Im März 2020 mussten Lehrer*innen auf digitalen Unterricht umstellen. Eine davon war die Mutter unserer Autorin, damals 60 und definitiv kein „Digital Native“. Ein Jahr später zeigt sie anderen, wie digitale Bildung funktioniert.
Die zehnte Klasse hat ein Hörbuch aufgenommen, Bernhard Schlinks „Der Vorleser“. Fast alle Schüler*innen haben Textausschnitte aufgesprochen und hochgeladen – freiwillig, weil es Spaß gemacht hat. Dann haben sie diskutiert, was für einen Unterschied es macht, den Roman selbst zu lesen oder ihn von anderen vorgelesen zu bekommen. Niemand ist dafür in die Schule gegangen. Der Abiturkurs Religion hat diese Woche eine persönliche Reflexionsaufgabe. Eine sanfte Stimme leitet dazu an, die Audio-Datei auf der Lernplattform klingt wie ein Podcast. „Wer hat das denn aufgesprochen?“, frage ich. „Das war ich“, sagt Mama. Da bin ich ganz schön platt.
„Und schau, das ist meine Arbeitsmappe für die Schule“, ruft meine Mutter etwas später. Sie wedelt mit irgendwas, ich sehe es nur aus dem Augenwinkel. Ich gebe es zu, im Unterbewusstsein habe ich mit Vielem gerechnet, definitiv aber nicht mit dem Tablet, das sie mir dann unter die Nase hält. Darauf korrigiert sie Hausaufgaben, die ihr Schüler*innen jetzt prinzipiell als PDF zuschicken, egal ob der Unterricht gerade in Präsenz stattfindet oder Corona-bedingt digital.
Auf die Mausklicks kommt es gar nicht an
Es ist März 2021, und dass meine Mutter mal die absolute Queen im digitalen Klassenzimmer sein würde, dass sie ihren Unterricht mit Leichtigkeit auf der Lernplattform Moodle planen würde, dass sie über Videokonferenzen sagen würde, es sei, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, dass sie während dieser Konferenzen das Tablet als „Second Screen“ nutzt – damit hätte ich vor einem Jahr nicht gerechnet.
März 2020. Corona ist in Deutschland angekommen, mit aller Wucht. Plötzlich ist alles zu: Cafés, Restaurants, Geschäfte, Kindergärten, Unis, Schulen. Während des ersten Lockdowns bin ich zufälligerweise gerade bei meinen Eltern. Meine Mama ist 60, definitiv „Digital Immigrant“ und soll auf einen Schlag digital unterrichten. Zwei Wochen lang gebe ich mir größte Mühe, sie dazu zu befähigen. In manchen Momenten würde ich am liebsten aus der Hose springen, weil ich ihr gefühlt jeden Mausklick erklären muss. Dabei kam es rückblickend auf die Mausklicks gar nicht so sehr an.
„Du darfst nicht umdenken, du musst neu denken – nämlich digital. Das war das Prägnanteste, was du mir gesagt hast“, sagt meine Mutter ein Jahr später. Von ihrer Schule hätte sie sich dabei mehr und andere Unterstützung gewünscht – Workshops zum Beispiel, mit Kolleg*innen, die digital weiter sind. „Mir war sofort klar, dass diese Pandemie nicht so schnell vorbeigeht“, sagt sie. Das hat sie auch versucht, den anderen klarzumachen: „Leute, das ist nach den Sommerferien nicht vorbei“, hat sie gesagt, aber so richtig hören wollte es niemand. Letztlich hat sie sich alles selbst zusammengesucht, im Internet.
Der entscheidende Tipp
Eine Fernuni bot Online-Tutorials zum Distanzunterricht an. Für die Lernplattform Moodle ließen sich Anleitungen finden. Und ich war ja auch noch da. Bei der Planung des digitalen Unterrichts haben wir ganz einfach angefangen: eine einheitliche Struktur für alle Einheiten, damit die Schüler*innen sich leichter zurechtfinden. Aufgaben so formulieren, dass sie keine zusätzliche Erklärung brauchen. Videolinks einfügen. Datei-Upload für die Hausaufgaben. Forum zur Diskussion. Am Ende der Einheit ein paar Feedback-Fragen, fertig. „Nimm dir mal drei Tools, mit denen fangen wir an – das war der entscheidende Tipp“, sagt Mama rückblickend.
