Person, die mit von sich gestreckten Armen auf einer weißen Bettdecke liegt. Oberhalb ihres Kopfes sind ein Laptop, eine Kaffeetasse und ein Stift zu sehen.
Foto: Ketut Subiyanto | Pexels

Warum ich das Konzept Karriere aus meinem Leben gestrichen habe

Unsere Autorin hat eine Heilung gegen die Karriere-Krankheit gefunden und plädiert für eine Wirtschafts- und Lebensweise, die sich daran orientiert, was jede*r Einzelne für ein gutes Leben braucht – Wohlbefinden über Wachstum.

Es sollte mein Traum sein. Nach dem Abitur war klar: Ich würde Karriere machen. Und zwar zügig. Modul für Modul hakte ich im Bachelor-Studium ab, um es in sechs Semestern zu schaffen und dann hastig in den Master hineinzuschlittern. Den Abschluss bestand ich selbstverständlich mit Bravour und fand danach einen heiß begehrten Job im Verlag. Von da an pochte ich darauf, Stück für Stück die Karriereleiter hinaufzuklettern. Sollte dies wirklich mein Traum sein?

Wo zuvor Noten den Wert meiner Leistung bestimmten, so war es im Job meine Produktivität. Also schrieb ich, was das Zeug hielt, glänzte mit den ausgefallensten Themenideen und bewies von Tag zu Tag, wie produktiv ich mit meiner Leistung war. Von Vorgesetzten sahnte ich Lob und Anerkennung ein. So weit, so wunderbar. Alles schien nach Plan zu laufen. Doch es sollte nicht lange dauern, bis der vermeintliche Traum zu bröckeln begann.

Getrieben von der Produktivität

Denn ich war getrieben von einem Verständnis von Produktivität, welcher der Wirtschaftslehre entstammt. Demnach wird Produktivität daran gemessen, wie viel der*die einzelne Arbeitnehmer*in in einer Stunde leistet. Daraus lässt sich wiederum folgern, wie erfolgreich ein Unternehmen ist. Die Arbeitsproduktivität gilt Ökonom*innen zufolge als „wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit“ von Unternehmen und ist ausschlaggebend für das Wirtschaftswachstum eines Landes. De facto bestimmte also unser Wirtschaftssystem darüber, wie ich meine Arbeitskraft und -zeit einzusetzen hatte. 

„Tagein, tagaus funktionierte ich wie eine einwandfreie Produktionsmaschine – und galoppierte geradewegs ins Burnout.

Bröckelig wurde es allmählich auch mit meinem Verständnis von Karriere – im Allgemeinen als „erfolgreicher Aufstieg im Beruf“ definiert. Der Begriff stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie Laufbahn oder Rennbahn. Komischerweise fühlte sich mein Weg in der Arbeitswelt tatsächlich zunehmend wie eine Rennbahn an. Tagein, tagaus funktionierte ich wie eine einwandfreie Produktionsmaschine – und galoppierte geradewegs ins Burnout. 

Bis zur Erschöpfung

Meine sogenannte Karriere entpuppte sich schließlich als Beweis dafür, dass das Schlagwort Burnout nicht umsonst seit Jahren in der Öffentlichkeit zirkuliert. Psychische Erkrankungen, die unter dem Phänomen Burnout zusammenzufassen sind, sind Krankenkassen zufolge zu einer der Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit geworden. Der DAK-Gesundheitsreport ermittelte von 1997 bis 2019 einen Anstieg der Fehltage aufgrund von Burnout um das Vierfache. 2019 sei mit rund 260 Fehltagen pro 100 Versicherten ein Höchststand erreicht worden.

Gleichzeitig boomt es an Ratgebern für Stressbewältigung, Resilienz oder Achtsamkeit und wer keine*n persönliche*n Life-Coach*in hat, ist von gestern. Kann das Zufall sein? Der Postwachstums-Ökonomin Friederike Habermann zufolge nicht. Die Volkswirtin und promovierte Politikwissenschaftlerin forscht an der Schnittstelle von Herrschaftsverhältnissen, globalen sozialen Bewegungen sowie alternativen Wirtschaftsformen. Ihre These: Unser Wirtschaftssystem – der Kapitalismus – beruhe auf einer wesentlichen Grundlage: „Marktwirtschaft ist der Versuch, ein ökonomisches System ohne innere Motivation zu erreichen. Das erzeugt innere Leere“, schreibt Habermann in einer Publikation des Konzeptwerks Neue Ökonomie.

„Marktwirtschaft ist der Versuch, ein ökonomisches System ohne innere Motivation zu erreichen. Das erzeugt innere Leere.“

Friederike Habermann

Habermanns Beschreibung zur Grundstruktur des Kapitalismus ähnelt den Symptomen des Burnouts auf unheimliche Weise. Psycholog*innen und Psychiater*innen stellen folgende Merkmale heraus, die kennzeichnend für den Zustand sind, den viele von Burnout betroffene Menschen empfinden: Typisch sei das Gefühl des „Ausgebrannt-Seins“, also dauerhaft belastet zu sein. Dies äußere sich in emotionaler Erschöpfung, verringerter Arbeitsleistung und der sogenannten Depersonalisation, so heißt es auf dem Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen. 

