Grenzen sperren ein und aus. Die Mode hat immer schon Grenzen gezogen: zwischen Schönheitsbildern, Geschlechtern oder nationaler Zugehörigkeit und Status. Es geht um Exklusivität, um Geld und auch um Körpernormen. All jene, die keine genormten Körpermaße haben, passen schlichtweg nicht rein in die Kleidung und auch nicht in das normative Schönheitsbild, das die Industrie diktiert.
Köper nach Maß?
Dabei weichen mehr als 35 Prozent der Frauen in Deutschland von dieser Norm ab, weil sie sogenannte „Übergrößen“ oder Größen für kleine Frauen tragen. Außerdem leben in Deutschland mehr als 4,5 Millionen Menschen mit einer körperlichen Behinderung. All diese Menschen werden für die Erstellung der Maßtabellen nicht vermessen. Doch die Branche beharrt auf dem Konzept der Vermessung und Standardisierung des Körpers seit der Einführung der Konfektionsgrößen in den 1960er-Jahren – und konstruiert damit ein Bild von Normalität und Abweichung. Eine gleichberechtigte Teilhabe gibt es nicht – Mode ist damit in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Inklusion.
Dagegen geht das Konzept der adaptiven Mode vor. Eine Mode, die sich den unterschiedlichen Bedürfnissen der Träger*innen anpasst, anstatt von Träger*innen zu verlangen, sich der Mode anzupassen oder sie schlichtweg auszugrenzen. Doch wie kann diese Mode aussehen und warum ist sie nicht schon längst zum Standard der Branche geworden?
Das Modediktat
Zwar ist endlich in der Branche angekommen, dass Käufer*innen auch andere Körper sehen wollen – Mehrgewichtige Menschen zum Beispiel – und dass dementsprechend auch die Größentabellen angepasst werden müssen, doch das Größenangebot vieler Marken liest sich auch heute noch wie die höhnische Kopfrechenleistung eines*r Fett-Phobiker*in: Bei 40 ist Schluss. Aber das Problem existiert auch in die entgegengesetzte Richtung: „Ich würde mir manchmal wünschen, dass ich in ein Geschäft gehen kann und mir dort genau das kaufen kann, was ich möchte und dafür nicht immer in die Kinderabteilung muss“, sagt Carolin Treml.
Carolin ist sehr zierlich und hat schmale Schultern. Sie trägt XS oder XXS und trotzdem werfen viele Kleidungsstücke Falten, wenn sie in ihrem Rollstuhl sitzt. Oder der Stoff ist so schwer, dass sie sich fühlt, als würde er sie erdrücken. Carolin fährt einen Rollstuhl mit Mundsteuerung: ein elektronischer Rollstuhl, bei dem die Richtung und Geschwindigkeit über einen Joystick mit dem Mund gesteuert werden kann. Die 23-Jährige fotografiert und bloggt über Schönheitsthemen und Mode: „Ich gehe sehr gerne shoppen und liebe es, mich mit Trends auseinanderzusetzen, aber es ist oft gar nicht so einfach, Kleidung zu finden, die zu meinem Körper passt.“
Realistische Bilder
Dagegen kämpft Carolin jetzt an, die sich noch vor ein paar Jahren nicht getraut hätte, ein Ganzkörperfoto bei Instagram zu posten: „Ich wollte immer möglichst ,normal‘ rüberkommen.“ Heute lässt sie ihre Follower*innen stattdessen daran teilhaben, wie sie sich kleidet und wie ihr Leben als freiberufliche Grafikdesignerin aussieht.
Zwar sind mittlerweile mehr Models in Rollstühlen oder mit Beinprothesen auf den Laufstegen oder in Werbekampagnen zu sehen, doch ihre Bedürfnisse sind noch immer nicht in der Branche angekommen. Und Carolin stört das einseitige Bild von Rollstuhlfahrer*innen: „Die sitzen meist in einem unauffälligem Rollstuhl und sehen nicht behindert aus. Ich würde mir wünschen, dass man auch mal Leute sieht, denen man ihre Behinderung ansieht. Denn niemand, die*der meine Krankheit hat, sieht vollkommen durchschnittlich aus.“
Zeit für neue Ikonen
Doch dieser vermeintliche Durchschnitt hängt in Stoff geschneidert noch immer an den Kleiderstangen der Mainstream-Modeketten. All jene, die andere Ansprüche an Mode haben, suchen dort vergeblich. Was wünscht sich Carolin von der Kleidung, die sie trägt? Natürliche Materialien seien ihr wichtig, die nicht zu warm sind, um nicht zu stark zu schwitzen, die sie aber auch nicht frieren lassen, weil sie sich wenig bewege. Außerdem keine Reißverschlüsse oder Knöpfe, die drücken, wenn sie im Rollstuhl sitzt. Sie achte auf elastische Kleidung, weil sie ihre Arme nicht so gut anwinkeln kann. Im Laden ist all das schwer zu finden.
