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Nein zu sagen fällt Mädchen oft schwer – aber das lässt sich lernen!

Mädchen fällt es meist schwerer als Jungs, die Erwartungen anderer zu enttäuschen. Wie können sie lernen, besser für sich einzustehen? Eine Leiterin für geschlechtsspezifisches Sozialtraining berichtet aus der Praxis.

 

Aus der Praxis: geschlechtsspezifisches Sozialtraining

„Und dann muss ich den Baum ficken.“

„Du musst was?“

„Den Baum ficken.“

Gut, zumindest akustisch scheint der Satz bei mir richtig angekommen zu sein. Während er auf der Suche nach Referenzerfahrungen – leider völlig erfolglos – durch meine Hirnareale jagt, schauen mich zwölf Mädchenaugenpaare flehend und vertrauensvoll an.  Äußerlich gelassen stelle ich die nächstliegende Frage, die hoffentlich mehr Klarheit bringt.

„Wie geht denn das, einen Baum ficken?“

Diese Frage bringt reichlich physischen Schwung ins Geschehen. Einige der
Mädchen halten imaginäre Baumstämme zwischen den Händen und bewegen
rhythmisch ihre Hüften. Auch die Akustik kommt nicht zu kurz. 

„Wir müssen dabei stöhnen“ kommentiert M. das Geschehen, und tut das auch gekonnt. 

Ich atme innerlich tief durch.

Was die Kinder lernen sollen: Wie nehme ich wahr, wie es mir selbst geht?

Geschlechtsspezifisches Sozialtraining einer vierten Klasse. Eine Grundschule irgendwo in Baden-Württemberg. Das Programm umfasst zehn Einheiten à 120 Minuten. Wir steigen mit einem gemeinsamen Auftakt der ganzen Klasse ein, dann arbeitet mein männlicher Tandempartner mit den Jungs, mein Part sind die Mädchen. Wir schauen mit ihnen auf die großen Emotionen: Trauer, Wut, Angst, Scham, Freude.

Wie kann ich mich mitteilen und was kommt davon an? Was sind  meine
Handlungsstrukturen? Meine Rolle in der Gruppe? Wie gehe ich mit Erwartungen, innerem und äußerem Druck, Enttäuschungen und meinen
eigenen Ansprüchen um? Welche Wahlmöglichkeiten habe ich? Was macht mich
glücklich? Die Einheiten beinhalten eine Art Wahrnehmungsschulung mit vielen
Übungen aus der Theaterpädagogik, im Anschluss gibt es dann eine
Reflexion.  

Tja und da sind wir nun – mitten in der dritten Einheit.  Wir sprechen über das Neinsagen. Den Mädchen fällt  sofort eine Situation dazu ein. In den Pausen spielen sie mit den Jungen „Wahrheit oder Pflicht“. Und wenn ein Mädchen nicht die Wahrheit über die große aktuelle Liebe seines Lebens preisgeben will, fordern die Jungen die Pflicht: den Baum im Pausenhof ficken. Klar, was auch sonst!?

Über den Erwartungsdruck und die eigenen Grenzen

Für mich ist das eine exzellente Steilvorlage, um mit den Mädchen über ungute Gefühle, unangenehmen Erwartungsdruck und die eigenen Grenzen zu sprechen

Und auch über die seltsamen und ungewohnt neuen Gefühle, die in ihnen an
der Schwelle zur Pubertät auftauchen. Neugier, erstes Verliebt sein, ein Prickeln bei manchem Körperkontakt, dabei gleichzeitig große Scheu und Angst vor dem Neuen und manchmal Ekel, wenn es Grenzen überschreitet.

„Du möchtest das nicht?“ frage ich L. – die es als Erste angesprochen hat.

„Nein.“

„Du könntest nein sagen.“ schlage ich vor.

 „Nein. Ich muss, ichmussichmussichmussichmuss.“

„Warum hast du das Gefühl, dass du das tun musst?“

Es ist schwer, eine Spielverderberin zu sein

Wir schauen uns dann in Ruhe an, warum wir – Mädchen und Frauen – so oft
meinen, etwas tun zu müssen, das wir nicht wollen. Und die Mädchen
wissen, nach ein bisschen Überlegen, sehr genau Bescheid, warum das so ist:

„Weil ich keine Spielverderberin sein will.“

„Weil ich sonst vielleicht nicht mehr mitspielen darf.“

„Weil mich die anderen dann vielleicht doof finden.“

„Weil es ja alle machen.“

„Weil sie mich dann vielleicht nicht mehr mögen.“

Damit liegen die Ängste, die uns hindern ein klares, bestimmtes Nein zu sagen, auf dem Tisch. Ein Nein das nicht gegen jemanden gerichtet ist, sondern ganz allein unserem inneren Gefühl der Stimmigkeit entspricht. Wir überlegen, wie sie mit diesen Ängsten umgehen können, was ihnen helfen würde und wie sie das in Zukunft handhaben möchten. Wir können sogar noch auf die prickelnde Lust schauen, die dieses aufregende Spiel ebenfalls in ihnen auslöst. 

Mädchen sind ungeübt darin, Erwartungen zu durchbrechen und unbequem zu sein

Und die möglichen Folgen lösen Ängste aus. Sie haben gelernt hinzuspüren,
was von ihnen erwartet wird und verhalten sich regelkonformer als die Jungen. In all den Jahren, in denen ich Schulklassen mit verschiedenen Projekten begleite, sind es mehrheitlich die Jungen, die Regeln brechen und sich Strafen einhandeln, während die Mädchen sich mehrheitlich bemühen, allem und allen gerecht zu werden. Die Jungen lernen, dass von ihren Eskapaden die Welt nicht untergeht; die Mädchen lernen, dass sie gelobt werden, wenn sie brav sind.

„Wie ist das mit den Jungs?“ frage ich sie. „Haben sie auch so große Probleme nein zu sagen?“

„Nein!“ ein Stimmenchor tönt mir entgegen. Da sind sich die Mädels sicher. Die
Jungs können ausgezeichnet nein sagen. Jedenfalls viel besser als sie.

Da können wir also etwas von ihnen lernen. Und das ist unser Plan!

Im Zuge dieses Gesprächs benennen die Mädchen dann noch die Dinge, die sie im Schulalltag neben den harten Pflichten im Spiel wütend und hilflos machen: dass die Jungs das Tor in jeder Pause ganz selbstverständlich für sich
beanspruchen und in den Schulstunden bei jeder falschen Antwort eines
Mädchens ihren Namen verhöhnen.

Mit großer Klarheit erkennen diese noch nicht einmal Zehnjährigen, dass sie
zwar an ihrer Haltung arbeiten können, dass sich die Probleme jedoch gemeinsam mit den Jungs besser lösen lassen müssten und
fordern ein Gespräch mit diesen. Ich teile das meinem Kollegen nach der
Einheit mit einem Lächeln und leichten Bauchschmerzen mit. Das wird
spannend…

Ende erster Teil, Fortsetzung folgt.

Dieser Text ist zuerst auf www.maennerheldinnen.com erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.


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