Foto: Riccardo Fissore | Unsplash

Wo sind meine Sisters in Crime in Sachen Salonkultur?

Warum beschäftigen sich junge Frauen mit so seichten Themen? Interessieren sie sich nur für Mode, Make-up und Mandeltörtchen? Ein Aufruf zu einer neuen Salon-Kultur und der Eroberung von Kunst, Literatur und Philosophie.

 

Künstlerinnen, wo seid ihr?

Wer hat den „Club der toten Dichter“ gesehen, jenen wunderbaren Film, der mein Teenagerherz mit voller Wucht traf? Der unkonventionelle Lehrer Mr. Keating ermutigt die Schüler eines erzkonservativen Internats dazu, eigenständig zu denken. Manch einer mag den Film mit Robin Williams als gefühlsduselig bezeichnen, vielleicht nicht zu unrecht, aber das kümmert mich nicht. Wer sagt schon auf seinem Sterbebett: „Aber eins hätte ich gerne weniger getan: gefühlt.“?
Natürlich ist der Titel dieses Blogposts angelehnt an diesen Film und deshalb nicht ganz wörtlich zu nehmen: Ich suche nicht nur nach Lyrikerinnen. Ich suche Frauen, die erschaffen und denken wollen. Denn nach dem Club der lebenden Dichterinnen, nach ihm sehne ich mich.

Dreht sich bei vielen Frauen wirklich alles nur um Makeup, Mode und Mandeltörtchen?

Ich fühle mich einsam. Unter den jungen Frauen und Bloggerinnen dieser Welt fühle ich mich einsam. Mehr als ein Jahr lang war ich mit meinem Blog hello mrs eve auf der Reise, mit den anderen Lifestyle-Bloggern der Nation. Das war wie eine Pyjama-Party in einem Zug mit Schlafwagen: Immer jemand da, mit dem man sich austauschen kann, die neuesten Trends, die letzte Kooperation, der nächste Messe-Besuch. Wie eine große Familie, man fühlt sich aufgehoben, wohlig, warm. Wir schipperten auf einer Welle durch das Bloggermeer. Ein Meer für Frauen, wohlbemerkt. Eines, in dem sich fast alles um Mode, Wohnen, DIY und Make-Up dreht. Dinge, die man kaufen kann.

Seit ich mich auf meinen Blogs mehr dem Schreiben widme, meinem Schaffen, habe ich das Gefühl, meinen Waggon entkoppelt zu haben und nun auf irgendeinem Abstellgleis im Nirgendwo herumzudümpeln. Nicht, weil mir meine LeserInnen abtrünnig wurden, gottlob war das nicht der Fall. Ich schätze den Dialog und die Freundschaften, die über meinen Blog entstanden sind. Aber eine aktive Community? Die, wie in der Lifestyle-Szene üblich, sich trifft, um über neue Bücher, eine neue These, eine Kunst-Ausstellung zu sprechen? Die sie womöglich gar selbst geschrieben, erdacht oder veranstaltet haben? Fehlanzeige.
Frauen, vor allem junge Frauen, die sich öffentlich bloggend äußern, beschäftigen sich zu 98% mit den Themen, die ihnen zugedacht sind. Können Frauen nur über Seichtes bloggen? Und wenn ja, bildet sich hier die Gesellschaft ab? Sind DAS die Themen, in denen Frauen sich bewegen müssen, wenn sie in ihre weibliche Peer-Group eingebettet sein wollen? Ja, natürlich gibt es Ausnahmen, aber es sind eben nicht die Frauen links und rechts neben mir.

Woher kommt diese einseitige Themenwahl?

