Das Foto zeigt Jasmin Dickerson. Sie hat lange rotbraune Haare, trägt eine Brille, einen gelben Pullover und sitzt auf einer gelben Couch.
Die Autorin Jasmin Dickerson wünscht sich mehr Bewusstsein für Neurodiversität. Foto: privat

Ein Spektrum ist keine Skala – Die Gefahr von Geschlechterklischees bei der Diagnostik von ADHS und Autismus


Unsere Autorin wurde erst als Erwachsene mit ADHS und Autismus diagnostiziert. Heute weiß sie, dass ihr Leben sehr anders verlaufen wäre, wenn sie diese Diagnosen früher erhalten hätte. Für andere Mädchen und Frauen mit neurodivergentem Gehirn wünscht sie sich mehr Wissen über Neurodiversität, insbesondere abseits von Geschlechterstereotypen.

Ich kann mich an vieles aus meiner Kindheit gut erinnern: unsere erste Wohnung in Frankfurt-Ginnheim, den ersten Tag im neuen Kindergarten im Saarland nach unserem Umzug und dass ich damals schon lesen konnte. Ich habe mich gleich auf die Bücher gestürzt und meine Mutter beim Verabschieden gar nicht mehr registriert. Da war ich vier Jahre alt.

Gelesen habe ich aber schon mit zwei oder drei Jahren. Aufgefallen war das meiner Mutter im Auto, als ich in meinem Kindersitz das Wort „Umleitung“ quäkte, woraufhin sie sich furchtbar erschrak. Wenn man meine Mutter fragt, wie ich als Kind war, erzählt sie immer, dass ich willensstark, aber auch furchtbar schüchtern und ängstlich war; dass ich nie kuscheln wollte, dafür aber sehr früh diskutieren und nein sagen konnte. „Warum“ war eines meiner liebsten Worte. Und bei lauten Geräuschen habe ich mir immer die Ohren zugehalten.

Meine Mutter sagt, ich sei wortgewandt und wissbegierig gewesen, motorisch hingegen weit zurück. Ich bin nicht sicher gelaufen und ständig hingefallen. Feinmotorisch bin ich bis heute nicht besonders gut: Ich kann zum Beispiel nicht Fahrrad fahren und habe spät schwimmen gelernt. All diese Dinge können besonders in Kombination auf eine Neurodivergenz bei Kindern hinweisen. In meinem Fall sind das ADHS und Autismus. Diese Diagnosen hatte ich zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht. Früher wurden ADHS und Autismus nicht zusammen diagnostiziert, da nach damaligem Forschungsstand die eine Diagnose die andere ausschloss. Mittlerweile ist das aber widerlegt: Heute erhält ein hoher Prozentsatz der autistisch diagnostizierten Menschen später noch eine ADHS-Diagnose, und umgekehrt.

ADHS wie Autismus sind, anders als viele denken, keine psychischen Störungen, die im Laufe des Lebens erworben werden, sondern angeborene sogenannte neurologische tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Deshalb kann auch die Diagnostik nicht in jeder Psychotherapie-Praxis erfolgen, sondern muss an dafür vorgesehenen Stellen mit entsprechender Expertise stattfinden.

Die Diagnostik ist kompliziert, in Teilen veraltet und vor allem langwierig, mit teils jahrelangen Wartezeiten, besonders für Erwachsene, da man früher vor allem bei ADHS davon ausging, dass sich die Störung „verwächst“. Auch das ist mittlerweile widerlegt. Problematisch wird die Diagnostik vor allem, wenn Fachpersonal nicht auf dem neuesten Stand ist und nach einem Symptomkatalog vorgeht, der bei Spektrumstörungen keinen Sinn macht, denn: Ein Spektrum ist keine Skala.

