Foto: Sergey Prokudin-Gorsky | flickr | CC by 2.0

Die Russin ist ein gefühlsvoller Mensch, aber nur für einen kurzen Moment

Russlanddeutsche gelten am besten integriert und doch sind sie irgendwie anders. Wie genau dieses Anderssein aussieht und welche Vorzüge und Peinlichkeiten es mit sich bringt, Russlanddeutsche zu sein, berichtet euch Olga ab jetzt in ihrer Kolumne. Diese Woche geht es, um das Zurückkommen in die Heimat.

 

„Von hier bis unendlich“

Wieder Helene Fischer, Russland und ich. Wie Helenes Familie wohnt auch ein Teil meiner Familie mittlerweile in Sibirien, nachdem Kasachstan, das extra arm gehaltene Exil der Sowjetunion, nicht mehr erträglich war. „Von hier bis unendlich“, reichte meine Sehnsucht nach meiner Familie, die ich zum letzten Mal vor zehn Jahren sah. Denn wer so tief im sibirischen Nichts wohnt, zu dem fliegt auch nur einmal täglich eine monopolistische Fluggesellschaft, die dementsprechende Preise verlangt. 

Allgemein ist eine Reise nach Russland mit einem großen Aufwand verbunden. Nicht nur müssen für alle Familienmitglieder Geschenke aus dem für sie immer noch glorifiziertem Deutschland mitgebracht werden, sondern auch Visa und eine Einreiseeinladung organisiert werden. Ja, Russland darf man auch als ehemalige Russin nicht einfach so bereisen, man muss offiziell eingeladen werden. Oder fragt eine der unzähligen Reisebüros danach.

Einmal aus dem Flugzeug ausgestiegen, stellt man fest, dass neben der Sehnsucht auch die sibirische Steppe „von hier bis unendlich“ reicht. Die Kleinstadt meiner Familie umgibt 100 Kilometer reines Flachland und Gras. Das Aufregendste in der Landschaft ist mal ein Busch. Kein Scherz! Die sibirische Taiga, die in Deutschland so gerne romantisiert wird, ist mehrere 100 Kilometer entfernt. Und doch ist neben der Ödnis auch noch meine Aufregung, Freude und Angst über das Wiedersehen, eine Mischung, die eigentlich in kein herkömmliches Gefühl übersetzt werden kann.

„So wie ich bin“

Zehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit, generell und noch mehr, wenn eine Pubertät in diese Zeit fällt. Man wird nicht nur älter, man durchläuft eine Metamorphose zu einem anderen Menschen. Natürlich haben wir durch die neuen Technologien die Möglichkeit gehabt uns gegenseitig zu sehen und zu sprechen, aber wer den Russen kennt, weiß, was für haptische Menschen wir sind, wie dringend wir die Berührung brauchen, um das Gegenüber auch wirklich wahrzunehmen.

Und dann ist es soweit, ich stehe vor ihnen, „so wie ich bin“. Meine Großmutter, die Matriarchin der Familie, in meiner Vorstellung immer noch die kräftige Frau von früher, die Fabrikdirektorin, Überlebende zweier Ehemänner, die wenn sie ruft, die gesamte Familie unter ihrem Dach zusammenbringt. Jetzt zwei Köpfe kleiner als ich und so zart, dass ein Windhauch sie davontragen könnte. Bis die kräftige Umarmung und der erste Kommentar zu der Frisur, zum Outfit oder der generellen Erscheinung meiner Mutter und mir kommt. In einer Spitzheit, die nur im Russischen einer so gestandenen Frau so samtig, liebevoll aber auch präzise verletzend ausgedrückt werden kann. Unsere sehr eigene Art, Liebe auszudrücken.

„So nah wie du“

Aus dem Hintergrund tönt eine sanfte Stimme, die auch gleichzeitig ihr warmherziges Gemüt offenbart, die meiner Tante, meiner Namensvetterin. Wir sollen erst einmal reinkommen, uns ansehen lassen – ohne spitzen Kommentar – und natürlich die Tränen wegwischen, die sich die letzten zehn Jahre angesammelt haben und jetzt entweichen müssen. Ja der Russe ist ein gefühlsvoller Mensch, aber nur für einige kurze Momente, wird es uns zugestanden, diese Schwäche zu zeigen.

