Mütter werden aussortiert: Wie H&M Arbeitnehmer*innenrechte mit Füßen tritt

Die Modekette H&M entlässt 800 Mitarbeiter*innen. Sie macht das ohne Sozialplan, gehen sollen vor allem Mütter. Unsere Autorin kommentiert, wieso wir neue Arbeitnehmer*innenrechte statt Konsumscham brauchen.

In der Corona-Pandemie vernachlässigt, durch Care-Arbeit an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben und jetzt auch noch erwerbslos – dieses Schicksal steht vielen Angestellten von Hennes & Mauritz bevor. Denn die Modekette will den Onlinehandel vorantreiben und im Zuge dessen viele Filialen schließen. Die Konsequenz: 800 Mitarbeiter*innen sollen entlassen werden – darunter vor allem Mütter. Dazu richtet sich H&M mit einem „Freiwilligenprogramm“ an seine Mitarbeiter*innen, das sich liest wie ein antifeministisches Manifest.

Arbeitnehmer*innen, die abends oder am Wochenende nicht arbeiten können, sollen einwilligen, das Unternehmen mit einer Abfindung zu verlassen. Es werden also insbesondere Eltern, ältere Menschen sowie Menschen mit Behinderungen oder Kranke sein, die nun vermutlich ihren Job verlieren.

Zwang statt freie Entscheidung

Was heißt das genau? Cosimo-Damiano Quinto aus der Ver.di-Bundesfachgruppe Einzelhandel fasst es so zusammen: „Frauen, die wegen ihrer Kinderbetreuung nicht am Wochenende oder in den Abendstunden arbeiten können, wird mit diesem Freiwilligenprogramm gesagt: ‚Du wirst nicht zu den Arbeitszeiten arbeiten können, an denen wir interessiert sind. Wenn dir das also nicht passt, weil du dann Familie und Beruf nicht vereinbaren kannst, dann kannst du dich freiwillig entscheiden, jetzt mit einer Abfindung zu gehen.‘ Das ist alles andere als eine freie Entscheidung.“ 

Eigentlich schützt ein Sozialplan Arbeitnehmer*innen vor solchen Horrorszenarien. Ein Sozialplan umfasst soziale Kriterien, die darüber entscheiden, welche Arbeitnehmer*innen im Falle einer Kündigungswelle besonders schutzbedürftig sind und sollte dabei – Überraschung – sozial sein: Kriterien wie Alter, Unterhaltsverpflichtungen oder auch Behinderungen der Arbeitnehmer*innen werden daher mit berücksichtigt, um Menschen zu schützen, die eine Kündigung mit besonderer sozialer Härte treffen würde. Eigentlich verhandelt das Unternehmen mit dem Betriebsrat über diese Kriterien und über die Höhe der Abfindungen, um wirtschaftliche Nachteile im Sinne der Arbeitnehmer*innen auszugleichen. All das umgeht H&M, manövriert das Programm geschickt am Betriebsrat vorbei mit der Begründung, es gäbe keine Betriebsänderung, die zu einem Sozialplan verpflichtet und tritt damit das Kündigungsschutzgesetz mit Füßen. 

Auf Anfrage bestätigt H&M, in naher Zukunft 800 Mitarbeiter*innen entlassen zu wollen, nach Angaben des Unternehmens entspreche dies fünf Prozent der Mitarbeiter*innen in Deutschland. Dabei richte sich das Freiwilligenprogramm nicht vorrangig an Mütter und Väter, behauptet die Modekette. Doch in der Betriebsvereinbarung, die an die Mitarbeiter*innen geht und die EDITION F vorliegt, wird deutlich, dass H&M darauf abzielt, das Arbeitsverhältnis genau mit den vulnerablen Gruppen aufzulösen, die eigentlich durch einen Sozialplan geschützt werden müssten. Sie werden im Anschreiben sogar als betreffende Mitarbeiter*innengruppe aufgezählt: „Folgende Mitarbeitergruppen sind Anspruchsberechtigt(: Personen,) die sich derzeit in Elternzeit befinden (und) langzeiterkrankte Mitarbeiter (Mitarbeiter, die aus der Lohnfortzahlung fallen).“

Unmenschlich, unmenschlicher, H&M

Das alles ist schockierend, aber nicht verwunderlich. Denn H&M ist, was Arbeitnehmer*innenrechte angeht, ein absoluter Reinfall. Erst die Bespitzelung von Arbeitnehmer*innen in einem H&M-Servicecenter in Nürnberg, bei der vertrauliche Informationen aus Mitarbeiter*innengesprächen aufgenommen wurden wie Krankheitssymptome nach Krankheitsabwesenheiten oder Informationen über das Privatleben der Mitarbeiter*innen. Dann der Skandal, dass H&M bundesweit immer wieder versucht, unliebsame Betriebsrät*innen zu feuern – zum Glück erfolglos. 

