleiter ins Spiel, die den ersten Termin zwischen beiden Parteien ausmacht. Dieses erste Treffen ist meistens entscheidend: Wenn beide Seiten sich danach vorstellen können zusammenzuziehen, kommt es zum Zusammenzug.
Nach sechs Wochen kontaktieren wir alle Wohngemeinschaften wieder. Die meisten haben noch einmal Rückfragen im Bezug auf Ämter und Anträge. In Berlin bieten wir an, dass wir alle drei Monate ein Treffen mit allen Involvierten, also Geflüchteten, neuen Mitbewohnern und Begleitpersonen. Das reicht für die meisten.”

Wie lange muss ein Zimmer mindestens frei sein, damit ihr es vermittelt?

„Am Anfang waren es drei Monate, das ist aber, hat unsere Erfahrung gezeigt, zu kurz. Deshalb sind wir erst auf sechs Monate hochgegangen und haben die Mindestgrenze mittlerweile bei fünf Monaten festgelegt, weil wir den Eindruck haben, dass viele Erasmuszimmer eben nur so lange frei sind.”

Und, wie gut funktioniert das Zusammenleben?

„Ich habe letztes Jahr einmal ausgerechnet, wie hoch die Abbruchquote vor Ende des eigentlich angestrebten Zeitraums ist. Damals lag sie bei unter einem Prozent. Mittlerweile liegt sie vielleicht bei unter fünf Prozent. Unser Ziel ist es natürlich, dass es nicht zum Abbruch kommt und dass die Leute sich über das Zusammenleben wirklich vernetzen können und ein langfristiges Zimmer, einen Job oder ein Praktikum finden können. Und das funktioniert sehr oft.”

Müssen die Geflüchteten denn einen bestimmten Status haben, damit ihr sie vermittelt?

„Nein, wir vermitteln unabhängig vom Status. Das macht es in manchen Fällen schwerer und in manchen Fällen einfacher.”

Auch ihr habt in eurem Projekt festgestellt, dass es von Seiten der Wohnraumgebenden eine Bevorzugung von geflüchteten Menschen aus Syrien gibt. Eine Entwicklung, die sich nicht mit eurer Idee vereinbaren lässt, unabhängig von Status und Herkunftsland zu vermitteln. Wie steuert ihr dieser Tendenz also entgegen?

Wir bemühen uns diverser zu vermitteln und uns regelmäßig selbst zu hinterfragen. Es ist nämlich so, dass Menschen aus Syrien oft am leichtesten zu vermitteln sind: Sie sind in der Regel anerkannt und die Kosten werden recht sicher vom Amt übernommen, trotzdem versuchen wir uns nicht auf solchen Vermittlungen ‚auszuruhent‘. Es gibt zwar keine Quote, aber wir versuchen einfach breiter zu vermitteln.

Wir lehnen aber keine Zimmer ab, weil die Leute unbedingt einen veganen Syrer wollen, ein Zimmer ist schließlich immer noch ein Zimmer mehr für Geflüchtete.”

„Die Situation der Geflüchteten hat sich aber nicht verändert, darum geht es mir.”

Du hast vor Kurzem einen offenen Brief an die Zeit geschrieben. Darin kritisierst du ihre, aus deiner Sicht, undifferenzierte Berichterstattung in Bezug auf Geflüchtete. Welche Verantwortung haben deutschen Medien, deiner Meinung nach, hinsichtlich der gewandelten Stimmungslage in der deutschen Gesellschaft?

„Mir fällt einfach auf, dass keine Interviewanfragen mehr kommen, dass das Interesse nicht mehr gegeben ist. Ich habe am 1. September eine Pressemitteilung zum Thema: ‚Ein Jahr Wir schaffen das‘ herausgegeben und an 200 Journalisten geschickt – die hat kein Schwein interessiert. Letztes Jahr konnten wir gar nicht alle Anfragen abarbeiten. In den Redaktionen scheint es einfach kein Interesse mehr an unserem oder vergleichbaren Projekten zu geben – woher das kommt, weiß ich nicht. Immer mehr Artikel, die zu dem Thema aktuell veröffentlicht werden, machen mir Angst: reißerische Überschriften, Fakten, die aus dem Zusammenhang gerissen werden, tendenziöse Berichterstattung, radikale Einstellungen, die Eingang in den Diskurs finden und die noch vor einem Jahr ganz klar als rassistisch oder rechts verurteilt worden wären.

