Stefanie de Velasco
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Stefanie de Velasco: „Wir sollten die Wechseljahre unbedingt feiern!”

Die Autorin Stefanie de Velasco hat ihr neues Buch „Das Gras auf unserer Seite“ veröffentlicht. Wir sprachen mit ihr darüber, warum Frauen in den Wechseljahren in der Literatur stattfinden müssen.

Nach ihren erfolgreichen Romanen „Tigermilch“ (2013), der für das Kino verfilmt wurde, und „Kein Teil der Welt“ (2019), in dem sie ihre Kindheit bei den Zeugen Jehovas verarbeitet, hat die Autorin Stefanie de Velasco ein neues Buch veröffentlicht: „Das Gras auf unserer Seite“ handelt von drei Frauen, die in den Wechseljahren sind und zudem eine Phase durchleben, in der sie vor wichtigen Entscheidungen stehen. Sie alle wollen sich nicht einfach in das einfügen lassen, was die Gesellschaft nach dem klassischen Rollenverständnis für sie vorgesehen hat. Ein Gespräch mit Stefanie de Velasco über ihr neues Buch, über Freundschaft und Frauen in der Mitte ihres Lebens und warum wir die Zeit der Wechseljahre unbedingt feiern sollten, statt sie negativ zu betrachten.  

Was war der Antrieb für dich, dieses Buch zu schreiben? Was war die Grundidee?   

„Beim Schreiben ist es bei mir immer so, dass Figuren einfach auftauchen. Ich habe während der Corona-Zeit angefangen, dieses Buch zu schreiben, mitten im Lockdown, wo man das Haus nur verlassen durfte, um wichtige Dinge zu erledigen. Weil ich keine Kinder habe, nicht mit meinem Freund zusammenwohne und zudem einen Hund habe, war ich in dieser Zeit eigentlich total frei. Ich konnte das Haus jederzeit verlassen, weil ich mit dem Hund unterwegs war. Gleichzeitig habe ich erlebt, wie gestresst Freundinnen von mir waren. Vor allem die, die in diesem Kernfamilienmodell leben. Gerade in Partnerschaften, die sowieso nicht so besonders gut liefen, eskalierte es regelrecht.   

Ich selbst hatte nie so einen richtigen Kinderwunsch. Irgendwie hat sich das nicht ergeben. In der Corona-Zeit wurde mir dann zum ersten Mal klar, was ich für ein Glück gehabt hatte. Eigentlich wird mir als Frau ja immer suggeriert, dass man es bereuen wird und so. Das Gegenteil passierte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich krass vorgesorgt hatte. Ich fühlte mich wie jemand, der nie mit dem Rauchen angefangen hat.  

In dem Moment wurde mir die Verlogenheit unserer Gesellschaft bewusst. Also nicht nur mir gegenüber, als kinderfreie Frau, sondern auch den vielen Müttern und Vätern gegenüber, diesen Kleinfamilien, denen immer das große Glück versprochen wird. In der Realität ist es oft genau das Gegenteil. “

„Ich wollte drei Protagonistinnen ohne Kinder, aber auch ohne Karriere. “

Stefanie de Velasco, Autorin

In deinem Buch geht es um eine ungewollte Schwangerschaft, um Zweifel und Unsicherheit und den Abschied von der Kindheit, wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden. Trotz dieser schweren Themen ist dein Buch leicht und positiv geschrieben …  

„Ich wollte auch ein ganz leichtes, lustiges Buch schreiben. Ich wollte von vornherein nicht Figuren schaffen, die sich erklären müssen, zum Beispiel, warum sie keine Kinder haben. Also, ein bisschen tun sie das, aber das sind dann überhaupt keine plausiblen Erklärungen. Was soll daran auch plausibel sein? Plausible Erklärungen gibt es meistens nicht. “

Nichtsdestotrotz muss man als Frau immer begründen, warum man keine Kinder hat. Die, die Kinder haben, müssen das nicht.  