Der Mensch sehnt sich nach Anerkennung, nach Verstandenwerden, nach dem Augenblick des Erkennens im anderen. Wir möchten in Augen schauen, die widerspiegeln, dass sie verstehen, was wir fühlen, sagen, denken. Aber in welche Augen kann ich schauen, wenn ich über das spreche, was mich wirklich interessiert? Oft sind es männliche. Wenn es weibliche sind, dann meist solche, die schon von Falten umsäumt sind. Junge Frauen fahren auf einer anderen Route, so scheint es. Und immer mehr rückt ein Gegenstand ins Zentrum meiner Überlegungen: Welche Themen interessieren junge Frauen? Als was denken sie sich selbst? Sind ihre Interessen limitiert oder setzen sie sich selbst diese Schranke?

Allein bin ich mit meinen Fragen nicht. Dieser Artikel aus dem Archiv des Frauenmagazins Mathilde über die Frage, wo die großen Künstlerinnen sind, zeigte den Unterschied des Selbstverständnisses schon in der Wahl der Formate:

„Große Formate standen (und stehen?) Frauen nicht zu und es ist sehr gut vorstellbar, dass viele Künstlerinnen sich unbewusst selbst eine Grenze gesetzt haben.“

Ich glaube, dass wir uns noch viel mehr solcher Grenzen setzen. Noch immer, auch im Jahr 2016. Wir lassen es zu, weil wir es so gewohnt sind. Und diese Selbstbeschränkung kommt natürlich nicht aus dem Nichts, sie ist historisch gewachsen. Die Kunsthistorikerin Linda Nochlin wurde von der FAZ, zu der Frage, ‘Warum gibt es keine bedeutenden Künstlerinnen?‘, mit ihrer eigenen Antwort konfrontiert:

FAZ: Eine sehr lustige Antwort, die Sie 1971 gaben, lautete: Es gibt keine bedeutenden Künstlerinnen – so wenig wie es Eskimotennisspieler oder litauische Jazzpianisten gibt. Was lehrt uns das Fehlen von Eskimotennisspielern über Frauen in der Kunst?

Linde Nochlin: Dass es keine Förderung für Frauen in der Kunst gab, niemand ermutigte sie. Es gab keine Vorläuferinnen, keine Vorbilder und keine Belohnung. Sie durften lange nicht einmal Aktzeichnen lernen, obwohl das grundlegend war. Sie waren vom System ausgeschlossen.“

Besprochen werden nur die Werke von Männern 

Rein THEORETISCH sind Frauen mittlerweile nicht mehr vom System ausgeschlossen. Aber in ihren Köpfen sind, so kommt es mir manchmal vor, noch die verkrusteten Denkmuster vergangener Generationen abgespeichert. Wie eine Software, die sich nur sehr langsam aktualisiert. Ich war, gelinde gesagt, entsetzt, als ich feststellte, dass alle zehn Autoren, die in der Vorlesung über G-E-G-E-N-W-A-R-T-S-Literatur, die mich an der Uni Frankfurt erwarten wird, besprochen werden, Männer sind.

Aber spiegelt das nicht einfach den Status Quo der Gesellschaft wieder? Gehen wir auf die Straße und fragen die Leute nach bekannten Dichterinnen, Malerinnen, Philosophinnen: Da herrscht das Schweigen im Walde. Goethe, VanGogh und Kant kennen sie aber alle. Wie kommt es, dass es nur so wenige intellektuelle Leuchtfeuer mit zwei X-Chromosomen gegeben zu haben scheint?

Wikipedia sagt:

“Künstlerin“ ist im alltäglichen Sprachgebrauch, unterstützt durch Forderungen der feministischen Linguistik, eine selbstverständliche Berufsbezeichnung und wird in staatlich bestimmten Zusammenhängen gleichgestellt zu „Künstler“ verwendet (…) Damit soll der Anteil der Leistungen von Frauen in der Kunst sichtbarer, ihre verdrängte Geschichte in der Kunst bewusster, und die beruflich teils andere Situation von Künstlerinnen leichter darstellbar werden.

