Die Regisseurin Mia Spengler hat für den Tatort „Schattenleben“ erstmals bei einer deutschen Filmproduktion einen Inclusion Rider eingesetzt, also eine Klausel im Vertrag, die festlegt, dass die Personen vor und hinter der Kamera möglichst divers besetzt sein müssen. Was dabei herausgekommen ist, erzählt sie uns im Interview.
Vom „Inclusion Rider“ hörte die Welt zum ersten Mal, als die US-Schauspielerin Frances McDormand einen Oscar gewann und im Rahmen der Verleihung nur diesen einen Satz sagte: ,I have two words for you: inclusion rider.‘ Ihre Worte und der überraschende Abgang hinterließen beim Publikum ein großes Fragezeichen, das zu einer Diskussion über Diversität in der Filmbranche führte.
Frances McDormand wird aufgrund ihrer Oscar-Rede mit dem Inclusion Rider in Verbindung gebracht. Die Erfinderin des Inclusion Rider ist sie aber nicht, oder?
Mia Spengler: „Richtig, die Idee stammt aus einem theoretischen Überbau, den Stacy Smith [Anmerkung der Redaktion: Gründerin und Vorsitzende der USC Annenberg Inclusion Initiative] gemeinsam mit zwei weiteren Forscherinnen entwickelt hat. Die drei haben die Misslagen in den USA genauestens untersucht und geschaut, wie divers die durchschnittlichen Filmteams besetzt sind. Auf diesen Daten basierend haben sie einen Entwurf entwickelt, wie eine Produktion idealerweise aussehen müsste, wenn die gesamte Gesellschaft sowohl vor als auch hinter der Kamera abgebildet wäre.“
Ähnlich wie bei der gesetzlich verordneten Frauenquote fragen sich sicher viele, warum es extra eine Klausel im Vertrag braucht. Mal ganz naiv gefragt: Warum werden denn nicht einfach diversere Teams gebildet?
„Wenn es um das Thema Diversität geht, haben in der Filmindustrie grundsätzlich erst einmal alle total viel Verständnis – aber gar keinen Bock. Es heißt dann: ‘Wir würden ja wahnsinnig gerne, aber uns sind die Hände gebunden. Wir haben leider kein Geld, uns liegen nicht genug Daten vor, wir finden keine diversen Personen…’“
Und ist da was dran?
„Da ich es nun selbst am Beispiel des Tatorts versucht habe, kann ich bestätigen, dass es gar nicht so einfach ist, wie man meinen könnte. Ich bin Regisseurin. Ich habe nicht die Ausbildung, die es eigentlich bedarf, um all die komplizierten theoretischen Gedankengänge nachzuvollziehen und auch nicht die Kapazitäten, um quer durchs Land zu reisen und die passenden Menschen zu finden. In Deutschland hat man nämlich, anders als beispielsweise in den USA, das Problem, dass es nur sehr wenige Daten beziehungsweise Interessensvertretungen von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen gibt.“
Warum hast du dich entschieden, all diese Arbeit auf dich zu nehmen, wenn es so schwer ist, auf Datensätze zurückzugreifen und an Informationen zu gelangen?
„Ich wusste ehrlich gesagt im Vorfeld nicht genau, worauf ich mich einlasse. Was aber vielleicht auch besser war, weil ich es dann nicht gemacht hätte. Mir persönlich ist das Thema sehr wichtig, weil ich selbst einen Migrationshintergrund habe und merke, was Diskriminierung psychisch alles mit einem macht. Ich beobachte schon viele Jahre, was in der Filmbranche alles in Kauf genommen wird und befinde mich selbst manchmal in Situationen, die echt nicht okay sind. Gleichzeitig liebe ich meinen Job, ich mache den echt gerne.
„Der Bildungsstand beim Thema Diversität ist in der deutschen Filmbranche im Vergleich zu anderen Ländern wahnsinnig niedrig.“
Mia Spengler
Ich wollte mir nicht länger die Frage stellen müssen, ob ich so weitermachen kann. Also habe ich recherchiert und bin auf den Inclusion Rider gestoßen. In den USA wurde in dem Zusammenhang auch geschaut, wer in der Branche eine Hebelwirkung hat, um das Projekt bewilligt zu bekommen. Also große Talente wie Regisseur*innen, Schauspieler*innen, Leute, für die es bereits eine große Nachfrage am Markt gibt – und die sagen: ‘Hey, wir arbeiten ab jetzt nur noch zu diesen Bedingungen. Wenn du mich buchen willst, musst du auch einen diversen Cast und eine diverse Produktion ermöglichen.’ Ähnlich ist es mit unserem Tatort. Den schauen so viele Menschen in Deutschland, man kennt das Hamburger Kommissar*innen-Duo Falke und Grosz – da bekommt so ein Projekt direkt eine größere Wirkung.“
Wurdest du vom NDR angesprochen, ob du bei diesem Tatort Regie führen möchtest oder bist du mit der Idee des Inclusion Rider auf sie zugekommen?