Da lässt sich aber auch ein Zusammenspiel von Medien und Gesellschaft feststellen, die Entwicklung scheint sich gegenseitig zu bedingen. Es geht mir nicht darum zu sagen: ,Die bösen Medien!’ Die haben ja auch ganz, ganz viel geleistet! Aber es ist eben ein großer Unterschied zu letztem Jahr. Die Situation der Geflüchteten hat sich aber nicht verändert, darum geht es mir.”

Dazu passt vielleicht auch, dass der Guardian euch in einem Artikel als „german AirBnB for Refugees” betitelt, seit dem werdet ihr immer wieder so bezeichnet. Wie problematisch ist der Begriff?

„Sehr. Wir betonen immer wieder, dass unser Projekt eben nicht mit dieser Plattform vergleichbar ist, denn AirBnb hat einen klar monetären Aspekt, es geht um eine kurzzeitige Zimmervermietung gegen Geld. Uns geht es ja aber um Solidarität mit Geflüchteten.

„Hier stand zum Glück noch niemand vor der Tür und hat eine Bombe reingeworfen, aber warum soll man denn auf so etwas warten?”

Ihr gebt eure Adresse auf eurer Website aufgrund von rechten Anfeindungen nicht an. Was habt ihr in dieser Richtung erlebt?

„Diese Entscheidung rührt aus Ereignissen im letzten August. Damals bekamen wir, wie gesagt, viel Medienaufmerksamkeit, viele Spenden, viele Zimmerangebote – und viele Nazianfeindungen. Wir bekamen E-Mails und Kommentare, teilweise mit Todesdrohungen. Da wurden wir einfach ein bisschen nervös. Das war eine Sicherheitsmaßnahme. Wir sind leider überhaupt nicht geschützt. Die Polizei kann solche Drohungen, vornehmlich über Facebook, aus irgendwelchen Gründen nicht verfolgen. Wir haben alles direkt zur Anzeige gebracht, da ist nichts passiert. Hier stand zum Glück noch niemand vor der Tür und hat eine Bombe reingeworfen, aber warum soll man denn auf so etwas warten?”

Du bist hauptverantwortlich für euren Presse- und Öffentlichkeitsarbeitsbereich, betreust die Community und treibst die Internationalisierung von Flüchtlinge Willkommen voran. Welche konkreten Aufgaben resultieren daraus für dich momentan?

„Ich stehe viel im Kontakt mit den Zweigstellen in anderen Ländern – 13 europäische und Kanada, bin aber auch erste Ansprechpartnerin für Menschen aus anderen Ländern, die unser Projekt dort eröffnen möchten. Außerdem organisiere ich gemeinsam mit unserer Praktikantin Lucy gerade zwei internationale Treffen, alles halbe Jahr treffen wir uns mit allen Ländergruppen. Daneben beantworte ich den laufenden E-Maileingang, Presseanfragen, Vermittlung von Presse und WGs. Dann habe ich viele Projektleitungsaufgaben: den Kontakt zu unseren Mitarbeitern in Leipzig und Hamburg halten, Planung, Konferenzanfragen. Ich spreche viel auf Konferenzen, versuche das Projekt vorzustellen, uns zu vernetzen – das teile ich mir aber auch mit Jonas und Hanan.”

Das klingt ganz schön arbeitsintensiv.

„Offiziell haben wir 30 Stunden-Verträge, ich arbeite aber definitiv mehr. Ich hab das Projekt aber auch gegründet, deshalb ist das auch okay. Das will jetzt nun mal bearbeitet werden. Und außerdem: Hallo, was ist das für ein Luxus? Ich arbeite an dem, was ich erschaffen habe und kann jeden Tag selbst gestalten – und ich mache etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Das ist doch einfach totales Glück!”

