ausgesprochen frei nennt sich das Theaterkollektiv um die Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Kristina Nadj. In ihrem aktuellen Stück „Inside Sybille“ geht es genau darum: sich mit seinen Dämon*innen auszusprechen und von alten Glaubenssätzen zu befreien.
Vier Frauen sitzen gelangweilt auf der Bühne. Eine von ihnen versinkt seufzend in einem orangefarbenen Schwimmring, eine andere hat es sich auf einem aufblasbaren Sofa mit Zebramuster gemütlich gemacht, ihre zwei Kolleginnen thronen neben ihnen, ebenfalls auf Bademöbeln, und lassen den Blick durchs Publikum schweifen. Auf dem Boden liegt ein aufblasbares Mobiltelefon, das auch schon prallere Tage hinter sich hat. Die Luft ist raus. So hatte Sybille sich ihr Leben nicht vorgestellt. Irgendwie nicht so anstrengend und zermürbend.
„Statt der Bücher öffneten wir eine Flasche Wein, erzählten uns intime Anekdoten und stellten schnell fest, wie wahnsinnig schambehaftet unsere Gespräche sind, wenn es um die Benennung unserer Bedürfnisse oder Geschlechtsteile geht.“
Kristina Nadj
Sybille ist eine Frau, die einmal in ihrem Leben einfach nur Single sein und Sex haben will. Das klingt eigentlich ganz einfach, wenn da nicht all die Stimmen wären, die sie daran hindern ihre Freiheit auszuleben und ihr sagen, wie sie zu sein und was sie zu tun hat. Stimmen wie die Liebe, die Lust, Hippokrates, die Moral, Gott, Sex and the City, Tinder, Freud, Madonna, Simone de Beauvoir, ihr Job, ihre Zweifel, ihre Körperhaare, ihre Vulva, Pornos, ihre Scham, Heteronormativität, Disney, ihr Alter, der Feminismus, das Patriarchat. Sie alle erwachen zum Leben und treten mit ihr oder miteinander in einen Dialog. Sie kommentieren und diskutieren was das Zeug hält und verursachen vor allem eines: Chaos in Sybilles Kopf.
Lust: Keinen Orgasmus zu haben ist sündhaft!
Sybille: Ich habe schon einen Orgasmus gehabt, nur eben noch nie beim Sex.
Lust: SÜÜÜÜÜÜNDHAFT!
Liebe: Solang die Liebe Funken sprüht, reicht’s auch, wenn‘s Feuer nur schwach glüht.
Lust: Was? Das einzige, das hier sprühen sollte, ist Sybilles Ejakulat!
Moral: Gut, wir müssen hier jetzt auch nicht mit so Kraftworten um uns werfen.
Lust: Ejakulat ist kein Kraftwort, sondern das Ergebnis eines Kraftaktes und dieser Akt nennt sich ORGASMUS! Sybille, du änderst jetzt deine Sucheinstellung von ‘Ich weiß noch nicht’ zu ‘DTF – Down to fuck!’ Oder zu ‘ETPH – Eat this pussy hard’ oder zu ‘DYDTSTIF – Don’t you dare to stop till I finish’ oder zu ‘IAAM – It’s all about me’ oder …
Liebe: In der Lieb’ geht’s nicht um mich, in der Lieb’, da seh ich dich!
Lust: Ja! Von oben!
Sybille: Stimmt, von oben hab ich ihn ehrlich gesagt kaum gesehen.
Aber wer genau ist denn nun eigentlich Sybille? Schließlich stehen dort vier Frauen auf der Bühne, die alle dasselbe Outfit tragen (einen roten Overall, den ich auch gerne hätte). „Sind wir nicht alle ein bisschen Sybille?”, fragt mich Kristina Nadj, die Autorin und Regisseurin des Stücks. Auch sie steht mit auf der Bühne und flüstert Sybille ins Gewissen. „Sybille ist die einzig reale Figur im Stück, die eine Entwicklung durchmacht. Alle anderen Spielerinnen wechseln in jeder Szene ihre Rollen und Haltungen und repräsentieren damit die Stimmen, die Sybille im Laufe ihres Lebens beeinflusst haben. Es sind somit ihre eigenen, teilweise sehr ambivalenten Gedanken, denen sie begegnet und die durch eine bewusst überzogene Form erst dargestellt, zugeordnet und schließlich hinterfragt und im besten Fall in die Tonne gekloppt werden können.“
Kristina Nadj ist Teil des freischaffenden Theaterkollektivs ausgesprochen frei. Gemeinsam mit ihren Schauspielkolleginnen Hannah Ehlers, Roxana Safarabadi und Catalina Suchomel erarbeitet sie Stücke anhand von Themen, die sie im Alltag beschäftigen, wie Feminismus und Sexualität. „Wir setzen uns für Gleichstellung, Freiheit und einen offenen Austausch ein”, erklärt die Regisseurin, die in der Konzeption von „Inside Sybille“ eine Notwendigkeit sah.