„Ich war bereits mit der Produktionsfirma Wüste im Gespräch, da ich vorher schon einen Tatort mit ihnen gemacht hatte. Dort arbeitete eine wirklich tolle Producerin, Sophia Ayissi, die sofort verstand, wovon ich redete. Mittlerweile bin ich relativ etabliert als Regisseurin, was natürlich toll ist – trotzdem war es eine heikle Situation zu sagen, dass ich diesmal bestimmte Bedingungen einfordere.
Der Bildungsstand beim Thema Diversität ist in der deutschen Filmbranche im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA wahnsinnig niedrig. Daher war ich sehr froh, dass ich hier an der richtigen Adresse war und mit Sophia eine Gleichgesinnte auf Produktionsseite hatte.“
Was waren die Herausforderungen bei der Umsetzung des Inclusion Riders?
„Für den Rider haben wir uns an den Formulierungen des BFI, dem British Film Institut orientiert. Wir mussten aufpassen, dass unsere Forderungen so formuliert werden, dass es nicht diskriminierend rüberkommt, wenn wir sagen, dass wir gerne 50 Prozent Frauen und 25 Prozent Menschen aus marginalisierten Gruppen hätten. Es will sich schließlich niemand allein über seinen Migrationshintergrund definieren. Genauso ist es, wenn man über Queerness oder Gender redet. Nicht alle wollen diese Informationen öffentlich teilen.“
Wie läuft so ein Casting mit einem Inclusion Rider ab?
„Für die meisten Rollen ist es meiner Meinung nach völlig irrelevant, welchen Background oder welches Aussehen der*die Schauspieler*in hat. Trotzdem werden überdurchschnittlich viele Rollen in deutschen Produktionen mit blonden, blauäugigen Darsteller*innen besetzt.
Manchmal wird aber auch bereits im Drehbuch festgelegt, dass ein Migrationshintergrund vorhanden ist. Eine Ausschreibung in diese Richtung zu machen, ist da völlig in Ordnung.
Hier stellt sich dann vielmehr das Problem, diese Menschen wirklich zu finden. Das kostet Zeit und damit auch Geld, weil immer noch viel zu wenig diverser Cast bei den Schauspielagenturen vertreten ist.“
Was denkst du, woran es liegt, dass es so schwer ist, Schauspieler*innen mit Migrationshintergrund zu finden?
„Den meisten von ihnen wurde über Jahrzehnte in der deutschen Filmbranche die Tür zugehalten. Eine befreundete asiatisch gelesene Schauspielerin hat das mal sehr gut auf den Punkt gebracht. Sie sagte, sie könne sich im Jahr zwischen zwei Rollen entscheiden, für die man sie casten wolle: Putzkraft und Prostituierte. Das war’s. Aber irgendwie muss man von dem Job auch leben können. Es reicht nicht, einen der begehrten Ausbildungsplätze an einer Schauspielschule zu ergattern, wenn dann keine Rollen folgen. Viele steuern daher die Stadttheater in ganz Deutschland an, um Fuß zu fassen, oder geben den Job ganz auf. Deutschland geht da sehr viel Talent verloren.“
„Den meisten wurde über Jahrzehnte in der deutschen Filmbranche die Tür zugehalten.“
Mia Spengler
Wie seid ihr beim Castingprozess für „Schattenleben“ vorgegangen?
„Die meisten Caster*innen arbeiten einfach mit ihren Listen – mit den 15 erfolgreichsten Schauspieler*innen der letzten drei Jahre. Was irgendwo auch verständlich ist. Die Frage ist immer, wieviel Zeit man in ein Projekt investiert. Ein Aufruf, wie wir ihn gemacht haben, kostet dich unendlich viel Zeit. Meine Casterin Lisa Stutzky nimmt diesen Mehraufwand aus politischer Überzeugung auf sich. Sie hat Aufrufe gestartet, hat bei Theatern angefragt und ist direkt in die Communities gegangen, um die Leute zu finden. Was es an dieser Stelle aber meiner Meinung nach braucht, ist strukturelle Unterstützung aus der Politik.“
Du hast bereits von der Producerin Sophia Ayissi und der Casterin Lisa Stutzky gesprochen. Das Drehbuch stammt von Lena Fakler und Zamarin Wahadat war die Kamerafrau im Team. War es für dich anders mit so vielen Frauen zu arbeiten?
