Foto: Natalie Stanczak

„Wir wollen für den Wert von Care-Arbeit und strukturelle Ungleichheit gegenüber Müttern sensibilisieren“

Die Voraussetzungen, unter denen Mütter ihren Alltag erleben und bestreiten, sind unterschiedlich. Diese Vielfalt wollen die Autorinnen Nicole Noller und Natalie Stanczak in ihrem Buch abbilden. Ein Auszug.

Im April 2020 starteten Nicole Noller und Natalie Stanczak das Projekt „Faces of Moms*“. Auf ihrem Blog und auf dem gleichnamigen Instagram-Account veröffentlichen sie Kurzinterviews mit Müttern und fragen hierbei nicht nur nach den schönen Seiten. Herausforderungen, Abfucks, Wünsche für die Zukunft – all das können die Interviewten öffentlich loswerden. „Wir wollen für den Wert von Care-Arbeit und die strukturelle Ungleichheit gegenüber Müttern sensibilisieren“, sagen die beiden die Initiatorinnen des Projekts. Auf diese Weise machen sie Mütter nicht nur sichtbarer in der öffentlichen Debatte, sondern zeigen auch auf, wie vielfältig Mutterschaft gelebt wird.

Nicole Noller und Natalie Stanczak beschreiben ihr Buch nicht als „Rosa-Happy-Mama-Buch“, sonder als „ehrliches Manifest“. In „Bis eine* weint – Ehrliche Interviews mit Müttern zu Gleichberechtigung, Care-Arbeit und Rollenbildern“ kommen in ausführlichen Gesprächen 17 verschiedene Frauen zu Wort. Eine von ihnen ist Ursu. In diesem Auszug aus dem Buch erzählt Ursu von ihrem Leben als Mutter in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, wie sie sich mit ihrer Partnerin die Care-Arbeit aufteilt und was sie sich für die Zukunft wünscht.

Alltag, Akzeptanz und Adoptionsanträge

Ursu, geboren 1986, Geburtsjahr des Kindes: 2019.

Eigentlich hätte Ursu jetzt viel mehr Bock, Fußball zu gucken und ein Bierchen zu zischen, aber sie sitzt vor ihrem PC und sieht in unsere Gesichter im Videocall. FC Gleichberechtigung oder so in etwa. Sie ist Mama eines wunderbaren Kindes und verheiratet mit einer Frau. Auch sie kämpfen mit den täglichen Dingen des Alltags. Aber auch mit gesellschaftlicher Akzeptanz und Adoptionsanträgen. Prost.

„Zuerst kommt immer das Kind! Meistens macht mir das nichts aus und ich bin bereit, auf vieles zu verzichten. Oder anders gesagt: alles für mein Kind zu tun.“

Ursu

Nicole Noller und Natalie Stanczak: Welche Rollenbilder haben dich geprägt? 

Ursu: „Vermutlich herrschte bis zur Scheidung und dem Auszug meiner Mutter die ,traditionelle‘ Rollenverteilung vor. Meine Mutter schmiss den Laden, arbeitete aber auch in Teilzeit. Was mich mehr prägte als das Vorbild meiner Eltern, waren dann meine zwei älteren Schwestern und die Tatsache, dass in erster Linie sie die meisten Aufgaben übernahmen, die zuvor meine Mutter hatte. Ich war damals zwölf und lernte so bereits recht früh Selbstständigkeit. Wenn ich nicht wollte, dass meine Klamotten plötzlich alle einen Rotstich hatten, weil es mein Vater beim Waschen nicht so genau nahm, musste ich selbst waschen. Und das tat ich dann auch. Meine Schwestern zeigten mir, wie man die Waschmaschine bedient, wie man kocht und das Bad putzt. Meine Eltern haben mir viele Freiheiten gelassen und mich in keine Richtung gedrängt. So konnte ich meine Rolle selbst finden.“

Erzähle uns doch von einem typischen Tag aus eurer Woche. Wie sieht ein ganz normaler Dienstag aus?