Die vielen Regeln, die ich nicht verstanden habe

Meine Mutter sagt, ich sei ein glückliches Kind gewesen, bis ich in die Schule kam. Ich erinnere mich noch gut an die Grundschule. An die vielen Regeln, die ich nicht verstanden und an die Schubladen, in die ich nicht reingepasst habe. In meinem ersten Zeugnis standen zwar nur gute Noten, allerdings wurde damit gedroht, dass ich der Schule verwiesen werde, wenn ich nicht lerne, mich zu mäßigen und mich an Regeln zu halten. Ich war verhaltensauffällig, habe diskutiert und bekam „Wutanfälle“, die eigentlich autistische Meltdowns waren.

Der Unterschied von einem Wutanfall zu einem autistischen Meltdown mag zwar von außen schwer erkennbar sein, jedoch ist bei einem Meltdown nicht Wut, sondern Verzweiflung und Überforderung der Träger: Meltdowns sehen bei jeder autistischen Person anders aus. Bei mir kocht alles über, ich bin nicht mehr in der Lage gut zu kommunizieren und rede immer schneller, bis ich anfange zu schreien oder zu weinen. In schlimmen Fällen schlage ich mir gegen den Kopf und beiße mich selbst.

Während der Schulzeit habe ich mich Regeln widersetzt und kannte keinen „Respekt“ vor Autoritäten. Oft geschah das aus Überforderung oder weil ich den Sinn in der Regel nicht gesehen habe. Meine Mitschüler*innen soll ich zu Unfug „angestiftet“ und den Unterricht wiederholt gestört haben. Also meldete meine Mutter mich beim Sozialpädiatrischen Dienst an: meine erste Diagnostik. Da ging es aber nur darum, meinen IQ herauszufinden, wegen Verdacht auf Hochbegabung. Der Verdacht bestätigte sich, geändert hat diese Diagnose aber nichts. Es gab weiterhin massive Probleme in der Schule, weil ich mich langweilte.

Auch in der Betreuung traten Schwierigkeiten auf, da ich mich nicht „benehmen“ konnte und ein gestörtes Essverhalten zeigte; ich konnte bestimmte Nahrungsmittel oder deren Zubereitungsweise nicht ertragen. Das führte oft zu Strafen wie Nachsitzen, bis ich den Teller leer gegessen hatte, oder dem Lösen eines Puzzles. Wegen fehlender Feinmotorik und eingeschränktem räumlichem Einschätzungsvermögen (und vermutlich, weil ich ein Kind war) waren Puzzles mitunter das Schwierigste, was man mir vorlegen konnte – das ist bis heute so. Mit der „Diagnose“ Hochbegabung wurde ich zunehmend als hochnäsig und arrogant betitelt. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht einmal sieben Jahre alt.

Keine Hilfe, keine Erleichterung und schon gar keine Diagnose

Meine Ausbrüche und all meine Defizite wurden schließlich auf meine alleinerziehende Mutter geschoben. Als Hilfe wurde ihr angeboten, mit mir für mehrere Wochen in die psychiatrische Kinderklinik zu gehen. Meine Mutter konnte sich jedoch nicht so lange frei nehmen, wie es für einen solchen Aufenthalt nötig gewesen wäre. Das Verhältnis zu meiner Mutter litt massiv unter dieser Last. Niemand wusste, was mit mir „nicht stimmt“, also gab es keine Hilfe, keine Erleichterung und schon gar keine Diagnose.

Als ich nach der Grundschule auf dem Gymnasium scheiterte und aus dem Internat, das zum Gymnasium gehörte, ausziehen musste, wurden die Konflikte zu Hause immer unerträglicher. Meine Ausbrüche und Meltdowns waren für meine Mutter nicht mehr tragbar. Also holte sie sich Hilfe beim Jugendamt. Die Empfehlung: eine betreute Wohngruppe für Kinder und Jugendliche. Gesagt, getan. Ich musste mit 14 Jahren von zu Hause ausziehen und mit schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen zusammenleben. Mittlerweile wurde ich auf der Hauptschule, die ich nun besuchte, stark gemobbt und hatte jeden Tag Angst, zur Schule zu gehen. Was meine Mutter und ich stattdessen gebraucht hätten, wären eine Diagnose und die zugehörigen Hilfen gewesen. Einen Pflegegrad, eine Schulhilfe, Verständnis und Inklusion. Stattdessen wurde ich in einer Wohngruppe geparkt, ohne Therapie, ohne Perspektive und ohne zu wissen, warum ich bin, wie ich bin. Die Schule habe ich schließlich ohne Abschluss verlassen.

