Foto: Xavier Sotomayor

Warum ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe

Unsere Community-Autorin Paula hat den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Darüber hat sie bei uns bereits geschrieben. Nun erklärt sie, warum.

 

Meine Geschichte

Ich habe vorletztes Jahr einen Beitrag über den Kontaktabbruch zu den eigenen Eltern geschrieben. Auf diesen gab es – und gibt es auch heute noch – so viele Rückmeldungen, dass ich mich entschlossen habe, erneut darüber zu schreiben.

Ob das nicht doof sei, so ganz ohne Familie, fragten einige: Nein, ganz und gar nicht. Sie kennen meine Familie nicht, sonst hätten sie sich die Frage erspart. Mein Vater ist (?) schwerer Alkoholiker, meine Mutter eine „Ewigunzufriedene”, der nichts nur annähernd gut genug ist. Ich habe eine Entscheidung getroffen mit dem Kontaktabbruch zu Beiden. Eine Entscheidung für mein Leben, für ein glückliches Leben. Ohne das Drama der Vergangenheit. Ohne mich in der Opferhaltung zu suhlen. Ich habe überstanden, was mir zugefügt wurde, ich habe verziehen. Heute bin ich glücklicher als ich es jemals war. Und habe nie Schuldgefühle. Weil ich mich selber achte und respektiere. Und niemanden in meiner Nähe dulde, der das nicht tut. Dieser zweite Artikel soll anderen helfen für sich einen Weg zu finden, soll Mut machen und mit dem Vorurteil aufräumen, dass es da draußen Kinder gibt, die eines Morgens aufwachen und aus dem Nichts beschließen den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen.

Ich bin nicht alleine

Ich habe seit letztem Jahr viele Zusendungen erhalten. „Wir” sind leider viele. Die meisten fragten, ob ich einen Rat habe, ihnen irgendwie den Schritt erleichtern könnte und wie meine Erfahrungen waren. Viele, auch heute wieder, waren erleichtert zu lesen, dass sie nicht alleine sind mit diesem „Problem”, über das man so selten spricht. Ich werde heute versuchen zu erklären, was es mir so „einfach” gemacht hat, diesen endgültigen Schritt zu gehen.

Angeregt wurde dieser Artikel unter anderem von einem anderen Artikel über eine Mutter, die sich einfach nicht erklären kann, wie ihr Kind einfach so mal den Kontakt abgebrochen hatte. Einfach so von heute auf morgen … schon alleine, wenn ich das lese, könnte ich vor Wut durch die Decke gehen. Die Dame hat nun sogar einen Verein gegründet und ein Buch darüber geschrieben (es grüsst herzlich: Die Opferhaltung). „Einfach so” passiert das nie. Man probiert jahrelang gesehen zu werden, ernstgenommen zu werden, verstanden zu werden. Faule Kompromisse werden geschlossen, nur um es den Eltern „recht zu machen”. Einigen ist aber nichts rechtens genug. Statt sich mit anderen Eltern zusammen zu tun, denen es genau so ging, sollten sie lieber alle gemeinsam in eine Gruppentherapie – „Richtig reflektieren und Wahrnehmungstraining” oder „Meine Fehler in der Erziehung und ihre Konsequenzen”

Keine Geduld, keine Kraft und keine Nerven mehr!

Für mich war es ausschlaggebend, dass ich einfach keine Geduld und keine Kraft mehr hatte, mich mit meiner Mutter im Kreise zu drehen. Zu meinem Vater kappte der Kontakt schon als ich 17 oder 18 Jahre alt war, da er sich für den Alkohol entschied und ich das respektierte. Aber ich konnte mir das nicht mehr länger mit ansehen und mich runter ziehen lassen. 

Aber zurück zu meiner Mutter. Wir gingen zwei Schritte vor … und 20 zurück, so ging das nach meinem Auszug ungefähr 13 Jahre lang. Bis ich mich vor drei Jahren endgültig verabschiedete. Selbst meine Therapeutin riet mir dazu. Denn es zog mich jedes mal mehr und mehr runter. Und ich war es leid, mich nach jedem Besuch bei ihr tagelang zu Hause einzusperren oder angeschlagen durchs Leben zu laufen. Wozu?

Irgendwann sah ich keinen Grund mehr, den Kontakt aufrecht zu erhalten

Warum auch? Es gab keinen logischen Grund. Nur weil sie meine Mutter war? Nun ja, jemand der sein Kind körperlich und seelisch misshandelt – für mich war das keine „Mutter” im klassischen Sinne. Für mich war sie eine Art Monster, deren Stimmungsschwankungen so unberechenbar waren, wie das Wetter im April. Ich hatte noch jahrelang Alpträume von den „Szenen”, die sie mir machte, wie sie mir ein Radio hinterher warf, im Affekt, weil ich zwei Minuten zu spät war. Oder mich anschrie vor all meinen Freunden, mitten in der Stadt. Ich glaube, die Krönung war, als sie dachte, ich würde ihr denn Mann ausspannen wollen, weil wir uns gut verstanden. Weil wir eine Gemeinsamkeit hatten – das Schreiben. Hätte sie ihre Tochter gekannt, würde sie wissen, dass ihre Tochter nicht auf ältere Männer abfährt, so ganz und gar nicht. Außerdem war dieser Mann mir mehr Vater, als mein leiblicher Vater. 