„Ja, klar. Aber ich finde, es gibt noch viel mehr, was drumherum problematisch ist. Mein Gott, das ist halt eine dumme Frage. Dann gibt man eben eine Antwort und fertig. Aber dass wir in einer Welt leben, in der die Lebensstile so hierarchisiert sind, finde ich doch sehr, sehr sonderbar. Gerade in unserer vermeintlich freiheitlichen Gesellschaft ist es immer noch so, dass die kinderfreie Frau dann aber bitte eine berufliche Karriere hat. Und auch da war mir von vornherein klar: Ich wollte drei Protagonistinnen ohne Kinder, aber auch ohne Karriere.   

Zudem sollten die Frauen nicht jung sein, sondern in den Wechseljahren. Nicht nur, weil es mein Alter ist, sondern weil sie alle diese Kämpfe im Leben schon für sich entschieden haben. Und der Roman beginnt quasi wie auf dem Berg der Versuchung. Wie bei Jesus, dem noch mal alle irdischen Königreiche vom Teufel angeboten werden. Und er lehnt dankend ab. Auch den Frauen im Buch wird alles, die Mutterschaft, die Kernfamilie, alles wird ihnen noch mal so auf dem Silbertablett serviert.“

Ein wichtiger Moment in deinem Buch ist diese großartige Freundinnenschaft. Und das, obwohl du eher an eine Liebesgeschichte gedacht hattest, als du anfingst zu schreiben …   

„Es ist eigentlich auch ein Liebesroman – zwischen drei Freundinnen. Die Frage ist ja: Was ist Liebe? Die romantische Liebe existiert noch gar nicht so lange. Sie wurde durch Literatur, durch Musik und durch Theater geformt. Durch einen Werther oder Kabale und Liebe und Effi Briest. Das sind Texte, die zur damaligen Zeit ganz revolutionär waren. Ich glaube aber, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem die romantische Liebe noch mal hinterfragt wird, weil sie sich selbst geißelt. Unter diesem Romantikdiktat findet ganz viel Unterdrückung statt. Es ist ein heteronormatives Diktat, das auch ein Kinderdiktat und ein Fürsorgediktat beinhaltet, was die Mutterschaft angeht. Und viele Menschen fühlen sich sehr unfrei darin.   

Das ist nichts, was ich mich so frage, während ich schreibe. Das kommt eher aus so einem Gefühl. Aber im Nachhinein, wenn man das Buch dann fertig hat, dann denkt man sich natürlich schon: Ich möchte eigentlich eine neue Form der Liebe erzählen. Und ich möchte Lebensstile, die normalerweise abgewertet werden, ästhetisieren. Ich möchte sie mit Glanz überziehen. Ich möchte sie feiern. Ich möchte ihnen den Goldstatus geben, den sie meiner Meinung nach verdient haben.“

„Ich möchte Lebensstile, die normalerweise abgewertet werden, ästhetisieren. Ich möchte sie mit Glanz überziehen.“

Stefanie de Velasco, Autorin

Eine deiner Protagonistinnen, Kessie, muss ihre Mutter ins Pflegeheim bringen und das Elternhaus auflösen. Auch das ist eine Phase, in der wir in der Mitte des Lebens stecken. War dir das ein wichtiger Aspekt in deinem Buch? Dieses Loslassenmüssen in mehrfacher Hinsicht, von der Kindheit, von den eigenen Eltern?   

„Ja, das ist ein besonderer Moment. Das ist der letzte Akt des Erwachsenwerdens. Wenn die Eltern alt werden, krank werden, wenn sie versterben, ist man halt kein Kind mehr. Man ist niemandes Tochter oder niemandes Sohn mehr. Ich weiß nicht, ob loslassen der richtige Begriff ist. Ob Kessie es so nennen würde. Es gibt diese Szene, und damit endet dann eigentlich auch die Geschichte von Kessie und ihrer Mutter, wo die Mutter sagt: ,Du hast eigentlich alles richtig gemacht. Gut, dass du allein bist.‘ Und dann umarmen sie sich und sie hat das Gefühl, sie können zum ersten Mal beide aus ihren Rollen heraus. Kessie ist nicht die Tochter und Dolores nicht die Mutter, sondern sie sind einfach nur Kessie und Dolores.   

