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Gewichtsdiskriminierung: „Den Körper von anderen Menschen zu kommentieren ist gewaltvoll“

Geringere Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen und gewaltvolle Beleidigungen: Menschen mit großen Körpern werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Ein Bericht.

Im Büro hätte Christelle nur die Kaffeeküche im hinteren Bereich nutzen dürfen, da ihr dort keine Kund*innen über den Weg laufen konnten. Sie würde auf die Kund*innen bedrohlich wirken, so die Chefin – wegen ihres großen Körpers und ihres Aussehens. Christelle war damals Studentin und arbeitete für einen Nebenjob in einem Businesscenter zur Probe. Die Chefin war begeistert von ihrer Arbeit am Telefon. Beim Feedbackgespräch war für sie jedoch nicht entscheidend, was Christelle geleistet hatte, was auf ihrem Lebenslauf stand oder wie gut sie sich mit den Kolleg*innen verstand, sondern ein anderer Faktor – Christelles Aussehen. Deshalb sollte sie nicht am Empfang arbeiten dürfen und keinen direkten Kund*innenkontakt haben.

„Das Gewicht und die Körperform einer Person ist immer noch ein entscheidender Faktor dafür, wie die Lohnarbeitslaufbahn verläuft“, sagt Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum, als sie von einer ihrer ersten rassistischen und fettfeindlichen Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt am Telefon erzählt. „Wenn du ständig suggeriert bekommst, dass dein großer Körper so wie er ist, nicht in Ordnung ist, dass du ihn verkleinern oder verändern musst, dann kann das dein Selbstbild einfach völlig zerstören.“ 

Foto: Privat

Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum ist mit den Schwarzen Bewegungen in Deutschland verbunden und befasst sich aus einer aktivistischen, intersektionalen und emotionalen Perspektive mit Themen rund um Gewichtsdiskriminierung.





Menschen mit großen Körpern werden in gesellschaftlichen und politischen Räumen diskriminiert, vor allem dort, wo Soziales und Politisches wie an keinem anderen Ort zusammenläuft: in der Arbeitswelt. Ihnen werden bestimmte Jobs nicht zugetraut, manche Fähigkeiten komplett abgesprochen, all das bestätigt eine Studie der Universität Tübingen. Die Ergebnisse zeigen: Personaler*innen trauen mehrgewichtigen Menschen fast nie einen Job mit hohem Prestige zu.

Diese Diskriminierung findet unter dem Deckmantel der Gesundheit statt: Dick ist gleich krank, dünn ist gleich fit. Ein Grund für die weitverbreitete diskriminierende Annahme, dass ein mehrgewichtiger Körper schlecht für die Gesundheit sei, ist, dass sich dieser Zusammenhang angeblich statistisch nachweisen lässt. Wer Gewichtsdiskriminierung beschreiben will, braucht keine Verben, drei Buchstaben reichen: BMI.

Der Body Mass Index (BMI) ist ein Maß, um den Körperfettanteil eines Menschen zu schätzen. Dafür wird das Verhältnis von Körpergröße und Körpergewicht berechnet. Dieser Index teilt die Körper der Menschen in „Untergewicht“, „Normalgewicht“, „Übergewicht“ und „starkes Übergewicht“ ein. Eine einfache Rechenformel, die Menschen in Normen presst? Genau so.

„Man kann versuchen ein eigenes positives Selbstbild und Körpergefühl zu bekommen, aber wenn deine Umgebung dir nicht mit Würde begegnet, dann ist es schwierig, dieses positive Selbstbild auf Dauer aufrechtzuerhalten.“ 

Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum

Der BMI ist so nicht nur ein Index für die Körpergröße geworden, sondern auch für die Gesundheit und absurderweise infolgedessen auch für den Charakter eines Menschen. Die angebliche Logik ist unbarmherzig konsequent – wer einen BMI über 25 hat, gilt als „übergewichtig“ und bekommt damit attestiert: Du hast deine Pflicht, dich dünn zu halten, nicht erfüllt. Statt belastbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse produziert der BMI seit Jahren Mythen über Größe, Gesundheit und Gewichtsabnahme und hält stur an einer Zahlenhülse fest.

Dabei ist dieser Index bei Weitem nicht so belastbar, wie seine konsequente Nutzung im Gesundheitswesen vermuten lässt. Denn der Index war nie dazu gedacht, als Maß zu dienen für individuelles Körperfett, den Körperbau oder die Gesundheit einer einzelnen Person, sondern um das Durchschnittsgewicht ganzer Gesellschaften zu messen.

Wie fraglich diese Verallgemeinerung von Körpergrößen ist, zeigt sich auch anhand der Auswahl der Körper, die für die Durchschnittswerte vermessen wurden: Sowohl in der ursprünglichen Studie im 19. Jahrhundert als auch in der aufgefrischten Version aus den 1970ern wurden lediglich Männer vermessen – zudem nur weiße Männer. Das Weißsein stand von Anfang an im Mittelpunkt der Forschung um den BMI.