„Popkultur spielt eine große Rolle in dem Stück, da sie auch in unserem Alltag meist wie ein nicht enden wollender Ohrwurm ständig im Hintergrund abläuft.“
Kristina Nadj
Die Idee entstand vor ein paar Jahren während der Erarbeitung einer Lesung zum Thema Sex. „Wir liehen uns ein paar Bücher aus und wollten schauen, wie sich der Umgang mit Sexualität von der Bibel bis heute literarisch entwickelt hat. Doch statt der Bücher öffneten wir eine Flasche Wein, erzählten uns intime Anekdoten und stellten schnell fest, wie wahnsinnig schambehaftet unsere Gespräche sind, allein schon, wenn es um die Benennung unserer Bedürfnisse oder gar Geschlechtsteile geht.“
Heidi: Man sagt ja, dass der weibliche Körper ab 26 schon anfangt zu welken – da biste ja jetzt auch schon lange drüber, ne?
Sybille: Ich hab jetzt nicht so das Gefühl, dass ich welke.
Heidi: Nee, solange man gut auf sich achtet, also sich ausgewogen ernährt:
Wenig Kohlenhydrate, keinen Zucker, viel Eiweiß, Vitamin C, D, B12, Eisen, Magnesium und Zink zu sich nimmt – jeden Tag 3 Liter Wasser trinkt, Sport treibt: 4 Mal die Woche Ausdauertraining, 3 Mal die Woche Krafttraining, 5 Mal die Woche Yoga, gerne auch abwechselnd mit Pilates, täglich…
10 Minuten Hulla-Hoop-Reifen, ne gute Pflegeroutine hat: morgens und abends Waschgel, Gesichtswasser, Antifalten Tagescreme, Antifalten Nachtcreme, Hyaluron-Augencreme, 3 Mal die Woche Antipickel Peeling, 2 mal die Woche Ganzkörperpeeling, 3 mal die Woche Feuchtigkeitsmaske, 1 Mal die Woche Ganzkörper- Heilerdekur, morgens 5 Minuten die Hollywoodstripes unter die Augen, täglich die ‘Guten Morgen – Gute Nacht’-Meditation macht und die ‘DU BIST SCHÖN SO WIE DU BIST’-Mantras aufsagt – passiert das einem auch nicht so schnell.
Mich erinnern die oft sehr komischen und manchmal auch unangenehm vertrauten Situationen, die die vier in ihrer Plastiklandschaft zum Besten geben, an die Graphic Novels der schwedischen Künstlerin Liv Strömquist. Eine Referenz, die durchaus gewollt ist. Liv Strömquist war eine große Inspiration für Nadj: „Als ich ihre Bücher las, war ich schockiert darüber, wie wenig ich als Frau sowohl über meinen eigenen Körper, als auch über die Ursprünge all der Scham, der Ängste und der Unfähigkeit, offen meine (sexuellen) Bedürfnisse zu kommunizieren, weiß.“
Das Ziel ihres Stücks ist es, die vielen und wichtigen Informationen humorvoll und ohne erhobenen Zeigefinger in 80 Minuten Bühnenzeit zu packen. Inspiriert wurde sie neben Strömquist von Autorinnen wie Margarete Stokowski, Simone de Beauvoir oder Carolin Wiedemann.
„Popkultur spielt eine große Rolle in dem Stück, da sie auch in unserem Alltag meist wie ein nicht enden wollender Ohrwurm ständig im Hintergrund abläuft. Zum Beispiel in Form von sexistischen Sitcoms oder Songtexten, in denen es kaum etwas zwischen ‘Like a virgin’ und ‘Naughty girl’ gibt, oder TV-Shows, in denen es ‘leider kein Foto für dich’ gibt, wenn du nicht irgendwelchen (jedes Jahr neu festgelegten) Schönheitsidealen entsprichst.“ Das Bewusstmachen dieser Einflüsse ist für sie und ihr Kollektiv der erste Schritt zu einer nachhaltigen Veränderung, sei es im Umgang mit dem eigenen Körperbild, Beziehungsformen oder mit Sexualität.
Wenn die vier nicht gerade gemeinsam auf der Bühne stehen, arbeiten sie freischaffend als Einzelkünstler*innen an unterschiedlichen Projekten: Kristina Nadj recherchiert gerade für ihr neues Stück „Viktor Kovačević“, in dem sie ihrer eigenen Herkunftsgeschichte nachgeht und die Aus- und Nachwirkungen des Krieges in Ex-Jugoslawien untersucht. Hannah Ehlers schreibt und komponiert das intersektional-feministische Musical „Nasty Women“, das mutigen und widerständigen Frauen, die hier und heute viel zu wenig bekannt sind, eine Bühne geben will. Roxana Safarabadi arbeitet an der Recherche zu einem Stück über Protest sowie an einer Installation zur Frage nach Heimat, dem Gefühl von Heimatlosigkeit, dem Wunsch nach Akzeptanz und des Ankommens.
„Inside Sybille“ wird das nächste Mal am 14. Juni um 19.30 Uhr im Kabarett Theater Distel in Berlin gespielt! Außerdem planen sie in der nächsten Spielzeit neue Termine in Hamburg und Gastspiele in ganz Deutschland.
Mehr Informationen findet ihr hier: @ausgesprochen_frei