Selbstverständlich müssen wir kurz darauf essen, während die Taschen noch gar nicht richtig abgelegt sind. Denn neben spitzen Kommentaren zeigen wir unsere Liebe genau damit: einem reich gedeckten Tisch und der andauernden Aufforderung, doch bitte nachzunehmen. Sobald die Gabel abgelegt wird, kommt ein strenger Blick meiner Großmutter und mindestens eine der Frauen am Tisch steht auf, um den Teller der Gäste wieder zu füllen.

Wenn sich die Möglichkeit zwischen den Bissen ergibt, sehe ich in die Gesichter der Generationen von Frauen meiner Familie. Bis zur Hochzeit meiner Cousinen waren wir eine sehr frauenlastige Familie. Starke Frauen, jede auf ihre ganz eigene Art, mal spitz mal sanftmütig. Ich irgendwo dazwischen, mal wieder. Auch hier unterscheide ich mich optisch und charakterlich. Ich überrage nicht nur in meiner Familie, sondern fast in der gesamten Stadt mit meiner Größe alle anderen. Mein Gesicht ist nicht so slawisch. wie das der anderen und mein Russisch mit einem schweren deutschen Akzent belegt.

Dennoch sehe ich jeder einzelnen Frau ins Gesicht und denke mir: „So nah wie du“ ist mir niemand. Die überschwängliche Liebe, die uns alle wie von einem warmen Piraschok umwickelt fühlen lässt, werde ich in dieser Tiefe, so vorurteilsfrei, so rein und tief nirgendwo anders finden. Genauso wenig, wie unser brodelndes Temperament, das in der Lautstärke einer Hochzeitsfeier, hinaus in die Welt gelassen wird. Das dem deutschen Gesittet-Sein so sehr widerstrebt und mir manchmal so fehlt. Nerven verlieren wird hier nicht mit dem Verlust des Anstandes gleichgesetzt, sondern mit dem Verlust der falschen Scham. Die deutsche Höflichkeit wird mit der lauten slawischen Ehrlichkeit ersetzt.

„Für einen Tag“

Doch meist hält diese unglaubliche Verbundenheit, in ihrer fast unerträglichen Intensität nur „für einen Tag“. Selbstverständlich erblühe ich weiterhin, vor nicht enden wollender Liebe, allerdings drücken sich die Unterschiede doch sehr deutlich zwischen uns. Natürlich ist den russischen Städtern die Sorge um die Gurken und Tomatenernte fast so fremd wie mir, aber hier im tiefen Sibirien gehört sie zum Alltag aller. Die politische Lage, die Diskussion darüber mit meinem Onkel und unser beidseitiges Unverständnis lässt mich manchmal mit Groll zurück. Aber am meisten macht mir die Ödnis postsowjetischen Städte, östlich des Urals, zu schaffen. 

Also auch hier wieder Zerrissenheit. Auch hier wieder das Sitzen zwischen den Stühlen. Diesmal aber anders und doch irgendwie gleich. Denn diesmal ist es mein Äußeres und nicht mein Inneres, das mich sofort als Fremde entlarvt. Olga heißt hier jede zweite, zu Hause sieht es bei vielen ähnlich wie bei uns aus und wir teilen mehr oder weniger die gleichen Werte. Auch wenn ich dort als unverheiratete 24-Jährige nicht nur eine Besonderheit, sondern gleich eine alte Jungfer bin.

Und doch bin ich einen Schritt näher an meinem Selbst. Beim Abschiedsessen sagt eine meiner Tanten: „Ich hoffe, es hat dir wenigsten ein bisschen gefallen“. Anscheinend war meine zwischenzeitliche Zerrissenheit nicht nur für mich zu spüren. Ich sage ihr, in ganzer deutscher Höflichkeit„Ich hatte eine wundervolle Zeit“.

 

*Auch diesmal waren Helene Fischer Titel eine Inspirationsquelle für mich. Danke dafür Helene!

Artikelbild: Sergey Prokudin-Gorsky | flickr | CC by 2.0

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