Gruppen von Menschen, die eng zusammensteht und Rufe von sich gibt.
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Verbinden statt spalten: Autoritären Erzählungen etwas entgegensetzen

Die Journalistin Gilda Sahebi beobachtet, wie spalterische Narrative von „gut“ und „böse“ die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland verstärken. Und sie warnt davor, dass die Aufteilung von Menschen in konstruierte Gruppen radikalen und autoritären Kräften weiteren Aufwind verschafft.

Ich war in den letzten Wochen viel in Deutschland unterwegs. Lesungen, Veranstaltungen, Vorträge. Eines bleibt mir besonders in Erinnerung: Wie viele Menschen es in diesem Land gibt, die sich dafür einsetzen, Menschen zusammenzubringen, anstatt sie auseinanderzutreiben. Die sich in ihrer Gemeinde, in ihrer Stadt engagieren, sich um benachteiligte Gruppen kümmern, sich für Frauenrechte einsetzen, die diskutieren und zuhören. Und jedes Mal, wenn ich diese Menschen kennenlerne, denke ich mir: Was für ein Kontrast zu den Debatten, die wir in Deutschland führen; und zur Politik, die gemacht wird.

Denn hier scheint nicht viel zusammenzukommen. Auf der politischen und medialen Ebene wird zurzeit hektisch analysiert, warum eine Kraft wie die AfD immer stärker zu werden scheint. Bei der Europawahl im Juni 2024 landete die menschenfeindliche Partei nach CDU/CSU auf dem zweiten Platz. Ob früher oder später – die AfD wird zuerst auf Landesebene und irgendwann auch auf Bundesebene nach der Regierungsmacht greifen. Das Ergebnis der AfD sei „viel zu hoch“, schrieb der bayerische Ministerpräsident Markus Söder nach der Europawahl. Eine Erklärung lieferte er gleich mit: „Der Grund ist die Migrationspolitik der Ampel.“

Der CSU-Politiker vertritt damit keine Einzelmeinung. Politiker*innen aller Parteien erklären den Erfolg der AfD in Deutschland mit einem „linken“ oder „woken“ Zeitgeist, mit dem Heizungsgesetz oder der Migration. Schuld sind, natürlich, immer die anderen. Diese Erzählung funktioniert aus demselben Grund gut, der auch die AfD stark macht: Die Spaltung von Menschen aufgrund verschiedener Projektionen. Eine ganze Gesellschaft wird so in verschiedene „Lager“ geteilt, die je nach Perspektive „gut“ oder „böse“ sind.

Dieses Narrativ ist in unseren politischen und gesellschaftlichen Debatten allgegenwärtig. Natürlich wird es nur selten explizit ausgesprochen. Es wird umschrieben, es werden scheinbar „vernünftige“ Gründe gesucht, die eine derartige Erzählung rechtfertigen. Ein Beispiel, bei dem das besonders deutlich wird: Debatten um Sozialleistungen. Da heißt es oft, dass Erleichterungen für Menschen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen – weniger Sanktionen, höhere Sätze – ein „Schlag ins Gesicht“ jener seien, die arbeiteten. Die „Ehrlichen“ seien die „Dummen“, so drückte es eine Unternehmerin einmal aus.

Schuld sind immer die anderen

Nun mögen solche Aussagen auf den ersten Blick logisch erscheinen. Das ist doch unfair, könnte man denken. Man muss sich allerdings auch klarmachen, was hinter dieser Erzählung steckt. Nämlich die Aufteilung von Menschen in konstruierte Gruppen. Hier die „Ehrlichen“, dort die „Unehrlichen“. Hier die „Fleißigen“, dort die „Faulen“. Hier die, die „leisten“, und dort die, die „nicht leisten“. Daraus wird geschlussfolgert: Wenn es anderen besser geht, geht es mir schlechter. Oder: Erst, wenn es den „Faulen“, den „Bösen“, schlechter geht, geht es mir besser. Das ist eine bizarre Erzählung. Und sie ist nicht wahr. Man könnte auch sagen: Wenn es einem Menschen in der Gesellschaft besser geht, geht es der ganzen Gesellschaft besser. Stattdessen wird das gesamte Wesen von Menschen auf eine einzige Identität reduziert.

Zum Beispiel bei den Debatten über Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023, dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, bei dem mehr als 1200 meist jüdische Menschen auf grausamste Art und Weise ermordet wurden. Es wäre eine Zeit gewesen, in der es besonders wichtig gewesen wäre, Menschen zusammenzubringen. Stattdessen erklärten Politiker wie Robert Habeck oder Frank-Walter Steinmeier allen Muslim*innen in Deutschland, sie müssten sich von der Hamas distanzieren, CDU-Politiker forderten, Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit den deutschen Pass zu entziehen, wenn sie antisemitische Straftaten begehen. Anstatt antisemitische Denkmuster zu bekämpfen, wird bis heute Millionen von Muslim*innen und eingewanderten Menschen attestiert, dass sie kein gleichwertiger Teil der Gesellschaft sind. Sie werden als „böse“ markiert. Nie explizit, immer implizit.