Was folgte, waren Jahre der Verzweiflung und Desorientierung mit Drogen, Alkohol und Klinikaufenthalten. Meinen 18. Geburtstag habe ich in einer psychosomatischen Kurklinik gefeiert. Diagnostiziert wurden Depressionen, Angst, eine Panikstörung und eine „emotionale Entwicklungsstörung“. Trotz der offensichtlichen Symptome hat nie jemand ADHS oder gar Autismus erwähnt. Ich bin also weiterhin ständig angeeckt, mir wurden Aggression, Tyrannei und Hysterie unterstellt und mir wurde wiederholt gesagt, ich solle mich ändern, nicht so faul sein, ich könnte, wenn ich wollte, ich wolle nur nicht genug. Deshalb würde ich auch ständig scheitern.

Das veränderte mich. Ich wusste nicht, wer ich bin, kannte meine eigenen Grenzen nicht und begann, mich zu hassen. Ich fühlte mich nirgends zugehörig und furchtbar einsam. Auch unter Menschen. Also baute ich mir eine Persönlichkeit auf, die andere erträglicher oder zumindest leichter verständlich fanden. Und weil ich nicht das stille angepasste Mädchen spielen wollte, wurde ich zur Rebellin, habe alles und jede*n abgelehnt, und zwar lautstark. Das war meine Persona: laut, wütend, herausfordernd, frech und aufmüpfig, immer bereit für den nächsten großen Konflikt. Darunter versteckt ein verängstigtes und verstörtes Kind, das nicht versteht, warum es so viel Ablehnung erfährt und was mit ihm nicht stimmt.

Erstmals auf ADHS hatte mich meine Mutter aufmerksam gemacht, als ich etwa 18 Jahre alt war. Sie hatte ein Buch zu dem Thema gekauft. Es sollte trotzdem noch weit bis in meine Zwanziger dauern, bis ich mich intensiv mit ADHS auseinandersetzte und den Verdacht hegte, dass ich neurodivergent sein könnte. Zu tief saß bis dahin der Glaubenssatz, dass ich nur faul und unfähig sei, dass eine Diagnose nur eine Ausrede wäre und Leute glaubten, ich wolle mich wichtigmachen. Als ich den Verdacht auf Neurodivergenz irgendwann äußerte, wurde mir auch genau das gespiegelt. Aber nicht ausschließlich: In meinem Freundeskreis fand ich viele Menschen, denen es ähnlich ging. In Berlin hatten wir „rejects“ uns alle irgendwie gefunden, und zum ersten Mal, seit ich denken konnte, fühlte ich mich nicht wie ein Alien unter Menschen. Ich hatte erst einmal keinen Bedarf, mich diagnostizieren zu lassen und auch immer wieder Zweifel, da die autistischen Symptome nicht mit ADHS übereinstimmten.

Genderklischees in der Medizin

Erst als ich Mutter wurde und mit 32 Jahren wieder zurück aus Berlin ins Saarland kam, wo ich die gleiche Einsamkeit und Unzugehörigkeit erfuhr wie zuvor, machte ich mich auf den Weg zur ADHS-Diagnostik. Meine Autismus-Diagnostik wiederum brachte später die Leiterin der Frühförderung meiner Tochter ins Rollen. Sie sprach mich auf das Thema an, da ihre Tochter Autistin ist und sie viele Parallelen bei uns beiden gesehen hatte.