Verdrängte Geschichte, das trifft es nämlich ins Herz, meine Damen! Wie ich schon in meinem Artikel über mein zweites Studium auf hello mrs eve geschrieben habe, beziehen sich Lehre und Forschung zum Großteil auf die Werke von Männern. Als ob es keine Frauen gegeben hätte, die gemalt, philosophiert, geschrieben oder gedichtet hätten. Also wie sollen junge Akademikerinnen sich selbst dann in diese Welt hineindenken, die fast nur aus Männern zu bestehen scheint, gerade dann, wenn es um bedeutende Arbeiten geht?

Ich glaube, dass es in der Gegenwart drei wesentliche Punkte gibt, die dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht fortzuschreiben:

  • Die Ignoranz der Männer in einer patriarchalisch geprägten Welt
  • Das Selbstverständnis der Frauen! Sie denken in den Bahnen, die ihnen zugedacht werden, seit vielen Generationen. Und wenn sich an diesem Denken nichts ändert, werden auch in Zukunft die Kunstwerke, Bücher und Denkansätze, die in der Welt sichtbar werden, von Männern geschaffen sein.

Die Konsumgesellschaft. Lange Texte lesen? Unbequem. Zur Erheiterung unserer Seele kaufen wir Lippenstift, statt Trost in einem Buch oder Bild zu suchen. Wir werden zu passiven Konsum-Marionetten, die nur noch die von der Werbeindustrie erzeugten Bedürfnisse nach Schönheit, makellosem Innen und Außen und gesellschaftlichem Status zu befriedigen versuchen. 

Schaffende Frauen gab es schon immer 

Dabei geht es auch anders. Und ging es bereits vor vielen Jahren! Gestern habe ich den wunderbaren Film über Lou Andreas-Salome im Kino gesehen und er bekommt von mir das Prädikat, unbedingt sehenswert. Ich finde ihn hinreißend, inspirierend, wahnsinnig kraftvoll!

Im Film sagt Lou über sich: „Es geht mir um die Entwicklung meines Charakters und meines Geistes.“ Boing. Der Satz trifft mich wie ein elektrischer Stromschlag. Entschuldigt, aber wieviele Frauen haben das für sich so selbst gefordert? Wieviele tun es noch? Man führe sich die Bildung dieser Frau zu Gemüte:

„Umfang und Intensität dieser Studien sind aus ihren Notizbüchern ablesbar. Es gehörten dazu: Vergleichende Religionsgeschichte; Grundvorstellungen der Religionsphänomenologie. Dogmatismus, messianische Vorstellungen im Alten Testament und der Glaubenssatz von der Dreifaltigkeit; Philosophie, Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie; das französische Theater vor Corneille, die klassische französische Literatur, Descartes und Pascal; Schiller, Kant und Kierkegaard, Rousseau, Voltaire, Leibniz, Fichte und Schopenhauer. “ Quelle: Wikipedia

Hallihallo, würde ich mal sagen. Das ist doch etwas anderes, als die Brigitte.

Gibt es frauenspezifische Interessens-Gebiete?

Ich merke immer wieder, wie viel schwieriger es ist, mit Frauen über einen kritischen Artikel in Interaktion zu kommen, als über ein Bild mit rosa Donuts und Lippenstift. Heißt das, dass Frauen sich einfach nicht für andere Dinge interessieren?

Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass sie einfach dazu konditioniert wurden, von Eltern, Kindergärtnern, Freundinnen, Omas, Tanten, Onkeln, Vätern, Geschwistern. Deshalb erscheinen mir auch Versuche wie dieser hier, recht lächerlich: Physik-Unterricht, nach Geschlechtern getrennt unterrichtet, um den Mädchen mehr Spaß an der Materie zu vermitteln. Wie hilflos! Da sollen fünfzehnjährige Mädchen, die doch schon seit ihrer Geburt darauf vorbereitet wurden, sich in die Rolle einzupassen, die die Gesellschaft für sie seit Jahrhunderten vorsieht, durch zwei Schulstunden die Woche plötzlich umdenken. Während sich vor und nach der Stunde alles wieder um den gewohnten Mädchen-Themen-Brei dreht. Lächerlich. Und ärgerlich, dass daraus Schlüsse gezogen werden, es gebe eben doch geschlechtstypische Interessensgebiete. Man kann Kinder aber nun einmal nicht geschlechtsneutral erziehen, auch in unserer aktuellen Gesellschaft nicht, dafür müsste man sie jeglichen menschlichen Einflüssen entziehen und das wäre dann wahrhaft unmenschlich.