Derweil malen Menschen Hamas-Dreiecke an Universitätswände und rufen zur Gewalt gegen Jüdinnen und Juden auf – und glauben, damit Palästinenser*innen zu helfen oder sogar antirassistisch zu sein. Anstatt gegen einen brutalen Krieg mit Zehntausenden Toten in Gaza zu demonstrieren, projizieren sie ihren Hass ausgerechnet wiederum auf eine marginalisierte Gruppe, nämlich Jüdinnen und Juden. Diese Menschen sind überzeugt davon, recht zu haben und für die „gute“ Sache zu kämpfen. Und fallen doch nur auf menschenfeindliche, antisemitische Erzählungen herein. Wenn Minderheiten gegeneinander ausgespielt werden, stärkt dies autoritäre Narrative. Es erlaubt eine gewaltvolle Politik der Ausgrenzung, der Abschiebung und Trennung.

Das Primat der Narrative

Geschichten der Spaltung haben historisch gesehen immer gut funktioniert. Und sind immer wieder Motor für den Aufstieg autoritärer und radikaler Kräfte. Auch nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Mannheim im Juni 2024 erlangten die immer gleichen Narrative rasch die Oberhand. Ein Afghane hatte eine Gruppe von Menschen angegriffen und einen Polizisten schwer verletzt. Der 29-jährige Polizist Rouven Laur starb kurze Zeit später. Es ist wichtig, dass es viel Anteilnahme gab; die Familie des Verstorbenen bedankte sich dafür in einem Brief, der auf der Trauerfeier verlesen wurde. In diesem Brief schrieben sie außerdem: „Rouven hätte nicht gewollt, dass wir uns von Hass und Wut überwältigen lassen.“ Es ist beeindruckend und berührend, dass Menschen in ihrem tiefsten Schmerz zu solch einer emotionalen Großzügigkeit in der Lage sind.

Das hielt andere aber nicht davon ab, den Tod des jungen Mannes für die eigenen Narrative zu nutzen. Die AfD rief zu Demonstrationen auf, markierte „die Afghanen“, „die Geflüchteten“ und „die Eingewanderten“ als „böse“. Es dauerte nicht lange, bis demokratische Politiker*innen sich dieses Narrativ zu eigen machten. Sofort wurde die Abschiebung von Straftätern nach Afghanistan und Syrien gefordert, unter anderem von Bundeskanzler Olaf Scholz. Dass es aller Wahrscheinlichkeit nach kontraproduktiv für die Sicherheitslage wäre, wenn Islamisten mit guten Kenntnissen über Deutschland in einem anderen Land frei herumlaufen, als in einem Gefängnis in Deutschland zu sitzen, soll hier gar nicht thematisiert werden. Es gilt das Primat der Narrative. Erzählungen schlagen Fakten. Und die Erzählung von den „schlechten“, „faulen“ und „bösen“ „Ausländern“ ist in Deutschland sehr mächtig. Das Individuum spielt, wieder einmal, keine Rolle.

All das geschieht nicht im luftleeren Raum. Gewalt gegen Jüdinnen und Juden hat signifikant zugenommen. Gewalt gegen Geflüchtete hat signifikant zugenommen. Gewalt gegen Politiker*innen und Engagierte hat zugenommen. All das ist das Ergebnis von Mauern, die gebaut werden. Die Menschen voneinander trennen sollen – nach Leistung, nach Ethnie, nach Religion, nach politischer Einstellung. Diese Erzählungen schaden allen. Auch den vielen Menschen, die sich gegen menschenfeindliche Erzählungen engagieren. Autoritäre Kräfte sind die einzigen, die in dieser Situation zufrieden sind.

Es gibt keine einfache Antwort darauf, wie diese Erzählungen verändert werden können. Erzählungen zu verändern, ist ein Prozess. Der erste und wichtigste Schritt: Die Erzählungen zu erkennen. Dann kann man sich an die Arbeit machen, sie zu verändern. Es gibt in jeder Gesellschaft genügend Menschen, die diesen Weg gehen möchten. Die wissen, dass Menschen mehr verbindet, als sie trennt. Der Weg ist nicht einfach. Aber es könnte sich lohnen, ihn zu gehen.


Über die Autorin: Gilda Sahebi ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Ihr journalistisches Volontariat absolvierte sie beim Bayerischen Rundfunk, als freie Journalistin arbeitet sie mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die »taz« und den »Spiegel« und arbeitet unter anderem für die ARD. Ihre Bücher „»Unser Schwert ist Liebe« Die feministische Revolte im Iran“ und „Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten“ erschienen 2023 und 2024 beim S. Fischer Verlag.

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