„Mit Zamarin Wahadat habe ich quasi the Love of my Life gefunden. Ich hatte davor tatsächlich noch nie mit einer Kamerafrau zusammengearbeitet, außer im Studium. Der Unterschied dieser Arbeitserfahrung war deutlich spürbar. Wir waren wahnsinnig effektiv und hatten viel mehr Energie.“
Was glaubst du, woran das liegt?
„Bei fast all meinen bisherigen Projekten gab es immer irgendwelche komischen Ego-Grabenkämpfe, die geführt werden mussten, bis man loslegen konnte. Ich weiß nicht, ob man es unbedingt darauf zurückzuführen kann, dass wir beide Frauen mit Migrationshintergrund sind, aber wir haben natürlich ähnliche Erfahrungen in der Branche gemacht und konnten dadurch viel leichter kommunizieren, ohne immer alles erklären zu müssen.“
Dieser Tatort wird inhaltlich ebenfalls sehr stark von den weiblichen Figuren getragen. Kommissarin Julia Grosz sucht als verdeckte Ermittlerin ihre Freundin Ela und wird dabei Teil einer linksautonomen Frauen-WG. Denkst du, dass die Geschichte so nur von Frauen erzählt werden konnte?
„Ich würde mir sehr wünschen, dass es irgendwann keine Rolle mehr spielt, aber Ich weiß nicht, ob ich das noch erleben werde. Aktuell stammen queere Drehbücher noch viel zu oft aus den Federn heterosexueller, weißer Männer, obwohl sie eine ganz andere andere Erfahrungswelt haben. Die Filmbranche sollte sich also fragen: Welchen Blick zeigen wir bisher und welchen Blick vermissen wir? Und ist unser Team so aufgestellt, dass wir diese Erfahrungswelt guten Gewissens abbilden können?“
Die Rolle der WG-Bewohnerin und Aktivistin Nana wird sehr beeindruckend von der Schauspielerin Gina Haller gespielt. Anders als die anderen Figuren weiß sie genau, auf welcher Seite sie steht, eckt damit an. Mir kam es vor, als ob sie durch ihre offene Wut von den anderen zur „Angry Black Woman“ degradiert wird. War das eine bewusste Entscheidung?
„Die Rolle war im Drehbuch nicht als Schwarze Person beschrieben und Gina war einfach außer Frage die beste Schauspielerin für diese Rolle im Casting. Die Figur war als Frau mit großem Aggressionspotenzial angelegt.
„Die Filmbranche sollte sich also fragen: Welchen Blick zeigen wir bisher und welchen Blick vermissen wir?“
Mia Spengler
Tatsächlich wirkt es jetzt im fertigen Film so, als ob die Polizei auch genau diesen Trope auf die Figur projiziert. Als Zuschauer*in lernen wir Nana allerdings ganz anders und zart kennen. Uns war es wichtig, auch auf ihre Leichtigkeit, ihren Humor und ihre Verspieltheit einzugehen und ihre emotionalen Momente herauszuschälen.“
Mir gefällt, dass das Thema Queerness innerhalb der Story nicht an die große Glocke gehängt wird. Frauen sind mit anderen Frauen zusammen, so ist es einfach. Wurde bei der Wahl der Schauspielerinnen darauf geachtet, dass queere Charaktere von queeren Schauspielerinnen gespielt werden?
„Da wir es nicht zur Pflicht gemacht haben, dass man uns sagen muss, welche sexuelle Orientierung die Darsteller*innen haben, kann ich das nicht genau sagen. Das ist so eine Sache, bei der ich unsicher bin, wie man sie am besten zukünftig angeht.
Denn du hast schon recht, eigentlich wäre das natürlich konsequent, queere Rollen mit queeren Personen zu besetzen. Auch weil man damit Aktionen wie zum Beispiel Act Out oder Organisationen wie die queer Media Society unterstützt und sichtbar machen kann. Würde ich beim nächsten Mal wahrscheinlich anders machen. Ich habe mich langsam damit abgefunden, dass man nie alles richtig macht und das alles work in progress ist.“
Vor allem, wenn man etwas zum ersten Mal macht.
„Absolut. Vieles wird einem ja auch erst in dem Moment klar, in dem man es tut. Uns ist relativ schnell klar geworden, dass wir unser Vorhaben mit dem Inclusion Rider nicht exakt so hinkriegen werden, wie wir es uns vorgestellt haben; dass wir unsere selbst auferlegten Zahlen nicht halten können. 50 Prozent Frauenanteil haben wir geschafft. Aber die anderen 25 Prozent aus marginalisierten Gruppen haben wir nicht ganz geschafft. Und das, obwohl ich ein riesiges Netzwerk habe. Mir war anfangs nicht klar, dass wir relativ schwierige Positionen zu besetzen haben und dass Menschen mit weniger Erfahrung im Szenenbild, Kostüm oder in der Maske nicht bereit sind, sich besetzen zu lassen.