Und das ist glaube ich so ein Moment, der uns dann noch mal auf eine andere Art und Weise erwachsen macht, in einer Zeit, in der wir es eigentlich schon lange sind. Was bedeutet Erwachsenwerden, Coming of Age, Adoleszenz? Was bedeutet das? Gerade diese Zeit der Wechseljahre: Findet dort nicht auch eine Reife statt? Und ist das nicht so viel mehr als nur, dass man nicht mehr reproduktiv ist? Die Pubertät und die Wechseljahre sind zwei Ereignisse, die einen in ein ganz neues Leben bringen. Und das ist ein Wendepunkt, der literarisch natürlich immer sauinteressant ist. “

Du hast mir gerade eine positivere Sicht auf die Wechseljahre gegeben.   

„Ja, ich bin mir ganz sicher: Wenn wir das alles hinter uns haben, wird es genau wie mit der Pubertät sein. Auch da geht es uns nicht gut. Wir sind depressiv, wir kriegen Pickel, unser Hormonhaushalt spielt verrückt. Und da hieß es immer: ,Keine Sorge, du wirst jetzt zur Frau. Das ist voll toll und so.‘ Aber nie hat mir jemand gesagt, wie problematisch das auch ist. Dieser sexualisierte Blick, dieser Male-Gaze, auch die Menstruation sind ja wirklich nichts Tolles. Ich kenne keine einzige Frau, die sagt: ,Boah, es ist so geil, ich liebe es zu menstruieren. Ich kriege wieder meine Tage.’ Und jetzt, in den Wechseljahren hört das auf.  

Auch die Mütter, die ich kenne, freuen sich darauf. Dann sind die Kinder endlich erwachsen. Sie selbst haben wieder Zeit für sich. Eigentlich sind die Aussichten großartig. Gerade für die Leute, die Kinder haben.  

Die Wechseljahre sind viel besser als das, was uns suggeriert wird. Man ist auf jeden Fall reifer. Und es ist eine Zeit, in der man auf einmal kurz zurückgeworfen wird. Aber dann auch anfängt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und das müssen wir sowieso, weil sie fünf bis zwölf Jahre andauern. Das ist ähnlich lang wie die Pubertät. “

Ehrlich gesagt: Ich war gar nicht vorbereitet und informiert, was die Wechseljahre angeht. Wie war das bei dir? Fühltest du dich vorbereitet auf das, was da als Frau auf einen zukommt?  

„Auf die Pubertät wird man von klein auf vorbereitet, allein schon, wenn man im Badezimmer die Tampons der Mutter findet. Man wird auch auf der popkulturellen Ebene eingestimmt. Es gibt dieses Coming-of-Age, es gibt Teenagerfilme, Teenagerbücher und so weiter. Bei den Wechseljahren ist das gar nicht so. Mir ging es nur scheiße, das kann man nicht anders sagen. Ich hatte furchtbares PMS. Die erste Zyklushälfte war Dr. Jekyll, die zweite Zyklushälfte Mr. Hyde. Ich habe mich unheimlich viel gestritten, nicht nur mit meinem Freund, sondern auch in meinem Umfeld. Ich habe sehr unter diesem Zustand gelitten, bis ich dann nach und nach erfahren habe, dass das eben auch Wechseljahrssymptome sein können. Das war ein totaler Wake-up-Moment. “

Und gab es seitens deiner Gynäkologin Informationen und Beratung? 

„Die Erfahrung, die ich mit meiner Gynäkologin gemacht habe, was das Thema Wechseljahre angeht, war sehr ernüchternd. Ich war gerade erst vor ein paar Wochen da und habe einfach mal so aus Spaß, denn mir geht es momentan ganz gut, am Ende der Behandlung gesagt: ,Auch was die Wechseljahre angeht, fühle ich mich gerade ganz okay.’ Und sie hat mich nur angeguckt und gesagt: ,Ja, also mit 50 ungefähr setzt die Periode aus.’ Das war alles. Wohlgemerkt, sie ist eigentlich eine gute Gynäkologin. “

Wie können wir es denn schaffen, dass alle Frauen frühzeitig die nötigen Informationen bekommen und wie holen wir idealerweise auch die Männer direkt mit ab? Ich glaube, du hast mal vorgeschlagen, dass wir ein Fach zum Thema Wechseljahre in der Schule haben sollten. Oder zumindest das Fach „Älter werden“.  