Die Geschichten ließen sich hier zu einem Buch, dicker als die „Herr der Ringe”- Triologie fortführen. Mit 17 zog ich dann endlich aus. Nach zwei Jahren erfolglosen Vermittlungsversuchen vom Jugendamt mit einer Sozialpädagogin, die jede Woche zu uns nach Hause kam, nach unzähligen Besuchen der Polizei bei uns zu Hause, denn die musste nach den Ausbrüchen meiner Mutter öfter antanzen als ihr lieb war. Ich lief auch ein paar mal von zu Hause weg, wenn es wieder ganz schlimm wurde. 

Ich probierte es weiter mit ihr. Trotz allem. Immer und immer und immer und immer wieder. Nur gebracht hat es nichts. Es war Zeitverschwendung. Ich hätte mir den Kopf lieber gegen die Wand schlagen sollen … hätte genau so viel Sinn gemacht. Nämlich keinen. Null. Nada.

Knapp zwei Wochen wie gelähmt im Bett

Seinen endgültigen Höhepunkt erreicht das Leiden der ganzen Jahre in den Sommerferien, als ich sie an ihrem Geburtstag besuchte, und nur zwei Tage später abreiste um dann eineinhalb Wochen in meinem abgedunkelten Zimmer im Bett zu liegen. Sie machte mich fertig wegen zwei Eiern, die in einen Teig rein sollten. Sie las vor, ich führte aus, wir wollten mal backen. Wie normale Leute. Ich fragte noch: „Sollen die Eier getrennt werden oder kommen die ganz rein?” „Ganz rein!” Gesagt getan … nur um mir dann ein paar Sekunden später anzuhören: „Die sollten doch getrennt werden, nie kannst du was richtig machen!” 

Ich versuchte die Situation zu entschärfen, es sei doch nur ein Teig, wir machen einen neuen, alles easy. Aber es ging nicht, sie kam voll in Fahrt, Vorwürfe und Mist der letzten Jahrzehnte flogen mir förmlich nur so um die Ohren. Geschichten, die ich längst vergessen hatte, wurden ausgepackt, ich sei ja immer schon zu nichts zu gebrauchen gewesen und überhaupt. Wie ein kochender Dampfkochtopf, der kurz vor dem Explodieren steht, stand sie vor mir und schrie mich an. Ich schrie irgendwann zurück, packte meine Sachen ungläubig, dass sie wegen zwei Eiern so eskalierte und ging. Das war so typisch. Sie flippte aus … ich versuchte sie zu beruhigen – was nie gelang – dann flippte ich irgendwann aus und fuhr wieder heim. So ging das Jahr ein, Jahr aus. Knapp 13 Jahre lang. Bis vor drei Jahren.

Ich war halt einfach ein schlimmes Kind – so entschuldigt man den Missbrauch

Danach besuchte ich sie nur noch einmal, schlief aber in einem Hotel, was sie sehr erschütterte. Ich meine wirklich? Nach all den Jahren wunderte sie sich wirklich? Hallo, „Opferhaltung!” Klar war mir der Titel „Schlechteste Tochter des Jahres” einmal mehr sicher. Dass es Gründe wie diesen und andere gab, wollte sie nicht sehen. Sie kam das letze Mal auch einfach so ins Bad geplatzt, als ich dort länger verweilte, beim abschminken. „Was machst du da so lange?”, fauchte sie mich an. Ich stand vor dem Spiegel und schminkte mich ab, dabei hörte ich Musik aus meinem iPhone, wie so oft … Wie dumm ich drein geschaut habe, konnte ich im Spiegel sehen. „Ich feiere hier eine wilde Drogenorgie Mutter, mit vielen Männern. Willst du nicht mitmachen?”, fragte ich sie schnippisch und verließ das Badezimmer. Ich sprach kein Wort mit ihr an diesem Abend. Was sollte das denn bitte? Dafür schwieg sie mich am nächsten Tag an, ich fuhr wieder ab.

Ab und an versuchte ich mit ihr die Vergangenheit zu bewältigen. Das, was ich dabei immer hörte: „Du warst ein schlimmes Kind, warte ab bis du mal Kinder hast, ich wünsche dir, dass deine Kinder werden wie du!” Klar, wie immer sind die anderen Schuld, vor allem ich. War ich doch auch das einzige Kind weltweit, dass sich selber auf die Welt gebracht hat. Meine Eltern wurden nämlich nie müde mir zu sagen, dass es ihnen ohne mich besser ergangen wäre im Leben. Ich hatte eh immer Schuld an allem. Und ich war ein schlimmes Kind. Noch Fragen?

„Sie müssen sich selber die Mutter sein, die sie nie hatten. Sie müssen sich selber trösten, sich lieben, auf sich achten und respektieren!”

