In der 55. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“ spricht Paar- und Sexualtherapeutin Julia Henchen darüber, warum weibliche Lust so oft übergangen wird.
Studien zeigen: Nur etwa 65 % der cis Frauen erleben beim heterosexuellen Sex regelmäßig einen Orgasmus – bei Männern sind es ganze 95 %. Doch woran liegt das? Was steckt hinter dem sogenannten Orgasm Gap, also der „Orgasmus-Lücke“? Und viel wichtiger: Was können wir tun, um sie zu schließen?
Julia gibt nicht nur spannende Einblicke, sondern verrät uns auch praktische Tipps, die helfen können, die eigene Sexualität lustvoll zu gestalten. Reinhören lohnt sich!
Die ganze Podcastfolge hörst du über einen Klick ins Titelbild oder eingebettet unten im Artikel und natürlich überall dort, wo es Podcasts gibt. Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Julia Henchen liest du hier.
Liebe Julia, begünstigt bereits unsere sexuelle Aufklärung in Deutschland den Orgasm Gap?
„Auf jeden Fall. Es gibt viele Ursachen, aber Aufklärung ist ein zentraler Punkt. In der Schule lernen wir: Wenn man einen Penis reibt, kommt der Mensch, dem der Penis gehört, zum Orgasmus. Und daraus wird automatisch geschlussfolgert: Wenn man die Vagina reibt, passiert dasselbe. Das stimmt aber nicht.
Das Gegenstück zum Penis ist auch nicht die Vagina, sondern die Klitoris. Und die wird ganz anders stimuliert – nämlich über Druck an der Vulva, nicht über Reibung.
Hinzu kommt die Vorstellung, dass Penetration ‚richtigen‘ Sex ausmacht und dass Sex immer mit dem Orgasmus endet. Lust selbst kommt in der Aufklärung gar nicht vor – es geht fast nur um Verhütung und Fortpflanzung.“
Wird der Orgasmus der Frau in Lehrbüchern also kaum thematisiert, weil er nicht zur Fortpflanzung beiträgt?
„Genau. Spannend ist dabei: Es gibt durchaus Theorien, die davon ausgehen, dass der weibliche Orgasmus früher eine wichtigere Rolle gespielt hat. Es gibt Tierarten, bei denen der Orgasmus notwendig ist, damit der Eisprung überhaupt ausgelöst wird. Auch bei Frauen hat man das früher vermutet.
Es gibt aber auch heute noch Theorien, die besagen, dass der weibliche Orgasmus bei der Befruchtung helfen kann – etwa durch Kontraktionen, die das Sperma in Richtung Gebärmutter transportieren.
Was ich außerdem häufig lese: Die Klitoris sei das einzige Organ im menschlichen Körper, das ausschließlich der Lust dient. Ich finde, damit wird ihr ganz schön viel abgesprochen – genauso wie der Penis ja auch nicht nur für den Orgasmus da ist. Sprache spielt hier eine große Rolle: Sie prägt, wie wir über Sexualität denken und sprechen.“
Sigmund Freud hat mit seiner Theorie vom klitoralen und vaginalen Orgasmus auch ein ziemliches Erbe hinterlassen. Wie sehr prägt diese Sichtweise bis heute unsere Verständnis von weiblicher Sexualität?
„Die Ansicht von Herrn Freud prägt unser Denken tatsächlich bis heute – zum Beispiel, wenn wir sagen: ‚Frauen sind eben ein bisschen komplizierter.‘ Diese Vorstellung geht ganz klar auf ihn zurück.
Er war überzeugt, dass reife Frauen ausschließlich über die Vagina zum Orgasmus kommen sollten – den klitoralen Orgasmus hielt er hingegen für etwas Kindliches. Ich kann mir vorstellen, dass diese Beobachtung in seinen Augen vielleicht Sinn ergab, weil klitorale Masturbation verspielt wirken kann. Trotzdem ist das, was er gesagt hat, aus heutiger Sicht natürlich höchst problematisch.
In der Paar- oder Sexualtherapie höre ich sehr oft Sätze wie: ‚Ich kann nur klitoral kommen‘ oder ‚Vaginal klappt es bei mir leider nicht.‘ Häufig wird das mit einem entschuldigenden Blick zum Partner gesagt – als müsste sie sich rechtfertigen. Daran zeigt sich, wie tief dieses Erbe noch verankert ist.“
Tatsächlich ist es ja so, dass nur etwa ein Fünftel der Frauen allein durch vaginale Penetration kommen kann, oder?
„Genau. Spannend finde ich dabei: Oft heißt es dann – ‚Mist, die meisten Frauen kommen nicht so leicht vaginal. Die müssen jetzt wirklich mal schauen, wie sie das hinbekommen.‘
Man könnte aber genauso gut sagen: ‚Penetration funktioniert für die meisten Frauen nicht – dann müssen die Männer halt mal schauen, wie sie es anders hinbekommen.‘ Aber so denken wir eben nicht – weil wir auch auf Lust meist durch den sogenannten Male Gaze schauen, also durch den männlichen Blick.