„Ja, älter werden… Die Wechseljahre gehören ja dazu. Es gibt eine Szene in meinem neuen Roman, in der sich zwei Figuren darüber unterhalten und die eine sagt, eigentlich brauchen wir das Fach ,Tod und Sterben’. Aber ich denke, wir brauchen auch das Fach ,älter werden’. Im Grunde werden wir mit so vielen Themen allein gelassen, die so wichtig sind. Denn gerade, was das Thema Wechseljahre angeht, ist es nicht nur die biologische Veränderung, sondern mehrere Umweltfaktoren. Damit meine ich, in was für einer Situation sich eine Frau befindet? Wie viele Kinder hat sie? Hat sie Kinder? Lebt sie getrennt? Lebt sie alleinerziehend? Oder hat sie vielleicht auch Angehörige, die sie pflegen muss? Das fällt oft mit in diese Zeit hinein. Es ist eine Mehrfachbelastung, während sich zugleich der eigene Körper verändert. Und da habe ich mich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich ,älter werden‘ gelernt hätte – also anstatt Kurvendiskussion oder sowas.“

„Im Grunde werden wir mit so vielen Themen allein gelassen, die so wichtig sind.“

Stefanie de Velasco, Autorin

Ist dein Buch also ein Buch für Frauen in den Wechseljahren?  

„Was ich schreibe, ist am Ende immer das, was ich selbst lesen möchte. Und ich habe mich umgeguckt und gedacht: Wo sind denn diese Geschichten für die Frauen in dieser Lebensphase? Wo sind diese haarigen, bissigen Geschichten? Ich will diese Werwolf-Verwandlung sehen, die da passiert. Und ich möchte das auch nicht als Störung erzählt bekommen, sondern als einen integrativen Teil sehen, den Frauen in dieser Gesellschaft immer unterdrücken müssen und der sich dann vielleicht in dieser Zeit umso ‚wolfiger‘ Bahn bricht. Ich finde schon, dass wir Autor*innen und Künstler*innen uns viel mehr dieser Zeit widmen sollten, dass wir sie mit Glanz überziehen und nicht abwerten sollten. “

Mir ging es beim Lesen ähnlich. Ich dachte, das ist das erste Buch, in dem es um mich geht, um meine Lebenswirklichkeit. Das findet viel zu selten statt.   

„Ja, man müsste eigentlich parallel zu diesem ‘Coming of Age’ sowas wie ‘Coming again’ oder ‘Becoming Age’ machen. Mir ging es genauso. Ich habe mich überhaupt nicht gesehen in den Geschichten, die es so gibt. Das betrifft ja nicht nur die Literatur, sondern auch Film und Fernsehen. Diese Zeit im Leben von Frauen rund um die Wechseljahre wird einfach nicht abgebildet. Das ist etwas, das ich mir wünsche. Und als Autorin muss ich natürlich selbst als erstes damit anfangen. Und der Zuspruch, den dieser Roman erfahren hat, der gibt mir auch recht. Und das freut mich natürlich umso mehr. “

Du hast mal von einer Orka-These in Bezug auf die Menopause geredet. Was hat es damit auf sich?  

„Es gibt wenige Spezies, die in die Wechseljahre kommen. Orka-Wale gehören dazu. Sie durchleben ebenfalls eine Menopause und leben danach noch 20 bis 30 Jahre als postmenopausale Weibchen. Diese Wale leben in größeren Gruppen, und diese Gruppen werden immer von postmenopausalen Weibchen angeführt. Und als ich das gelesen habe … war mir alles klar! “

Was wünschst du dir für junge Frauen, die die Wechseljahre noch vor sich haben?  

„Ich wünsche mir für die jungen Frauen, dass sie darauf viel besser vorbereitet werden. Dass die Wechseljahre so eine Selbstverständlichkeit werden, wie für Kinder die Pubertät. Das sie auch etwas sind, das dieses Pathologische verliert. Dass man ihnen nicht sagt: Das ist eine furchtbare Zeit, die da auf euch zukommt. Sondern: Es ist eine Verwandlung in eine andere Person, die euch wieder in einen neuen Lebensabschnitt führt, der ganz viel Abenteuer und ganz viel Aufbruch und Autonomie mit sich bringt. Das würde ich mir wünschen.“

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