„Wir haben es gut hier – und wir können es teilen!”

Das ist eine tolle Einstellung. Aber die Arbeit muss auch immer wieder sehr frustrierend sein, wenn auf eure Arbeit mit Rassismus, Skeptizismus und Engstirnigkeit reagiert wird. Was müsste sich ändern, damit eine bessere Gesellschaft entstehen kann, in der Geflüchtete Teil des Ganzen werden können?

„Erst einmal müssen wir kritisch reflektieren, dass die sogenannte Willkommenskultur ein temporäres Phänomen war. Wir müssen endlich wahrnehmen, dass die Geflüchteten, die hier ankommen, Menschen sind. Menschen, die alles aufgegeben haben, ihren Job, ihr Umfeld, ihre Freunde, ihr Land und die es hassen hier in diesen Abhängigkeitsverhältnissen von Heim, Staat und anderen Menschen zu stecken. Wenn wir uns in sie hineinversetzen würden, wüssten wir, dass es uns allen auch das Herz brechen würde, so einen Schritt zu gehen. Ein Beispiel aus unserem Team: Husams Frau und seine Kinder sind noch in Syrien, er lebt bereits in Deutschland, der Antrag auf Familiennachzug läuft, aber sie können, wenn es gut läuft, erst im Dezember oder Januar nachkommen – dann ist er schon seit eineinhalb Jahren in Deutschland, getrennt von seiner Familie, die in einem Kriegsland zurückgeblieben ist. Und Husam hat noch Glück, dass es mit dem Familiennachzug klappt, für viele ist das ja gar nicht mehr möglich. Die Situation für die Menschen ist die gleiche, wir bewerten sie nur anders als vor einem Jahr, wir sprechen ihnen das Recht auf unsere Solidarität ab, das ist wirklich schwer zu ertragen. Wir haben es gut hier – und wir können es teilen!

Der Schlüssel zu allem ist der direkte Kontakt zu den Geflüchteten. Wenn man diese Menschen sieht, mit ihnen spricht, dann verändert das alles. Und deshalb muss der Kontakt zu ihnen erleichtert werden. Da kann und muss die Politik mehr machen, die Politiker müssen Stellung beziehen. Das zeigen auch die aktuellen Ereignisse in Sachsen so deutlich.”

Was können wir jetzt tun, um zu helfen?

„Das Allererste, was man tun kann, ist Geld zu spenden. Wir freuen uns aber auch über alle Menschen, die Lust haben sich in Lokalgruppen zu engagieren. Und am allermeisten freuen wir uns über freie Zimmer, die angeboten werden. Das ist unser Kapital.

Aber auch in jeder Alltagsituation können wir alle mehr tun: Wenn man einer geflüchteten Person begegnet und merkt, dass sie Hilfe braucht, einfach mal Kontakt mit ihr aufnehmen, fragen, ob man helfen kann, Solidarität signalisieren – auch das ist sehr wichtig.”

Wie blickst du in die Zukunft?

„Ich weiß, dass die Finanzierung noch bis Mitte nächsten Jahres gesichert ist. Bis dahin gibt es Lokalgruppentreffen, die jetzt schon geplant werden. Wir schreiben Finanzierungsanträge, planen Kampagnen. Das ist die Perspektive. Aber eigentlich ist jeder Tag so voll mit Gedanken, dass ich oft von Tag zu Tag denke.”

„Ist mir egal, ich mache einfach!”

Und in Bezug auf die politische Situation?

„Hmm, ist mir egal, ich mache einfach! Das war schon immer so bei uns. Jetzt gerade hat man vielleicht sogar das Gefühl, dass die Situation wieder minimal besser wird, aber wir machen einfach weiter, ungeachtet der gesellschaftlichen Bedingungen –  denn, wie gesagt, für die Geflüchteten hat sich die Situation nicht verändert.”

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