„Um circa 7 Uhr beginnt mein Tag. Ich mache meiner Tochter und mir Frühstück und versuche dann, den Turm an Hausarbeiten abzuarbeiten, sofern kein Klammertag ist. Meistens gehen wir dann für‘s Mittagessen einkaufen. Ich versuche, ein gesundes und hauptsächlich schnell zubereitetes Essen zu zaubern, da die Kleine nichts mehr hasst, als auf Essen zu warten. Danach kommt die heilige Mittagspause. Wenn ich Glück habe, schläft die Kleine eineinhalb Stunden. In der Zeit räume ich die Küche auf und versuche, auch noch ein paar Minuten nichts zu tun. Nachmittags besuchen wir Freundinnen (mit Kindern) oder gehen auf den Spielplatz. Für das Abendessen sorgt im besten Fall meine Frau nach der Arbeit. Ungefähr um 20 Uhr bringe ich meine Tochter ins Bett. Danach möchte ich einfach nur noch im Sofa versinken und Serien schauen, bevor sich das Rad am nächsten Tag weiterdreht.“ 

Wie teilen sich du und deine Partnerin die Kinderbetreuung und den Haushalt auf? Und warum habt ihr diese Form gewählt? 

„Seit der Geburt unserer Tochter bin ich zuhause. Meine Frau hatte anfangs Elternzeit und ist dann wieder arbeiten gegangen. Wir haben diese Form gewählt, weil sie für uns beide persönlich und finanziell gepasst hat. Ich bin gern zuhause und kümmere mich
um unser Kind. Den Haushalt mache somit auch größtenteils ich. Jetzt, nach eineinhalb Jahren, kehre ich wieder in Teilzeit zu meiner Arbeit als Lehrerin zurück. Unsere Tochter kommt in die Kita. Ich denke, mir liegt es mehr als meiner Frau, die häuslichen Arbeiten zu übernehmen. Sie hängt mehr an ihrem Job als ich und somit ist die Aufgabenteilung für uns beide so in Ordnung. Manchmal stört es mich aber, dass die Arbeit, die ich leiste, nicht als solche gesehen wird und Arbeitstermine meiner Frau fast immer Vorrang haben.“ 

Wie hast du vor der Schwangerschaft gelebt?

„Ich habe mindestens drei Mal in der Woche Sport getrieben und war viel mit Freund*innen unterwegs. In fast allen Ferien sind meine Frau und ich verreist.“ 

Welche Vorstellungen von Mutterschaft hattest du, bevor dein Kind zur Welt kam? Was ist genauso, wie du es dir vorgestellt hast, und was ist anders? 

„Ich habe mir Mutterschaft als die schönste Sache der Welt vorgestellt. Wenn ich die Gefühle beschreiben müsste, die ich habe, wenn ich meine Tochter ansehe, dann ist es auch genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte oder noch krasser! Denn zu der überwältigenden Liebe kommen auch Sorgen und Ängste, die wahrscheinlich nie mehr weggehen.“ 

Wie hat dich dein Muttersein verändert? 

„Ich habe meine Bedürfnisse komplett zurückgesteckt. Zuerst kommt immer das Kind! Meistens macht mir das nichts aus und ich bin bereit, auf vieles zu verzichten der anders gesagt: alles für mein Kind zu tun. Aber manchmal merke ich, dass ich die Spontanität und Sorglosigkeit von vor dem Muttersein vermisse.“ 

Foto: Natalie Stanczak

Wenn du dich in die ersten Wochen mit Neugeborenem zurückversetzt: Was würdest du wieder genauso machen, was würdest du nie wieder so machen

„Wir hatten die allerbeste Hebamme, die man sich vorstellen kann. Dank ihr gibt es kaum etwas, das ich anders machen würde, denn sie wusste auf jede Frage die passende Antwort und hatte für jedes Problem eine für uns gemachte Lösung. Meine Frau und ich haben uns in den ersten Wochen viel Zeit und Ruhe für unsere kleine Familie genommen. Das würde ich genauso wieder machen. Auch wenn das beim zweiten Kind wahrscheinlich so nicht mehr funktionieren wird.“ 

Fallen dir Situationen ein, in denen dein Verhalten als Mutter kritisiert wurde? 