Wenn du von null auf hundert in eine sehr hohe Position am Set kommst, ist das nicht gerade von Vorteil. Denn in der Filmbranche hast du nur einen Shot. Du hast das Kostüm oder Szenenbild eines Tatorts verkackt? Das spricht sich sofort rum.
„In der Filmbranche hast du nur einen Shot.“
Mia Spengler
Uns haben viele Leute signalisiert, dass sie sehen, was für eine coole Chance wir ihnen bieten, aber dass sie es nicht machen, weil sie die nötigen Credits noch nicht haben. Das ist zu riskant. Für mich war das ein interessantes Learning. Denn das bedeutet, dass man sich generell mehr um den Nachwuchs in der Branche kümmern muss und dass dieser organisch wachsen muss, weil man sonst die Leute als Token verheizt. Diesbezüglich gibt es ein neues Programm von der Filmförderung Hamburg: GET ON SET. Dort kann man sich aktuell bewerben!“
Denkst du, dass die Erwartungshaltung der Zuschauer*innen jetzt besonders hoch ist, weil mit dem Inclusion Rider gearbeitet wurde?
„Ich kann mir schon vorstellen, dass die Erwartung super hoch ist. Aber ich finde, dieses kritische Gucken ist eigentlich etwas total Positives.
Grundsätzlich sind ja all die Systeme fehlerhaft. Ich freue mich auf das Feedback, das kommt. Und klar, ich werde 50 Sachen übersehen haben. Aber das ist auch okay. Ich ich habe keine Angst mehr davor, Fehler zu machen. Wenn ich mich der Angst hingebe, kann ich gar nichts mehr machen.“
Wie seid ihr damit umgegangen, dass ihr die 25 Prozent nicht einhalten konntet?
„Wir haben die Klausel im Vertrag schließlich so abgeändert, dass für jede Verfehlung von den eigentlich angestrebten 25 Prozent für Personen aus marginalisierten Gruppen ein Praktikumsplatz geschaffen werden muss. Zu Mindestlohn-Bedingungen. Denn die meisten Praktika werden mit einem Hungerlohn vergütet, was dazu führt, dass die Menschen, die sich ein Praktikum in der Filmbranche leisten können, häufig Kinder reicher Eltern sind.“
Was wünschst du dir für die Zukunft des Tatort?
„Ich wünsche mir, dass mehr Filme folgen, die mit veralteten Wertvorstellungen brechen. Es macht mich wütend, wenn man leichtfertig mit dieser Verantwortung der gigantischen Reichweite des Tatort umgeht und faul im Mittelmaß vor sich hin schwelgt. Ich denke, dass der Tatort aktuell noch ein Format ist, bei dem sich ein großer Teil unserer Bevölkerung ausgeschlossen fühlt, weil sie darin nicht vorkommen – und wenn dann nur in bestimmten Rollen, die bestehende Vorurteile bestätigen.
„Ich habe keine Angst mehr davor, Fehler zu machen.“
Mia Spengler
Es geht mir nicht darum, dass jetzt alle auf einen Schlag alles wissen und verstehen. Aber es wäre toll, wenn wir es schaffen, uns alle für den Status Quo verantwortlich zu fühlen und uns mit Themen außerhalb des eigenen Tellerrands befassen. Film ist ein tolles Medium, um komplizierte Dinge aufzuschlüsseln. Auch für Menschen, die vielleicht in ihrem Alltag erst mal das Gefühl haben, dass es nichts mit ihnen zu tun hat.“
Vielen Dank für das Interview und deine Arbeit!
Tatort: „Schattenleben“
12. Juni, 20.15 Uhr (anschließend in der ARD-Mediathek)
Als Julia Grosz‘ Freundin Ela, die als verdeckte Ermittlerin des LKA die linksautonome Szene Hamburgs infiltrierte, spurlos verschwindet, macht sich Grosz auf die Suche nach ihr. Sie begibt sich unter falscher Identität in das hedonistisch-freiheitliche Milieu, in dem sich ihre Freundin allem Anschein nach verloren hatte.
Falke unterstützt Grosz – und ermittelt zeitgleich im Fall eines Brandanschlages, der sich zunächst in eine Serie politisch motivierter Gewaltakte zu reihen scheint. Doch als auch für Grosz zunehmend die Grenzen verschwimmen und Falke auf fragwürdige Polizei-Interna stößt, geraten beide ins Straucheln. Erst, als beide Ermittler an einem Strang ziehen, können sie den Verantwortlichen für den Brandanschlag stellen, der auch in Elas Verschwinden verstrickt ist — und ihr sehr viel nähersteht als anfangs vermutet.
Foto: © NDR/O-Young Kwon