Was uns aber bleibt, ist die Wahl, ob wir Frauen die Themengebiete und Einflussmöglichkeiten akzeptieren, die uns angeboten werden.

Es braucht viel mehr Vorbilder 

Heißt das jetzt, dass sich nun alle Frauen mit Wissenschaft und Kunst beschäftigen sollen? Ist Nagellack böse? Nein, keineswegs. Genauso, wie nicht alle Männer Goethe sind, sind nicht alle Frauen zur Künstlerin geboren. Aber ich glaube, dass es genug Frauen gibt, die sich gern mit diesen Themen beschäftigen würden, es aber nicht tun, weil in ihrem Umfeld die Anknüpfungspunkte fehlen. Die vielleicht als junge Mädchen spüren, dass sie anders sind, aber keine Gesprächspartnerinnen finden. Die sich mit den Fragen, die ihnen im Kopf herumgehen, exotisch fühlen. Ihnen fehlen Vorbilder, ihnen fehlt der Austausch und zwar im ganz konkreten Umfeld.

Was, wenn mir die Klatschzeitschriften dieser Welt eben nicht genug Futter fürs Hirn enthalten, sondern ich über das Philosophie Magazin diskutieren möchte? Da lichtet sich der Kreis der Gesprächspartnerinnen plötzlich auf erschreckende Weise. Die Fragen, die wir uns alle einmal stellen sollten, sind: Welchen Raum nehmen wir uns? Wie sehr verteidigen wir unsere Ambitionen? Was, denken wir, ist für uns möglich?

Rebecca,die das Kokon-Magazin betreibt, und ich denken gerade auf der Idee herum, eine Bewegung ins Leben zu rufen. Eine Art Salon-Kultur. Nicht das fünfzigste online-Magazin, in dem wir von dem aufregenden Leben anderer Frauen erzählen, Frauen, die uns so fern sind wie die Milchstrasse und die immer noch Ausnahmeerscheinungen sind. Sondern ein Verbund, ein Rahmen, in dem Frauen gemeinsam Ausstellungen besuchen, Reisen unternehmen, auf denen sie gemeinsam malen, schreiben, philosophieren. Regionale Gruppen, in denen vor allem junge Frauen, die sich nicht zufrieden geben wollen mit dem, was der Markt für sie vorsieht, Anschluss finden.

Ein Netzwerk für Künstlerinnen 

Ich werde mir mit diesem Artikel nicht nur Freundinnen machen, das ist mir klar. Es geht auch nicht darum, Lifestyle-Blogger zu verurteilen. Sondern denjenigen unter ihnen, die sich nach etwas anderem sehnen, eine Alternative an die Hand zu geben und den Einstieg zu erleichtern. Ziel ist nicht, alle Frauen zu Künstlerinnen zu machen, sondern denen, die es werden möchten, ein Netzwerk zu bieten. Und sie sichtbarer zu machen.

Denn es gibt sie, davon bin ich überzeugt. Und ich glaube, dass wir, auch als Gesellschaft, nicht auf sie verzichten können.

Links zu Künstlerinnen, Literatinnen und Philosophinnen sind in den Kommentaren gerne gesehen. Frauen, die sich am Salon-Kultur-Projekt beteiligen wollen, auch!

Dieser Beitrag erschien bereits auf thirtyplus. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.

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