Im Alter von 33 Jahren habe ich die ADHS-Diagnose und ein Jahr später die Autismus-Diagnose bekommen. Als ich endlich wusste, warum ich bin, wie ich bin, habe ich erst einmal getrauert: um die Beziehung zu meiner Mutter, um meine Familie, die um Hilfe, Zuspruch und Unterstützung gebracht wurde, um mein kleines Ich, mein Teenager-Ich und um alle, die so viel leiden mussten, weil niemand sehen wollte und konnte, was immer so offensichtlich war.

Ich frage mich oft, wie es eigentlich sein kann, dass ein so offensichtlich (körperlich wie auch psychisch) verhaltensauffälliges Kind keine Diagnose bekommen hat. Die kurze Antwort könnte lauten: Weil ich weiblich bin und weil Mädchen auch heute noch grundsätzlich andere Verhaltensweisen zugeschrieben werden als Jungs. Auch in der Medizin. Lange wurden Mädchen und Frauen nicht mit ADHS oder Autismus diagnostiziert, weil Fachleute davon ausgingen, dass nur Jungen und Männer ADHS haben oder autistisch sein können. Nicht nur, aber auch deshalb, weil Jungs und Männer anders sozialisiert sind und sich die Symptome oft anders zeigen. So wird Jungen eher zugeschrieben, aggressiver, hyperaktiver, aufmüpfiger zu sein als Mädchen mit ADHS/Autismus. Während Mädchen eher als angepasst, verträumt, tollpatschig und schüchtern gelten. Autistische Jungen gelten als mathematisch interessiert und wortkarg, Mädchen eher nicht.

Diagnostik muss diverser werden

Momentan wird viel über die ADHS- und/oder Autismus-Diagnostik bei Mädchen und Frauen gesprochen. Dass auf andere Dinge geachtet werden muss, weil weiblich sozialisierte Kinder anders auffallen. Und so wichtig ich es finde, die Diagnosekriterien anzupassen, sodass eben nicht nur kleine Jungs diagnostiziert werden, die Züge und Zahlenreihen faszinierend finden und die nicht sprechen: Es ist eben auch wichtig, nicht den Fehler zu machen, statt einer nun zwei gegenderte Stereotypen zu haben, an denen sich zukünftig orientiert wird. So fallen Kinder wie ich eines war wieder durchs Raster. Denn auch wenn ich ein Mädchen war, habe ich nicht verträumt aus dem Fenster geschaut, war ich nicht freundlich und gefügig und bin erst zu Hause eskaliert. Ich wirkte nicht schüchtern und ich war ganz sicher nicht still, leise und in mich gekehrt.

Wenn wir wollen, dass sich etwas an der Diagnostik und den Diagnosekriterien ändert, sollten wir auch hier die „blau-rosa Falle“ bedenken und nicht zu sehr in streng binäre Muster fallen. Es gibt Jungs, die aus dem Fenster schauen, die still und gefügig und trotz-dem neurodivergent sind. Es gibt aggressive und argumentative Mädchen, die neurodivergent sind. Und es gibt noch so viel mehr. Eine Gesellschaft, die inklusiv sein will, muss sich auch in der Medizin und Diagnostik in Richtung Vielfalt weiterentwickeln. Nur dann ersparen wir vielen Menschen, vielen Familien einen so steinigen Weg, wie ich ihn gehen musste.

Könnte ich meinem jüngeren Ich mit dem heutigen Wissen ein paar Dinge sagen, wären das diese: „Du bist nicht falsch, du bist nicht kaputt, du bist liebenswert.“ „Du brauchst bei einigen Dingen Hilfe und Unterstützung, das macht dich weder faul noch anstrengend.“ „Du wirst immer für dich einstehen und kämpfen müssen, aber es wird dich anderen gegenüber empathischer machen, gib nicht auf, es lohnt sich.“ „Ich hab‘ dich lieb. Genauso wie du bist.“

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