„Solche Situationen habe ich zum Glück noch nicht erlebt – wenn man von all den gut gemeinten Ratschlägen absieht, die man vor allem zu Beginn überall ungefragt erhält. Kritisiert wurden wir nicht direkt, aber vor allem unsere Mütter waren von einigen unserer Methoden recht überrascht, vielleicht sogar schockiert! Dass die Kleine anfangs nachts immer auf einer von uns geschlafen hat (,Die kriegt ihr nie wieder los!‘), dass wir nicht mit Brei, sondern fester Nahrung begonnen haben (,Die verschluckt sich doch!‘ ,Die kriegt doch so nicht genug!‘), dass wir auf zuckerhaltige Nahrungsmittel verzichten (,Die Arme!‘ oder ,Ich kann ja den Zuckerguss von dem Teilchen abmachen.‘).“ 

Wie ist es, wenn ihr als Paar mit eurem Kind unterwegs seid? Welche Erfahrungen macht ihr?

„Wir sind nicht das Paar, das sich in der Öffentlichkeit viel umarmt oder küsst. Vielleicht auch unbewusst, weil man keine Lust auf schräge Blicke hat. Von daher ist es im ersten Moment für Außenstehende nicht offensichtlich, dass wir eine Familie sind. Es klärt sich aber dann oft im Gespräch, dass das Kind unsere Tochter ist und wir ein Paar sind. Meistens erfahren wir wirkliches, ernsthaftes Interesse unseres Gegenübers und haben bisher keine negativen Erfahrungen gemacht. Ich persönlich finde es auch immer besser, wenn man direkt Fragen stellt, anstatt die Augenbrauen zu heben oder sich danach im Stillen zu wundern, wie sich unsere Konstellation ergeben hat. Auch im Freundeskreis oder in der Arbeit gab es nie negative Kommentare – im Gegenteil: Es haben sich alle sehr gefreut, als es geklappt hatte.“ 

War euch im Prozess des Kinderwunsches klar, wer das Kind austrägt und für welchen Weg habt ihr euch entschieden?

„Wir hatten schon immer den Wunsch, uns als Familie zu vergrößern. Und mir war auch klar, dass ich schwanger sein möchte. Bei uns hat das wunderbar gepasst, da meine Frau auch eine Familie, aber nicht selbst ein Kind austragen wollte. Als lesbisches Paar ist es natürlich nicht einfach, ein Kind zu bekommen. Wir haben verschiedene Anlaufstellen und Kinderwunschzentren recherchiert und waren schließlich mit einem Samenspender erfolgreich (viele andere lesbische Paare machen das auch über männliche Bekannte). Nach etwas weniger als einem Jahr, Besuchen beim beziehungsweise vom Jugendamt und beim Notar war dann der Adoptionsprozess abgeschlossen und meine Frau offiziell auch Elternteil unserer Tochter.“

Was wären deiner Meinung nach optimale Rahmenbedingungen für eine gelungene Vereinbarkeit von Beruf und Familie und lebst du diese schon? 

„Individuelle Betreuungsangebote für jede*n, flexible Arbeitszeiten, verständnisvolle Vorgesetzte. Ich arbeite als Lehrerin in Teilzeit und kann natürlich keine flexiblen Arbeitszeiten erwarten. Aber immerhin ist die Betreuung unserer Tochter in der Kita gesichert.“ 

Was lösen die Schlagwörter „Teilzeitfalle“ und „Altersarmut“ bei dir aus?