Das vermeintliche Problem wird dadurch immer bei der Frau verortet: Sie hat ein Defizit, sie schafft es nicht. Schon der Begriff Orgasm Gap suggeriert das ja: ‚Nur 15 Prozent der Frauen kommen durch Penetration.‘ Damit sind wir mitten in der Pathologisierung.
Natürlich sitzen bei mir auch Frauen, die sagen, sie würden gern vaginal zum Orgasmus kommen. Und ich sage es mal ganz direkt: Am Ende ist das oft auch einfach eine Frage der Technik. Man kann das lernen – aber es wird nicht vermittelt.
Trotzdem sollte klar sein: Niemand muss vaginal kommen können. Und doch sitzt genau diese Erwartung tief in unseren Köpfen. Ständig hört man: ‚Der vaginale Orgasmus ist so viel intensiver.‘ Auch Serien wie ‚Sex and the City‘ befeuern diese Vorstellung – etwa, wenn der Orgasmus über den Zervix als besonders erfüllend dargestellt wird. Das baut natürlich enormen Druck auf.“
Gibt es so etwas wie den vaginalen Orgasmus überhaupt? Selbst wenn eine Frau beim penetrativen Sex zum Orgasmus kommt, ist ja letztlich die Klitoris dafür verantwortlich, oder?
„Wenn wir über ‚vaginal‘ und ‚klitoral‘ sprechen, geht es eigentlich immer um die Art der Stimulation. In der Praxis frage ich deshalb: Auf welche Weise kommt jemand zum Orgasmus – durch die Vagina oder über die äußere Klitoris? Das hilft, die individuelle Erfahrung besser einzuordnen.
Die Klitoris ist zwar das Organ, das den Orgasmus austrägt – aber sie ist nicht allein verantwortlich. Es gibt ein komplexes Zusammenspiel aus Nervengeflechten, Schwellkörpern und dem Gehirn. Auch das Rückenmark, der Vagusnerv und weitere Strukturen sind beteiligt. Deshalb wäre es zu kurz gedacht, den Orgasmus ausschließlich einem einzelnen Bereich zuzuschreiben.
Die Klitoris ist übrigens auch deutlich größer, als viele glauben. Selbst Darstellungen, die ihre Größe zeigen, bilden oft nicht das gesamte Organ ab.“
Was sind häufige mentale Blockaden, die Frauen daran hindern, in ihre volle Lust zu kommen oder einen Orgasmus zu erleben?
„Frauen wird oft nachgesagt, sie hätten ein Kontrollproblem. Aber hier mal ein Reminder: Menschen im Allgemeinen haben das Bedürfnis, Dinge zu kontrollieren – das ist völlig menschlich.
Gerade Frauen tragen im Alltag oft besonders viel Verantwortung. Sie übernehmen einen Großteil der Care-Arbeit, scannen ständig ihre Umgebung – auch unbewusst – auf Sicherheit. Auch beim Sex spielt Kontrolle eine Rolle, denn sie kann Sicherheit geben – und genau das kann das Loslassen überhaupt erst ermöglichen.
Aber wenn man über Loslassen spricht, stellt sich auch die Frage: Was bedeutet das überhaupt? Viele Frauen sagen mir in der Praxis: ‚Ich weiß gar nicht so genau, was ich eigentlich will.‘ Da kommen viele Dinge zusammen – zum Beispiel, dass ihnen nie wirklich Raum gegeben wurde, sich das in Ruhe zu fragen. Wenn dann ein Mann fragt: ‚Worauf stehst du?‘ – ist das für viele total überfordernd. Denn plötzlich steht diese unausgesprochene Erwartung im Raum, dass die Frau jetzt performen soll. Dass sie zeigen soll, was sie mag – vielleicht sogar so, wie der Partner es aus Pornos kennt.
Und wenn man das selbst gar nicht fühlt, nicht will oder sich unwohl dabei fühlt, kommt schnell ein ‚Mach du mal‘. Das wiederum stützt dann auch Klischees wie ‚Frauen wollen dominiert werden‘. Denn wenn ich nicht weiß, was ich will oder was ich sagen soll, ist es eine einfache Möglichkeit, Verantwortung abzugeben.“
Und wie wirkt sich das auf den Orgasmus selbst aus?
„Bei vielen Frauen dauert es einfach länger – und das ist vollkommen normal. Beim Solosex etwa nutzen viele eine sehr gezielte Stimulation: viel Druck auf die Vulva, angespannte oder gestreckte Beine. So kommen sie oft innerhalb weniger Sekunden oder Minuten zum Orgasmus.
Beim partnerschaftlichen Sex ist genau diese Art der Stimulation aber meist schwer umzusetzen. Das bedeutet: Sie bräuchten mehr Zeit – manchmal bis zu 45 Minuten. Doch das einfordern zu müssen, ist vielen unangenehm. Sie wollen nicht „zu viel Raum“ einnehmen – und täuschen dann vielleicht den Orgasmus vor, einfach damit es vorbei ist.
Da kommen viele gesellschaftliche Faktoren zusammen, die Einfluss darauf haben, wie frei oder gehemmt Frauen ihre Lust erleben können.“
Wie stark beeinflusst das eigene Körperbild die Fähigkeit, Lust zu empfinden?