Von den Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten der Modekette im globalen Süden ganz zu schweigen. Jeyasre Kathiravel, eine 20-jährige Bekleidungsarbeiterin beim H&M-Zulieferer Natchi Apparels in Tamil Nadu, Indien, wurde am 5. Januar 2021 tot aufgefunden. Ein Vorarbeiter hat den Behörden gestanden, dass er Jeyasre vergewaltigt und getötet hat. Mehrere Arbeiterinnen haben darauf hingewiesen, dass es viele Fälle von sexueller Belästigung und Gewalt in der Fabrik gebe – einschließlich Beschimpfungen, Slutshaming, Mobbing, Schläge und Übergriffe. 

T-Shirt-Aufdrucke statt Unternehmenswerte

Diese schier endlose Liste der arbeitsrechtlichen Vergehen der Modekette liest sich wie ein Strafregister der Kategorie: unmenschlich, unmenschlicher, H&M. Während sich H&M also höhnisch mit feministischen Sprüchen wie „Girl Gang“ oder „We should all be Feminists“ auf T-Shirts schmückt, dürfte klar sein, dass dieser Umgang mit Arbeitnehmer*innen nicht nur antifeministisch, sondern rechtswidrig ist.

Die wichtige Kritik zu diesen Arbeitsbedingungen in einer Konsumkritik verhallen zu lassen, wäre nicht nur zu kurz gegriffen, sondern auch höchst unsolidarisch. Denn bei der Kleiderwahl bestimmte Modeketten zu boykottieren ist ein Verzicht, den man sich leisten können muss. Manche Menschen haben weder die Kapazitäten noch das Geld, ihre Kaufentscheidung zu einer politischen zu machen. Bei vielen Menschen geht es beim Thema Konsum um Pragmatismus, ums Überleben. Oder eben darum, sich so kleiden zu können, dass man sich auch mit wenig Geld im gesellschaftlichen Raum wohlfühlen kann: in Bewerbungsgesprächen, auf Beerdigungen, beim Date, auf einem Geburtstag. 

Konsumentscheidungen dürfen nicht politisch sein

Statt Konsument*innen mit dem Prinzip „Vote with your Dollars“ – also wähle mit deinen Kaufentscheidungen – unter Druck zu setzen, sollten politische Entscheidungen getroffen werden. Denn die können tatsächlich demokratisch bestimmt werden, während beim „Vote with your Dollars“-Prinzip lediglich der Geldbeutel entscheidet, wer mitbestimmen kann. Es braucht also keine Schmähkritik gegenüber Menschen, die bei H&M einkaufen, sondern eine Kritik an den Arbeitnehmer*innenrechten im deutschen Sozialstaat und überall dort, wo Menschen Produkte herstellen, die wir in Deutschland konsumieren. 

Fakt ist: Auch wenn H&M für schlechte Arbeitnehmer*innenbedingungen bekannt ist – die Herausforderung, der H&M gerade aufgrund der Corona-Krise und der Digitalisierung ins Auge blickt, ist kein Einzelfall. Sie stand und steht vielen Unternehmen bevor. Die Gefahr, dass Arbeitnehmer*innen durch all den Fortschritt einfach wegrationalisiert werden, fordert einen Wandel, in den Arbeitnehmer*innenrechte miteinbezogen werden müssen. „H&M versucht gerade, wie in einem Patriarchat, die Neuerungen von oben nach unten durchzusetzen. Das funktioniert nicht mehr im 21. Jahrhundert mit Arbeitnehmer*innen, die keine Befehlsempfänger*innen sind, sondern mitgestalten wollen“, sagt Cosimo-Damiano Quinto.

Welche Lösungen gibt es?

Ver.di wolle daher mit Unternehmen wie H&M an einem Digitalisierungstarifvertrag arbeiten, um den Wandel durch die Digitalisierung im Sinne der Arbeitnehmer*innen mitzugestalten. Zum Beispiel sollen Förderprogramme verpflichtend sein, die es Arbeitnehmer*innen ermöglichen, sich in neue digitale Arbeitsbereiche einzuarbeiten, statt einfach gekündigt zu werden. Ohne diese Regelungen bleiben Arbeits- und Gesundheitsschutz einfach auf der Strecke und mit ihnen die Menschen, die in unserer Gesellschaft benachteiligt werden und besonders schutzbedürftig sind. Das sollte auf ein T-Shirt gedruckt werden. 

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