„Verdrängung! Vielleicht bin ich zu blauäugig oder naiv, vielleicht vertraue ich zu sehr auf meinen Beamtinnenstatus oder auf meine Frau, die unsere Finanzen regelt.“ 

„Muttersein wird einfach als ,naturgegebene Aufgabe‘ der Frau angesehen. Und wer jammert, sich beschwert oder überfordert ist, wird im besten Fall als schwach angesehen, im schlimmsten Fall als ungeeignet abgestempelt.“

Ursu

Wie gehst du mit deinen Grenzen als Mutter um? Was machst du, um dir etwas Gutes zu tun?

„An meine äußersten Grenzen komme ich dann, wenn ich krank und somit geschwächt bin. Dann merke ich, wie viel Energie mich die Pflege und das Bespaßen unseres Kindes und die Organisation des Haushaltes kostet. Dann nehme ich meine Frau stärker in die Pflicht. Um mir etwas Gutes zu tun, nehme ich ein Bad. Das ist die Schnell-Entspannungsvariante. Um mich richtig gut zu fühlen, muss ich mit Freund*innen einen Sporttermin ausmachen. Im besten Fall mit anschließendem Fußballschauen und einem Bier. Das kommt leider viel zu selten vor.“ 

„Wir sind alle Menschen. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist der logische und unmissverständliche Grund dafür, warum alle die gleichen Rechte haben sollten.“

Ursu

Ist dir Gleichberechtigung wichtig? Und wenn ja, warum?

„Wir sind alle Menschen. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist der logische und unmissverständliche Grund dafür, warum alle die gleichen Rechte haben sollten. Dass es nicht so ist und stattdessen nach wie vor Geschlecht, Abstammung, Religionszugehörigkeit und so weiter einen so großen Unterschied in der Behandlung eines Menschen ausmachen, macht mich traurig. Also JA mit drei Ausrufezeichen – Gleichberechtigung ist mir wichtig!“ 

Wie sieht deine Vision eines idealen Familienlebens aus?

„Zwei Kinder, die sich gut verstehen und zwei Eltern, die im wahrsten Sinne des Wortes Partner*innen sind. Verlässlichkeit, Verständnis, Liebe, Vertrauen und Humor bilden die Basis des Miteinanders. Es gibt viele Familienaktivitäten und genauso gibt es Raum für die Bedürfnisse des*der Einzelnen. Eine Putzhilfe kommt mindestens zwei Mal die Woche, das Haus ist immer sauber und die Wäsche gewaschen, gebügelt und liegt im Schrank.“ 

Was wünschst du dir als Mutter in der Zukunft von unserer Gesellschaft? 

Wertschätzung! Als meine Tochter erst ein paar Monate alt war, fragte mich meine Mutter einmal, wie ich denn so klar käme. Ich antwortete ihr, dass es aktuell anstrengend und ich komplett übermüdet sei, weil meine Nächte alles andere als erholsam seien. Eigentlich wollte ich noch weitererzählen, doch sie unterbrach mich mit einem Lachen: ,Tja, da mussten wir alle durch.‘ Im ersten Moment dachte ich: ,Ja, das stimmt wohl. Was beschwere ich mich denn?‘, doch als ich länger darüber nachdachte, wurde mir klar, was der Grund ihres fehlenden Mitgefühls war: fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit mit mir und meinen Schwestern. Muttersein wird einfach als ,naturgegebene Aufgabe‘ der Frau angesehen. Und wer jammert, sich beschwert oder überfordert ist, wird im besten Fall als schwach angesehen, im schlimmsten Fall als ungeeignet abgestempelt. Es ist schade, dass in meinem Fall sogar die eigene Mutter eher mit Häme als mit Hilfsbereitschaft und Verständnis auf die Probleme, die das Muttersein mit sich bringt, reagiert hat.“ 

Nicole Noller und Natalie Stanczak, „Bis eine* weint! – Ehrliche Interviews mit Müttern zu Gleichberechtigung, Care-Arbeit und Rollenbildern“, Palomaa Publishing, März 2020, S. 158, 18 Euro.

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