„Ich glaube, gar nicht so sehr, wie man oft denkt. Frauen, die regelmäßig Orgasmen erleben, sagen oft: ‚Ich fühle mich einfach mit meinem Gegenüber wohl.‘ Das heißt nicht unbedingt, dass sie mit ihrem Körper vollkommen zufrieden sind – aber sie können sich zeigen, wie sie sind. Und genau das macht den Unterschied. Denn mal ehrlich: Die wenigsten Menschen sind dauerhaft zufrieden mit ihrem Aussehen.
Um mich beim Sex wirklich fallen lassen zu können, brauche ich vor allem ein Gefühl von Sicherheit – sei es mit dem Partner oder in der konkreten Situation. Deshalb sagen viele auch: ‚Beim One-Night-Stand klappt das mit dem Orgasmus super.‘ Klingt erstmal widersprüchlich, aber auch hier gibt es eine Art Sicherheit – zum Beispiel, nicht bewertet zu werden, weil es keine spätere Begegnung gibt. Auch das hat mit Kontrolle zu tun.
Natürlich: Wenn ich das Gefühl habe, meinen Bauch verstecken zu müssen, hilft das nicht unbedingt. Aber letztlich geht es darum, ob ich mich zeigen kann – ohne Angst, bewertet zu werden.“
Ich habe das Gefühl, vor allem Frauen hören mit der Selbstbefriedigung auf, sobald sie in einer Beziehung sind. Warum ist es trotzdem wichtig, dranzubleiben?
„Das finde ich tatsächlich sehr spannend, denn ich erlebe das auch in der Therapie häufig – und zwar nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern. Wenn es in der Partnerschaft zu Lustlosigkeit kommt, frage ich immer: ‚Wie sieht es mit Solosex aus?‘ Und dann höre ich oft: ‚Ja, ab und zu schon. Ich brauche das irgendwie – aber es fühlt sich nicht gut an.‘
Dabei ist es tatsächlich so: Je regelmäßiger ich Solosex praktiziere, desto mehr Lust habe ich oft auch auf Sex generell. Solosex kann also sehr unterstützend wirken – aber nur, wenn ich dabei ein gutes Gefühl habe. Es gibt natürlich auch Menschen, die keinen Solosex haben und trotzdem regelmäßig Sex mit Partner*innen – das ist individuell verschieden. Meine Erfahrung zeigt aber: Menschen, die regelmäßig Solosex haben, erleben oft auch mehr Lust im partnerschaftlichen Sex.
Dabei lerne ich nicht nur, wie mein Orgasmus funktioniert, sondern auch, wie ich mich gut spüren kann. Spannend ist: Viele Frauen verlieren nach dem Wechsel vom Solosex zum partnerschaftlichen Sex scheinbar die Fähigkeit zum Orgasmus. Aber eigentlich verlieren sie diese Fähigkeit nicht – es sind eher andere Faktoren, die eine Rolle spielen, wie zum Beispiel Sicherheit oder mangelnde Kommunikation.“
Für Solo-Sex wird sich oft nur wenig Zeit genommen – dabei ist genau das doch wichtig, um Fantasien zu entwickeln, oder?
„Ja, die meisten Menschen haben Solo-Sex tatsächlich nur für ein paar Minuten – was auch völlig in Ordnung ist. Aber man kann sich schon mal fragen: Warum mache ich das eigentlich?
Viele sagen, um Stress abzubauen. Doch häufig geht es in Wahrheit eher darum, sich selbst zu spüren. Der Stressabbau ist dann eher ein Nebeneffekt. Es lohnt sich also, die Frage noch mal tiefer zu stellen: Warum habe ich Sex? Und das gilt auch für den partnerschaftlichen Sex.
Solosex kann da ein guter Anfang sein. Zum Beispiel, indem ich mir bewusst eine halbe Stunde Zeit nehme und schaue: Wie möchte ich eigentlich berührt werden? Wenn wir über Orgasmen in Beziehungen sprechen – und vielleicht etwas daran verändern möchten –, beginnt das oft genau hier: beim Solosex.
Es geht darum herauszufinden, wie ich die Stimulation variieren kann. Welche Berührungen gefallen mir wirklich? Welche Varianten fühlen sich gut an? Und genau dafür ist Solo-Sex ein wunderbares Übungsfeld.“
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Noch mehr Impulse gibt Julia Henchen in der 55. Folge unseres Podcasts „Echt & Unzensiert“. Praktische Tipps, die dir dabei helfen können, mehr Orgasmen zu erleben, findest du zum Beispiel ab Minute 25:50. Reinhören lohnt sich!
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Bei „Echt & Unzensiert“ beleuchtet Host Tino Amaral gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen vermeintliche Tabuthemen, macht auf Missstände aufmerksam und gibt Denkanstöße, die deinen Blick auf die Welt für immer verändern werden. Auch einige Promis haben bei ihm schon private Einblicke gegeben und wichtige Erkenntnisse geteilt. Welches Thema würdest du gerne mal hören? Lass es uns bei Instagram wissen!
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