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Jeder von uns hat mindestens einen Flüchtling in der Familie. Wetten?

Martina Ürek ist Aramäerin, zu Hause ist sie in Deutschland. Ihr macht Angst, wie der lange unterschwellige Rassismus in der Flüchtlingsdebatte immer offener ausgelebt wird.

 

Deutschland ist meine Heimat

Ich liebe dieses Land, in dem ich großgeworden und aufgewachsen bin. Als Aramäerin gehöre ich zu den wenigen, die aramäisch, die Sprache Jesu, spricht und staatenlos ist. Meine Vorfahren mussten so wie viele andere ethnische Minderheiten (Armenier, Griechen, Kurden, Jesiden, Juden) in der Türkei vor den Schergen der Jungtürken flüchten. Unsere Kultur und Sprache, die weit in das Altertum zurückgeht, konnte und kann nicht gelebt werden.

Und so ist Deutschland meine Heimat. Meine Eltern kamen als Gastarbeiter hierher. Ich wuchs bei einer deutschen Familie auf, die mir die deutsche Kultur und die Werte vermittelte, mit denen ich mich immer identifiziert habe.

Tugenden wie Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit haben mich geprägt. Oft werde ich von meinen Freunden gerügt mit den Worten: „Du bist ja deutscher als wir“. Ja, ich liebe dieses Land der Dichter, Denker, Humanisten, Bastler und der Protestanten. Aber dieses Land und seine Bewohner werden mir immer fremder. Habe ich früher bemängelt, dass es manchen Bürgern an Nationalstolz fehlt, so sehe ich mit Sorge, dass dieser unterschwellig rassistisch wird. Dieser unterschwellige Rassismus wird in sozialen Netzwerken gelebt und seit einem Jahr offen durch die AFD und Pegida.

Warum gleich so übertrieben? Warum wird alles über einen Kamm geschoren? Ich habe das Gefühl, dass sich Deutschland in den letzten 40 Jahren gewaltig verändert hat. Einerseits offen für alles und alle, andererseits ängstlich und radikal und umso mehr traditionell. Warum gibt es nicht eine Mischung aus beidem? 

Die sogenannte Leitkultur, die durch die Politik vorgelebt werden sollte, existiert nicht mehr in diesem Land. Im Gegenteil, die Politik und auch die Medien verbreiten Angst und Sorge. Warum gibt es keine Bürgerdialoge und Sprechstunden für besorgte Bürger? Wieso nimmt sich keiner Zeit, um aufzuklären, wer der „wilde Araber“ ist (Zitat eines Bürgers auf Facebook)? Wer sind diese Menschen, die jetzt nach Europa fliehen müssen? Sind diese ethnisch gesehen vielleicht  Armenier, Aramäer, Kurden oder Jesiden oder gehören die Flüchtlinge islamischen Minderheiten an und sind in ihrem Land nicht mehr geduldet? Leiden diese vielleicht unter Todesangst oder müssen verhungern? Was ist mit den abertausenden Kindern, die auf der Flucht sind? Würden diese nicht viel lieber spielen, die Schulbank drücken oder studieren? Wer von uns verlässt freiwillig sein Land?

Jeder von uns ist Flüchtling. Seit der Völkerwanderung im 3. bis 5. Jahrhundert ist Europa auf der Flucht. Und ich wette, dass jeder von euch einen Flüchtling in der Familie hat, dessen Flucht wirtschaftliche, ethnische, politische oder religiöse Gründe hatte. (Hugenotten, Waldenser, Erster und Zweiter Weltkrieg.)

Ich vermisse im Land der Dichter und Denker die Mahner und auch die Kirchen, die die verängstigten Bürger in Deutschland aufrütteln und aufklären. Angst wird sehr schnell zu Hass. Und ich glaube, eine Wiederholung der Geschichte will keiner mehr. Nur mit gegenseitiger Wertschätzung werden wir das Zusammenleben in diesem Land gestalten können.

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