Wie sieht es online aus? Sucht man zum Beispiel nach Mode für Rollstuhlfahrer*innen, sind schon die Namen abschreckend: „Reha-Fashion“, „Rollitex“ und „der-querschnitt“ liefern, was die Namen versprechen: Graue Thermodecken, Regencapes und Funktionskleidung, die nützlich sein kann, aber ganz anders aussieht als die Mode, für die sich Carolin interessiert.
Die Herausforderungen, denen sich die inklusive Mode stellen muss, sind die variierenden Ansprüche: Je nach Geschmack, Körperproportion oder Behinderung fallen sie unterschiedlich aus. Eigentlich ist es das Ziel der adaptiven Mode, dass alle Käufer*innen mit ihren Bedürfnissen auf dem Markt repräsentiert werden, doch wer derzeit nicht online oder im Laden fündig wird, muss sich die Kleidung auf den Leib schneidern lassen. Doch das ist teuer. Denn die speziell für Menschen mit bestimmten Behinderungen angefertigte Kleidung wird in Deutschland nicht von der Krankenkasse übernommen, da sie als Gebrauchsgegenstand und nicht als Hilfsmittel gilt.
Das Thema berührt uns alle
Dass die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen nicht mitgedacht werden, liegt aber nicht nur daran, dass sie sich so stark unterscheiden, sondern auch an der Ausbildung der Designer*innen und Schneider*innen: Die Puppen, an denen sie üben, die Grundschnitte, die sie konstruieren und die Personen, die sie vermessen: All das sind Normkörper.
Und das ist auch ganz bewusst so angelegt, wie Inge Szoltysik-Sparrer, Vorsitzende des Bundesverbands für Maßschneider*innen erklärt: „Wir bieten eine sehr fundierte Basisausbildung für ein Schneiderhandwerk.“ Schwerpunkte oder Spezialisierungen seien da nicht vorgesehen. Dabei wirkt die Einschränkung auf eine einzige Körpernorm wie eine Spezialisierung. Szoltysik-Sparrer ist sich sicher, dass alle Schneider*innen auf die Wünsche von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen eingehen könnten – auch ohne Input in der Ausbildung.
Doch sie sagt auch, dass sie die Betriebe, die sich tatsächlich auf Menschen mit Behinderung als Kund*innen spezialisiert haben, an einer Hand abzählen könne. 500 Betriebe werden im Verband insgesamt vertreten. Bei all der Generalisierung fehlt also die Sensibilisierung. Solange es vor allem Kleidung gibt, die nur für eine Körpernorm bestimmt ist, werden Menschen ausgeschlossen sein. Braucht es also neue Normen?
Auf Augenhöhe
Ja, sagt die Gründerin Sema Gedik. Auch sie hat in ihrem Designstudium mit den genormten Größentabellen gearbeitet und früh erkannt, dass dabei viele Menschen ausgeschlossen werden. Ihre Cousine Funda ist kleinwüchsig. Wenn sie sie in der Türkei besuchte und sie zusammen shoppen gingen, habe sie hautnah miterlebt, vor welchen Herausforderungen Funda Tag für Tag stand.
Es gab schlichtweg keine Mode für kleinwüchsige Menschen. „Als Designerin wollte ich schon immer meine Kompetenzen und Fähigkeiten nutzen, um mich gesellschaftlich relevanten Themen zu widmen“, erklärt Sema ihre Motivation zur Gründung ihres Modelabels „Auf Augenhöhe“, das unter anderem Mode für kleinwüchsige Menschen herstellt. Das Ziel: die Modebranche diverser zu gestalten.
Sema hat dafür in ihrem Designstudium eine neue Norm erstellt – sie hat weltweit Menschen mit Kleinwuchs vermessen, um das erste Konfektionsgrößensystem für kleinwüchsige Menschen zu entwickeln: „Wir haben es uns zur Mission gemacht, der Modeindustrie zu zeigen, wie gleichberechtigter Umgang mit Personen, deren Körpermaße von den gängigen Proportionen und Standardmaßen abweicht, praktisch umgesetzt werden kann.“ In der Branche wolle sie einen Raum abseits der Norm schaffen.
Die richtigen Expert*innen
Eins ist Sema dabei besonders wichtig: „Erstmal zuhören und verstehen! Ich bin eine große Anhängerin des Mottos: ,Nothing about us without us‘“. Also: Nichts über uns ohne uns. Eine Kommunikation auf Augenhöhe und der Einfluss jener Menschen auf die Mode, die von ihr profitieren sollen. So sind Menschen mit Kleinwuchs fester Bestandteil ihres Teams, besonders wenn es um das Design und die Fitting-Prozesse geht.
Auch Carolin plädiert dafür, mehr Menschen mit Behinderung nicht nur als Aushängeschild für Diversität auf die Laufstege zu holen, sondern in die Designteams. Um ihre unterschiedlichen Bedürfnisse besser vertreten zu können und den Blickwinkel auch auf andere Bedürfnisse zu lenken: für eine inklusive und diverse Modebranche – ohne Grenzen.
Dieser Text erschien erstmals am 24. Juni 2021 bei EDITION F plus.