Auch Christelle hält den BMI für hinfällig – und noch mehr: „Der BMI kann sogar Schaden anrichten.“ Und Christelle hat Recht, Studien belegen, dass ein Körpermaß, das von und für Weiße entwickelt wurde, für People of Color ein erhebliches Risiko für Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen darstellt. Die Erfahrung, bei ärztlichem Personal nicht ernst genommen zu werden und dass Schwangerschaften oder Erkrankungen der Schilddrüse zu spät entdeckt werden, machen viele mehrgewichtige Menschen.

Auch Frauenkörper kamen in der Berechnung der angeblichen Durchschnittswerte des BMIs überhaupt nicht vor. Der BMI ist also nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch und kann kein effektives Maß für Fettleibigkeit, geschweige denn für die individuelle Gesundheit sein.

Trotzdem hält sich der BMI in Deutschland standhaft auch als Maß dafür, wer welchen Beruf ergreifen darf: So legt eine BMI-Grenze fest, welche Menschen in Deutschland zum Beispiel als Lehrer*innen verbeamtet werden. Es kommt daher immer wieder vor, dass Mehrgewichtige Anwärter*innen für eine Verbeamtung mit der Begründung abgelehnt werden, dass ein erhöhter BMI-Wert angeblich etwas über ihre Krankheitsanfälligkeit oder körperliche Leistungsfähigkeit aussagt.

Doch die Fettfeindlichkeit auf dem Arbeitsmarkt endet nicht mit den Hürden bei der Bewerbung oder diskriminierenden Arbeitsbedingungen wie zu schmale Stühle. Menschen mit großen Körpern haben auch ganz konkrete Nachteile bei der Bezahlung: Bei vergleichbarer Qualifikation bekommen sie niedrigere Löhne.

„Arbeitgeber*innen müssen Atmosphären schaffen, die es ermöglichen, dass Menschen mit einem größeren Körper sicher arbeiten können.“ 

Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum

Die verheerenden Auswirkungen der Gewichtsdiskriminierung bohren sich wie eine Abwärtsspirale durch unsere Gesellschaft, durch die mehrgewichtige Menschen einfach nach „unten“ durchrutschen: Sie verdienen weniger und unzählige Ausschlussmechanismen auf dem Arbeits-, dem Bildungs- und dem Beziehungsmarkt verhindern gesellschaftliche Teilhabe. Es folgen soziale Isolation, Kränkungen, Angriffe und Beleidigungen, mangelnder Respekt. All das macht krank und fördert durch den permanenten psychosozialen Stress Depressionen und Angststörungen. „Fettfeindlichkeit und weitere Diskriminierungsformen können deine Psyche so sehr angreifen, dass du gar nicht mehr die Kraft hast, deinem Beruf nachzugehen. Dem sind viele hochgewichtige Schwarze Körper ausgesetzt: Es werden schon ganz viele rassistische Assoziationen auf einen projiziert und dann kommt die Gewichtsdiskriminierung dazu“, sagt Christelle. 

Sie fordert, dass Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen sich für Gewichtsdiskriminierung sensibilisieren und sich mit ihren Privilegien auseinandersetzen, um Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen entgegenzuwirken: „Damit überhaupt eine Chance besteht, dass sich auch Menschen im Arbeitsumfeld sicher fühlen können, die von Gewichtsdiskriminierung betroffen sind, denn nur dann können sie überhaupt ,Leistung‘ erbringen.“

„Den Körper von anderen Menschen (ungefragt) zu kommentieren ist eine Grenzüberschreitung und gewaltvoll.“ 

Maria González Leal

Für diese Sicherheit muss politisch gesorgt werden und dafür setzt sich die Gesellschaft für Gewichtsdiskriminierung ein, die eine Petition startete mit dem Ziel: Gewicht als Merkmal ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufzunehmen. „Denn Gewicht ist derzeit in Deutschland kein Merkmal, das schützenswert ist vor Diskriminierung“, erklärt Maria González Leal, die sich bei der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung engagiert. Wenn Menschen wegen ihres Gewichts diskriminiert werden, ob auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, haben sie bisher keine rechtliche Grundlage, um gegen diese Diskriminierung vorzugehen.

Foto: Elif Küçük

Maria González Leal positioniert sich als: Schwarz of mixed race, fett, queer und ost-sozialisiert. Maria arbeitet in der Antidiskriminierungsberatung, als Workshopleiter_In, Moderator_In und Autor_In zu den Schwerpunkten: Antirassismus, Gewichtsdiskriminierung, Intersektionaler Feminismus, Queerness, psychische Erkrankung als Behinderung, Chronische Erkrankung und vererbte Armut. 






Fragt man Maria, wie sich unsere Gesellschaft in ihren Augen von einem fettfeindlichen Körperbild emanzipieren könne, setzt sie jedoch viel früher als beim ersten Bewerbungsgespräch oder der Bürobestuhlung an. Sie begreift den Anfang in der frühen Kindheit: „Wir müssen Kindern beibringen: Es gibt Körperdiversität und die Würde des Menschen hat kein Gewichtslimit!“  Wie wir lernen, selber über unseren Körper und über andere Körper zu sprechen, setze den Grundstein für unser Körperbild. Und genau da beginne Gewichtsdiskriminierung.

Warum du deinen Körper brauchst und wie du gut zu ihm sein kannst.

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