Jeder Tag war „learning by doing“. Und jede Einheit wurde besser. Die Foren stellten sich bald als „stinklangweilig“ heraus. Das Feedback hingegen war Gold wert. Mit den positiven Rückmeldungen überzeugte meine Mutter ihren Chef davon, weiterhin Distanzunterricht geben zu dürfen, als vor den Sommerferien die Schulen wieder geöffnet wurden. Einer ihrer größten Motivationsfaktoren war von Anfang an die Resolution: „Ich gehe nicht in die Schule, weil ich mich selbst schützen will, solange ich diese Wahlmöglichkeit habe. Ich unterrichte digital – und dann muss ich es auch gut machen.“
Um es gut zu machen, gibt es nur einen Weg: „Einfach mal machen, sich was zutrauen.“ Meine Mutter erinnert sich daran, dass selbst dem Professor von der Fernuni in den Tutorials manches missglückt ist. „Das hat mich irgendwie motiviert“, sagt sie – und dass sie Glück hatte, weil ich gerade zu Hause war: „Es hat ja nicht viel gebraucht, nur jemanden, der mit den Tools arbeiten kann, der mir das gezeigt hat. Jemanden, der sagt: Das kannst du, bist ja nicht doof.“
Mut zur Veränderung
Die Schranke ist nicht das Tool, das kann jede*r lernen. Die Schranke ist im Kopf. Die Schranke ist das „ich habe es immer so gemacht und will es nicht anders machen“. Dahinter liegt eine neue Welt, man muss nur den Mut haben, die Schranke einzureißen. Meine Mama hatte diesen Mut. Innerhalb eines Jahres hat sie sich digitalisiert – mit neuen Endgeräten und Tools, ja, aber vor allem mit einer neuen Art zu denken. Das ist das eigentlich Radikale und Bewundernswerte. In nur einem Jahr hat sie geschafft, was ganze Medienkonzerne und Verlage in den letzten zwanzig nicht bewerkstelligt haben: Sie hat alles, was sie weiß und kann, in eine neue, in eine digitale Form gegossen und verstanden, dass Digitalisierung nicht bedeutet, dass ihre „alte“ Art zu arbeiten wertlos ist.
Wenn meine Mutter jetzt im Lehrer*innen-Forum auf Moodle Fragen stellt, dann dauert es manchmal, bis der Administrator – ein junger Kollege um die 30 – antwortet. „Tut mir leid“, schreibt er dann, „das wusste ich selbst nicht. Immer wenn du was fragst, lern ich auch noch was dazu.“ Neulich konnte eine andere ältere Kollegin mit der Antwort des Administrators nichts anfangen. „Ich habe ihr dann Screenshots geschickt“, sagt Mama, „und es ihr so erklärt, dass sie es auch verstanden hat.“
Das ist auch ihre Antwort auf die Frage, wie man die ältere Generation mitnehmen kann in die digitale Welt: „Indem man ihnen Trainer*innen an die Seite stellt, die ihre Fragen nachvollziehen können. Den ganz Jungen fehlt die Geduld und die Sprache, es so zu erklären, dass die Älteren es verstehen.“ Dass sie selbst so eine Trainerin sein könnte, findet sie inzwischen gar nicht mehr so abwegig. Sie hat angefangen, einen Leitfaden zu schreiben. Ihre Botschaft an ihre eigene Generation: „Liebe alte Kolleg*innen, lasst euch digital nicht abhängen, wir reden mit!“
Eine Frage der Generation?
Und auch die für die Jungen, für meine Generation, hat meine Mama das eine oder andere „Gebot für den digitalen Umgang“ auf Lager. Die Digitalisierung, sagt sie, das ist unser Generationenkonflikt. Die Jungen „nehmen für sich in Anspruch, allein digital zu sein. Aber wichtig ist doch, dass wir gemeinsam weiterkommen. Und deshalb darf man niemandem – egal wie alt er*sie ist oder welches Geschlecht oder welche Hautfarbe er*sie hat – absprechen etwas zu können.“ Deshalb ist ihre Botschaft an meine Generation: „Liebe junge Kolleg*innen, Kommunikation geht auch digital in beide Richtungen.“
Und dann zitiert sie Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun. Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab‘ Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger. Vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir auch Fehler zu, denn aus ihnen kann ich lernen.“ Das, was dem Montessori-Ansatz zugrundeliegt, findet meine Mama, gelte ein Leben lang: Nur weil man ein paar Jahre vor der Rente steht, ist das kein Grund abzuschalten. Ohne an der Digitalisierung teilzunehmen, geht es nicht. Leben ist Fortschritt. Das heißt sich einzulassen auf junge Menschen und ihre Ideen, auf die Mittel ihrer Wahl, auch auf die digitalen. Und miteinander im Gespräch zu bleiben.
Miteinander reden statt übereinander – nur so können wir den Generationenkonflikt Digitalisierung lösen. Es reicht nicht, als junge Generation an die ältere heranzutreten und zu sagen: Ihr müsst jetzt digital sein! Vor allem nicht, wenn wir dabei heimlich denken, dass sie das eigentlich gar nicht können. Dass meine Mama sich so radikal digitalisiert, damit hätte ich nie gerechnet – und vielleicht lag genau da mein Fehler. Vielleicht war das die Schranke in meinem Kopf. Auch die müssen wir einreißen, wenn wir es ernst meinen mit dem Fortschritt, wenn wir das große Potenzial der älteren Generation wirklich nutzen wollen. In unserer Familie ist das im vollen Gange. Im Sommersemester soll meine Schwester an der Uni ein Tutorat geben, natürlich digital. „Da muss ich mal die Mama fragen“, sagt sie, „wie die das macht.“