Das sagte meine Therapeutin damals zu mir – und es half. Denn ich musste einfach einsehen: Wenn ich meinen Seelenfrieden wollte, musste ich den Kontakt kappen. Und ihr verzeihen. Nicht um ihretwillen. Sondern für meinen Seelenfrieden. Ich wollte ihr absolut keine Macht mehr über mich geben. Ich wollte nur noch abschliessen und ein glückliches Leben haben.

Und überhaupt: Nichts wird gut genug sein, nichts wird so sein wie ich es als Tochter gerne hätte, ich jagte einer Illusion hinterher. Auch, weil es die Gesellschaft von mir forderte. Und auch, weil ich meinen Freunden und Bekannten nie, wirklich nie erzählte, was man zu Hause mit mir machte oder gemacht hat. „Es geht niemanden etwas an, was in unserer Familie passiert!” brannte sich tief ein in meine Seele. Ich brauchte ganz lange um mich davon zu lösen. Doch teilweise schäme ich mich heute immer noch für das was ich durchleben musste. Völlig zu unrecht.

Und ich stellte fest mit dem ersten Beitrag

Ich bin nicht alleine. Da draußen gibt es ganz viele erwachsene Männer und Frauen, denen es genauso geht. Die auch die Hölle auf Erden durchlebt haben, an einem Ort der einem Sicherheit, Liebe und Geborgenheit geben sollte. Erwachsene die nicht den Mut finden ihren Eltern ihre Grenzen aufzuzeigen. Die sich nicht trauen, der Gesellschaft und ihren Ansprüchen einen dicken Mittelfinger zu zeigen. Die Schuldgefühle haben, die sich verantwortlich fühlen für das Glück ihrer Eltern.

Ich habe eine klare Botschaft für euch: Fangt an, euch als vollwertige Menschen zu sehen. Ihr seid liebenswert, besonders und vor allem: ihr seid stark! Ihr seid nicht verantwortlich für das Glück eurer Eltern. Ihr schuldet euch selber aber Respekt, Liebe und euren Seelenfrieden. Ihr schuldet niemanden eine Erklärung für eure Entscheidung. Lasst euch professionell begleiten, wenn ihr es nicht alleine schafft, es ist keine Schande sich Hilfe zu holen. Es ist euer Leben. Ihr seid dafür verantwortlich. Und manchmal muss man sich schützen, um nicht daran zu Grunde zu gehen. Fangt an euch selber zu lieben und setzt euch niemanden aus, der euch fertig macht, euch nicht respektiert oder euch gequält hat. Man rät ja auch niemanden sich seinem Peiniger zu stellen, und ihn gern zu haben, nach dem man ihm entkommen ist, oder?

An die Gesellschaft

Hört auf die ach so armen Eltern solcher Kinder zu bemitleiden und die Kinder zu verurteilen. Die Eltern wollen nicht zugeben, was sie falsch gemacht haben. Oder sehen nicht, wo das Problem lag. Und da lag sicher ein Problem vor, niemand der eine liebevolle, „normale” Kindheit hatte, verhält sich so. Nach knapp über 15 Jahren mit Kindern und Erwachsenen, im Beruf und auch privat, habe ich noch kein Elternteil erlebt, das zugegeben hat das Kind misshandelt zu haben. Sei es emotional oder körperlich. Aber sich dann als das Opfer hinstellen, weil das Kind „einfach so von heute auf morgen” den Kontakt verweigert. Ehrlich? Jeder der sich ein wenig mit Kindern und Bezugspersonen auseinander setzt,weiß: Kinder würden alles tun, um von ihren Eltern geliebt zu werden. Kinder akzeptieren auch vieles von ihren Eltern, um geliebt zu werden … Für die Kinder sind die Eltern das Ein und Alles, egal, was die Eltern anstellen. Sich dann von diesen zu trennen, aus welchen Gründen auch immer, erfordert extrem viel Mut, Zeit und Kraft. Niemand „kündigt” einfach mal so über Nacht seinen Eltern aus einer Laune heraus. Den Eltern, die das behaupten würde ich dringend zu einer Therapie raten, damit sie lernen sich und ihr Verhalten zu reflektieren.

Paula im Garten ihrer Mutter (Quelle: privat)

Das ist das letzte Bild, das meine Mutter von mir aufgenommen hat. Ich hatte ihr einen Schneemann im Garten gebaut um sie aufzumuntern. Das Bild trügt, auch wenn ich lache, denn sie machte auf meinen Wunsch hin zwar das Bild, schnauzte mich aber im selben Augenblick wegen des Topfes an, den ich ohne ihre Erlaubnis für den Schneemann aus dem Schrank nahm. Danach, packte ich meine Sachen erneut und fuhr zurück in die Schweiz. Zur Info: Meine Mama wohnt vier Stunden Zugfahrt von mir weg …

Dieser Text ist bereits auf Paulas Blog erschienen. Wir freuen uns sehr, dass sie ihn auch hier veröffentlicht. 

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