Wachstum über Wohlbefinden?

Die Depersonalisation bezeichnet demzufolge ein Fremdheitsempfinden in Bezug auf die eigene Person. „Gefühle, Gedanken, Handlungen, Erinnerung, Wahrnehmung und der Körper oder Teile des Körpers werden als fremd, unwirklich oder als nicht zur eigenen Person gehörend erlebt; die eigene Person wird nicht als Einheit wahrgenommen.“ Mein Karriere- und folglich auch mein Leistungsstreben, das sich an den vorherrschenden Definitionen unserer Wirtschaftsordnung orientierten, führten zwangsläufig zu innerer Leere und schließlich zum Burnout. 

Unser Wirtschaftssystem beruht auf dem Paradigma, dass Wohlstand nur durch beständiges Wachstum aufrechtzuerhalten ist: Wachsen Unternehmen, so wächst die Wirtschaftsleistung eines Landes und damit der Wohlstand in der Bevölkerung. Ein Paradigma, das Postwachstums-Ökonom*innen seit Jahrzehnten kritisieren. Denn auf unserem Planeten, auf dem die Ressourcen immer knapper werden, kann es nicht für immer Wachstum geben, argumentieren sie.

„Auf unserem Planeten, auf dem die Ressourcen immer knapper werden, kann es nicht für immer Wachstum geben.“

Wachstum steht für Beschleunigung, sagt der Soziologe Hartmut Rosa, der an der Universität Jena lehrt und sich in seiner Forschung mit Formen der modernen Beschleunigung beschäftigt. Unsere moderne Gesellschaft sei in ihrer Grundstruktur auf Wachstum und Steigerung angelegt. Das Individuum, so Rosas Theorie, erlebe dies als Beschleunigung des Lebenstempos. Beschleunigung werde besonders da kritisch, wo sie das Leben schlechter mache, wo sie zu Entfremdung führe, „weil die Subjekte sich die Welt nicht mehr anverwandeln können“, schreibt Rosa in einem Aufsatz in „Le Monde Diplomatique“. 

Unsere moderne Lebensform, die auf Beschleunigung ausgelegt sei, belaste „die Qualität unserer Weltbeziehungen: unserer Beziehung zur Natur, zu unserer Arbeit, zu unseren Mitmenschen und zu unserem eigenen Körper.“ Um diese Entfremdung zu überwinden, brauche es eine Neubestimmung von Lebensqualität, so der Zeitforscher.

Reise der Heilung

Tatsächlich fühlte ich mich, als mich die Symptome des Burnouts überkamen, ein Stück weit verloren. Entfremdet von meiner Essenz. Als ich beschloss, ein Sabbatical einzulegen, schien so langsam eine Reise der Heilung einzusetzen – eine Heilung von der Karriere-Krankheit. Freiheit, Digital Detoxing und Stille in der Natur standen ganz oben auf meiner Prioritäten-Liste. Genauer gesagt, hatte ich nicht einmal eine Liste, sondern mein Körper zwang mich schlicht dazu, sämtliche Außenreize radikal abzuschalten. 

„Als ich beschloss, ein Sabbatical einzulegen, schien so langsam eine Reise der Heilung einzusetzen – eine Heilung von der Karriere-Krankheit.“

Als ich berufliche Tätigkeiten wieder aufnahm, kam gerade die Corona-Pandemie in Deutschland an. Ironischerweise war das für mich als ehemalige Burnout-Betroffene und Hochsensible (sowie kinderlose Frau), die wieder beruflich einsteigen wollte, schon fast ein Segen: Denn anstatt meine üblichen Muster im Hinblick auf Arbeits- und Freizeitleben wieder hochzufahren, war ich zur radikalen Entschleunigung meines Alltags gezwungen. Das bedeutete volle Konzentration auf mich im Homeoffice und keine Ablenkungen durch Konsum in meiner Freizeit. 

Ergebnis: In meinem Leben bin ich niemals produktiver gewesen. Ich schlafe gut, esse gesund, bin körperlich fit, pflege stabile Beziehungen und enge Freund*innenschaften, habe endlich wieder angefangen zu tanzen und Musik zu genießen, bin oft in der Natur, kann mich meiner Bildung widmen, Ideen verwirklichen und meine Arbeit hat wieder Wert. Ich habe Stück für Stück gelernt, Produktivität für mich selbst zu definieren, indem ich täglich frage: Was brauche ich, um persönlich zu wachsen? Wie sieht heute ein guter Tag aus? Das Konzept Karriere habe ich konsequent aus meinem Leben gestrichen.

„Ich habe Stück für Stück gelernt, Produktivität für mich selbst zu definieren, indem ich täglich frage: Was brauche ich, um persönlich zu wachsen? Wie sieht heute ein guter Tag aus? Das Konzept Karriere habe ich konsequent aus meinem Leben gestrichen.“

Vielleicht trage ich damit ein bisschen dazu bei, den Beginn einer „Ecommony“ einzuleiten: Ein Konzept von Friederike Habermann für eine alternative Wirtschaftsweise, in der sich Menschen daran orientieren, was sie tatsächlich für ein gutes Leben brauchen. Anstatt dem Kapital Wachstum zu bringen.

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